1. „Bevölkerungsimplosion“? Zur Entwicklung des Humankapitals
Noch nie in der menschlichen Geschichte sind Menschen im Durchschnitt bei so guter Gesundheit so alt geworden, wie dies heute in den wohlhabenden Ländern möglich ist. Aber gerade die wohlhabenden Staaten haben mit einem neuen Problem zu tun: mit der so genannten ‚Unterjüngung‘ der Gesellschaften und einem deutlichen Schrumpfen der Bevölkerung. Dies hat Konsequenzen für die Wirtschaft und entsprechende Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme, das Bildungssystem und auch auf die Kirchen.
Deutschland gehört zu den OECD-Ländern mit der niedrigsten Fertilitätsrate (ca. 1,4 Kinder mit leichten Schwankungen), auch wenn es in jüngster Zeit von Spanien und Italien ‚überholt‘ worden ist. Die durchweg kinderreicheren Familien der Zuwanderer sind dabei bereits eingerechnet. Hauptgrund ist die hohe Zahl kinderlos bleibender Frauen der Jahrgänge ab 1965 (ca. einem Drittel). Dies hat bestimmte gesellschaftliche Hintergründe, wobei auch die Rolle der potentiellen und tatsächlichen Väter nicht ausgeblendet werden darf. Franz-Xaver Kaufmann spricht von einer ‚Bevölkerungsimplosion‘: wenn sich eine Frauengeneration nur noch zu zwei Drittel reproduziert, so bedeutet dies rechnerisch, dass auf 1000 Frauen nur noch 667 Töchter, 444 Enkelinnen und 276 Urenkelinnen kommen. Ohne Zuwanderung würde die Bevölkerungszahl Deutschlands bis 2050 auf 50,7 Millionen zurückgehen, so Herwig Birg.[1].[2] Allerdings, unsere Wahrnehmung hält nicht Schritt mit solchen Zahlen: sie ist noch stark geprägt durch die Generation der Baby-Boomer, die aber seit 2010 allmählich aus dem Erwerbsleben ausscheiden.Im Kontext des Bevölkerungsrückgans gibt Kaufmann zwei Problemanzeigen: Ein ursächliches Problem: Je höher das ‚Humankapital‘[3] der Eltern ist, desto mehr sind sie an der Qualität und nicht an der Quantität der nachwachsenden Generation interessiert. Verantwortete Elternschaft bedeutet in dem Fall eine hohe Investition in Bildung und Erziehung. Das Folgeproblem daraus lautet: Wo wegen gewachsener Opportunitätskosten auf Elternschaft verzichtet wird, entsteht eine Investitionslücke im Humankapital, die Kaufmann für die letzten dreißig Jahre auf 2,5 Billionen Euro berechnet. Das hat Konsequenzen für Deutschland, das als ein Hochlohnland mit hohem Wissenskapital mit Ländern zu konkurrieren hat, die eine sehr junge Bevölkerung haben und stark in ihr Humanvermögen investieren.
Aus Sicht von Herwig Birg müsste das so genannte ‚magische Zieldreieck‘ aus Vollbeschäftigung, Preisstabilität und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht durch das Ziel ‚demographischen Nachhaltigkeit‘ erweitert werden. Es ist problematisch, wenn die wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten um Renten- und Gesundheitsreform und die Reformdiskussionen um Familien- und Einwanderungspolitik in der Regel unverbunden nebeneinander laufen und sich das lediglich in emotional hoch aufgeladenen Migrationsdebatten zu ändern scheint, wobei hier die Probleme oftmals einfach auf Flüchtlinge und Migranten projiziert werden.
Über Generationengerechtigkeit zu reden, heißt also nicht nur über die Herausforderungen und Chancen einer älter werdenden Bevölkerung zu sprechen, sondern auch über die finanziellen und gesellschaftlichen Investitionen in die nachfolgende Generation, über Veränderungen des Familienbildes, die Sorgeaufgaben und den Zusammenhalt der Generationen, die Integration von Zuwanderern mit anderer Kultur und Religion und schließlich über die Konsequenzen für schrumpfende Regionen.((Hervorhebung Ende)) Damit sind vielfältige Fragen der sozialen Gerechtigkeit angesprochen, die sich gegenwärtig deutlich verschärfen. Es geht um die Chancengerechtigkeit der jungen Generation, aber auch um Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit zwischen der immer geringeren Zahl von Erwerbstätigen und den Beziehern von Transfereinkommen, die wir an den Fragen der Rentenentwicklung wie auch der Pflegeversicherung diskutieren. Gerade im Blick auf die Älteren besteht allerdings ein Problem darin, dass wir Teilhabe in den letzten Jahrzehnten im Wesentlichen auf Verteilungsgerechtigkeit reduziert haben und deswegen lediglich über Rentenformeln, Rentenalter und die Zukunft der Sicherungssysteme, nicht aber über das Humanvermögen der Älteren und – abgesehen von der Erbschaftssteuer – auch nicht über das materielle und immaterielle Generationenerbe sprechen. Dazu zählt eben auch das von der älteren Generation erarbeitete Sozialvermögen in sozialer Ordnung und Rechtsstaatlichkeit. Tatsächlich tragen gerade ältere Menschen in einem erheblichen Maße zur Stabilisierung sozialer Beziehungen und damit auch zu Wertschöpfung und Wohlstand in der Gesellschaft bei.
2. Soziale Sicherung der älteren Generation – die Rentenentwicklung
Der demographische Wandel seit Ende der 60er Jahre hat zwei Grundvoraussetzungen des bestehenden Rentensystems in Frage gestellt: 1. die Reproduktionsleistung der Familien nahm ab, weswegen der Bevölkerungsanteil der Beitragszahler rückläufig ist und der der Rentner steigt. 2. Die zunehmende Spreizung der Einkommen setzt das Rentensystem unter Druck, so dass gerade von jüngeren Beitragszahlern die Finanzierung der gesetzlichen Rente zunehmend als belastend empfunden wird.
Vor diesem Hintergrund erfolgten in den letzten Jahren verschiedene Reformen, die die demografische Entwicklung stärker berücksichtigen und durch stabile Beitragssätze eine übermäßige Belastung der Erwerbstätigen verhinderten. Allerdings senkte man im gleichen Zuge das Nettorentenniveaus deutlich, weswegen neben die Gesetzliche Rentenversicherung noch eine zweite kapitalgedeckte Säule trat. Diese ist aber weder obligatorisch, noch bei geringen Rentenanwartschaften attraktiv ist, denn sie wird auf die gesetzliche Rente angerechnet und muss ausschließlich von den Beschäftigten finanziert werden. Um eine zu starke Absenkung des Rentenniveaus zu vermeiden, kam es nun mit der letzten Rentenreform zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit und zur Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters. Diese Reform wurde jedoch infolge der individuellen Abschläge von denen, die eine volle Leistung in der Erwerbstätigkeit erbracht haben, de facto als Rentenkürzung empfunden. Besonders schwer wiegt das für die unteren Einkommensgruppen. Und so haben die Rentenreformen seit 2002 insgesamt zu einem ‚Sinkflug‘ im System geführt, die Rente gilt nicht mehr als ‚sicher‘.
Mit der Rentenreform von 1957 konnte das drängende Problem der Altersarmut überwunden werden. Eingeführt wurde die dynamische Anpassung der Rentenhöhe an die Bruttolohnentwicklung, was die wachsende Diskrepanz zwischen den im wirtschaftlichen Aufschwung stark steigenden Löhnen und den dahinter zurückbleibenden Renten ausglich. Dieses Problem könnte in den nächsten 10-15 Jahren zurückkehren, da der Anteils der Versicherten mit geringen Rentenansprüchen steigt. Neben der Absenkung des Rentenniveaus liegen die Ursachen hierfür in veränderte Erwerbsbiografien (mit immer häufigeren Erwerbsunterbrechungen durch Arbeitslosigkeit) sowie in aufwendigeren Pflege- und Erziehungszeiten. Hinzu kommt die Zahl der Geringverdiener, deren Einkommen häufig bereits während der Erwerbstätigkeit unzureichend ist. Im europäischen Vergleich ist Deutschland derzeit das Land mit der schlechtesten Absicherung der unteren Einkommen. In vielen europäischen Ländern, zum Beispiel in Dänemark oder den Niederlanden, ist es längst Trend, eine zweite Ebene mit Zusatzsicherungen einzufügen. Mit der Rente die Lohnpolitik zu korrigieren, ist jedenfalls nach dem in Deutschland geltenden, leistungsbezogenen Äquivalenzprinzip nicht möglich. Deshalb debattiert man hier seit längerem über eine ‚Solidarische Grundrente‘ oder eine ‚Lebensleistungsrente‘. Neben der Anerkennung der monetären Beitragsleistungen ist demnach eine weitergehende Anerkennung des generativen Beitrags in der Rentenversicherung erforderlich. Entsprechend der Vorstellung eines Drei-Generationen-Vertrages wäre eine angemessene Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in der umlagefinanzierten Rente systemgemäß, doch sie fanden bislang keinen Eingang (‚Kinder kriegen die Leute immer‘) und auch in den aktuellen Rentenreformen werden sie nur unzureichend berücksichtigt.
3. Soziale Sicherung der Älteren: für eine Aufwertung der Pflege
Viele Menschen bleiben heute viele Jahre länger jung, körperlich leistungsfähiger und sozial aktiver als die Ältesten vor fünfzig Jahren – aber andere, wahrscheinlich die Mehrheit, können dieses Ideal nicht annähernd erreichen. Die Ungleichheit im Alter nimmt tatsächlich in dem Maße zu, wie Individualisierung, Pluralisierung und gesellschaftliche Spreizung wachsen. So ist zwar richtig, das überholte Bild vom Alter als einem Lebensstadium der Versorgung hinter sich zu lassen: ältere Menschen sind vollwertige Akteure ihres Lebens, für die gesellschaftliche Teilhabe wesentlich ist. Doch es darf nicht vergessen werden, dass es unter den Älteren eine große Gruppe gibt, die auf die Sorge anderer angewiesen ist. Das neue, aktivitäts- und entwicklungsorientierte Bild vom Alter darf nicht dazu führen, dass Ärmere, Kranke und Gebrechliche diskriminiert werden und die letzte Lebensphase, die häufig Pflegebedürftigkeit einhergeht, abgewertet wird
Mit der Zahl der Hochaltrigen wird die Zahl der pflegebedürftigen Menschen weiter wachsen; und auch die Beziehungsbedürftigkeit der zu pflegenden Menschen wird wachsen. Schon heute leben 41,3 % der 70 bis 85 Jahre alten Menschen in Einpersonenhaushalten.[4] Ihre Möglichkeiten, bei Bedarf auf informelle Netze zurückzugreifen, sind begrenzt. Wer in der nachfolgenden Generation keine Angehörigen hat, wird möglicherweise einsam alt. Dadurch wachsen die Anforderungen an die Pflege nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht. Je nachdem, welche Annahmen über die kommenden altersspezifischen Pflegefallhäufigkeiten getroffen werden, kursieren unterschiedliche Szenarien über die Pflegebedürftigkeit im Jahr 2040. Nach dem Grundmodell von Rothgang zum Beispiel steigt die Zahl der Leistungsempfänger in der sozialen Pflegeversicherung zwischen 2000 und 2040, bei im Zeitverlauf konstanten alters- und geschlechtsspezifischen Pflegehäufigkeiten, von 1,86 Mio. auf 2,98 Mio. also um 61%. Und auch wenn noch immer 70% aller Pflegebedürftigen von Angehörigen gepflegt werden sollten, die Zahl der potentiellen privaten Pflegepersonen, die Geburtenentwicklung und die Frauenerwerbstätigkeit werden rückläufig prognostiziert.[5] Obwohl bereits heute ein Neuntel der Erwerbsbevölkerung in Gesundheits-, Heil- und Pflegeberufen tätig ist, ist davon auszugehen, dass sich dieser Anteil in den kommenden dreißig Jahren verdoppeln muss. Gegenwärtig arbeiten schon bis zu einem Drittel Migrantinnen und Migranten in kirchlichen Pflegeeinrichtungen, und die häusliche Pflege wird in hohem Maße von privaten Haushaltshilfen und Pflegekräften aus Osteuropa gestützt.
Die Schlüssel für das Pflegesetting der Zukunft sind sicherlich eine gute Kooperation zwischen Pflegefachkräften, Angehörigen und Freiwilligen[6], eine zusätzliche Flankierung von Pflegehaushalten sowie eine Stabilisierung der bestehenden Unterstützungssysteme. Dazu gehört auch die zeitweilige Freistellung von Erwerbstätigen für Pflegeaufgaben in der Familie. Die neue Familienpflegezeit ist ein erster Schritt in diese Richtung. Im Bereich der professionellen Altenpflege ist es nötig, die Bedeutung der Bezugspflege zu stärken, insbesondere die zunehmende Zahl der demenzerkrankten Menschen leidet mehr als alle anderen unter der Modularisierung, die sie mit einer großen Zahl von Bezugspersonen konfrontiert. Darüber hinaus erfordern die chronischen Erkrankungen alter Menschen, ihre Multimorbidität, aber auch die Aufgaben von Palliativversorgung und Sterbebegleitung eine gute Zusammenarbeit zwischen Medizin und Pflege. Angesichts der – auch versicherungstechnisch – absolut getrennten Systeme Krankenhaus und Altenhilfe führt das immer wieder zu Drehtüreffekten mit vielen Spannungen und unklaren Kompetenzen. Modellprojekte der Integrierten Versorgung zeigen den Erfolg von Versorgungsnetzen, denen es gelingt, stationäre und ambulante Dienste, gesundheitliche, pflegerische und soziale Dienste zu verbinden.
Gesellschaftspolitisch gilt es einzustehen für eine Aufwertung der Pflege als eigenständigem Beruf in Kooperation mit den Medizinern, aber auch für letztlich kostensparende, qualitativ hochwertige medizinische Kompetenzzentren, eine Überschreitung stationärer und ambulanter Sektoren, die Vermeidung von Doppeluntersuchungen und unausgelasteten technischen Geräten. Zu investieren ist in Menschen und Netzwerke statt in Status, Technik und minimale Arzneimittelinnovationen. Investitionen in die arbeitsplatzrelevante Wachstumsbranche Gesundheitswesen stehen nicht in Spannung zu den ebenfalls notwendigen Investitionen in Erziehung und Bildung – im Gegenteil: Eine gute Infrastruktur und qualitativ hochwertige Dienstleistungen in Erziehung, Bildung und Pflege stärken Familien und sind deshalb die besten Maßnahmen gegen eine weitere Unterjüngung der Gesellschaft.
4. Veränderungen in den Familien: zur Verknüpfung privater und öffentlicher Dienste
Angesichts des demographischen Wandels ist Familie zu einem der zentralen Politikfelder avanciert. Familie ist mehr als das Zusammenleben unterschiedlicher Individuen mit je eigenen Rechten, sie ist eine Fürsorge- und Lerngemeinschaft zwischen Partnern und Generationen. Darin sind nicht nur Kinder und Eltern, sondern auch Großeltern und weitere Verwandte und Wahlverwandte einbezogen. Mit der Zahl der ‚Fortsetzungsfamilien‘ wächst oftmals auch die Zahl möglicher ‚naher Verwandter‘, die – je nach ‚Wahl‘ weiterhin engen Kontakt zu Kindern und Partnern haben können. Die ‚multilokale Mehrgenerationenfamilie‘ von heute ist ein verwandtschaftliches Netzwerk, das Kinder und erziehende Eltern unterstützt und gerade für Alleinerziehende von entscheidender Bedeutung ist. Mit der neuerdings ermöglichten (unbezahlten) Freistellung von Großeltern für die Erziehung von Enkeln minderjähriger Kinder werden diese Ressourcen aktiviert. Übrigens können sich der finanzielle Ausgleich und die Unterstützungsleistungen, die innerfamiliär von Großeltern zu Kindern und Enkeln fließen, im Verhältnis zu den Rentenleistungen der Jüngeren an die Älteren durchaus sehen lassen.
Dennoch: Die Organisation der Aufgaben in der Familie mit Blick auf Kinder, pflegebedürftige und hochaltrige Menschen steht in Spannung zu der politisch gewollten Notwendigkeit, dass Männer wie Frauen, verstärkt durch eigenes Erwerbseinkommen und Kapitaldeckung für ihre Gesundheits- und Altersvorsorge einstehen. Im Verhältnis dazu ist der finanzielle Ausgleich für Erziehungs- und Pflegeleistungen in der Familie noch mangelhaft. Dieses Problem wird mit steigendem Pflegebedarf immer deutlicher. Wenn also Familien ihre auch im skizzierten gesellschaftlichen Wandel bleibenden Aufgaben gerecht werden sollen, brauchen sie unterstützende Netzwerke, Investitionen in Infrastruktur und Anerkennung der Sorgezeiten in den sozialen Sicherungssystemen.
5. Demographischer Wandel in der Kirche: Familien stärken und Potenziale des Alters schätzen
Hermelink und Latzel zeigen in ihrem Werkbuch „Kirche empirisch“[7] , dass der demographische Aufbau der evangelischen Kirche im Vergleich zur Gesamtbevölkerung schon jetzt erheblich unterjüngt ist: die mittleren Jahrgänge zwischen 40 und 45 sind deutlich unterrepräsentiert. Das lässt sich aus den Kirchenaustritten vor allem junger Menschen erklären, was inzwischen eine ganze Kohorte der nächsten Generation betrifft und nicht durch Migration kompensiert wird. Und selbst wenn es keine Mitgliedschaftsverluste durch Austritte gäbe und alle Kinder getauft würden, die evangelische Kirche würde dennoch zahlenmäßig weiter schrumpfen,[8] ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung würde weiter sinken und das Durchschnittsalter der Mitglieder steigen. Folglich stehen die Gemeinden als Erste vor der gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das Alter und Altern neu zu würdigen und sich die damit verbunden Themen wie ‚intergenerative Arbeit‘, ‚Pflege und soziale Dienste‘, ‚zivilgesellschaftliche Potenziale Älterer‘ oder ‚Weitergabe des kulturellen Erbes‘ zu eigen zu machen. Die EKD-Orientierungshilfe „Im Alter neu werden können“[9] , die unter der Leitung von Prof. Andreas Kruse 2009 herausgegeben wurde, wirbt für die entsprechenden Chancen und die damit verbundenen Verpflichtungen. Aber Axel Noack warnt in einem Aufsatz mit der Überschrift „Fröhlicher Kleinwerden und dabei wachsen wollen“:„Unsere Gemeinden sehen noch nicht, was auf uns zukommt, weil die Auswirkungen der demographischen Entwicklung im Alltag noch nicht zu sehen sind.“[10] So etwa sind die Kirchensteuern längst nicht so stark eingebrochen wie angenommen. Doch Noack macht darauf aufmerksam, dass wir es – über die Finanzen hinaus – mit langfristigen, sozialen und mentalen Veränderungsprozessen zu tun haben. Zwei Aspekte seien hier genannt: Kinderlose erleben nicht die Phase, in der sie ihre Kinder taufen und mit den eigenen Kindern noch einmal neu über die Bedeutung des Glaubens nachdenken und damit wieder mehr Bindung zur Kirche entwickeln. Anderseits verändert sich die Bestattungskultur, welche lange als kirchliche Bastion galt, weil viele Ältere ohne Kinder und weitere Angehörige sterben oder das Geld für eine Erdbestattung und Feier fehlt; ja selbst, weil viele gar nicht mehr wissen, ob ihre Eltern der Kirche angehörten, nimmt die Zahl der anonymen und der nicht-kirchlichen Bestattungen zu. Zwei Stützpfeiler also, die bisher die Kirchenmitgliedschaft durch die Familien und über die Generationen hin trugen, erodieren gegenwärtig.
Kirchengemeinden nun sind in starkem Maße mit Familien und deren Erziehungs- und Sorgeaufgaben, die noch immer in hohem Maße auf den Schultern der Frauen liegen, verbunden. Frauen sind auch in besonderer Weise im sozialen Ehrenamt tätig, wobei gerade die evangelische Kirche eine überdurchschnittlich hohe Beteiligung älterer Freiwilliger aufweist (ohne, dass die Beteiligung Jugendlicher geringer wäre als in anderen Arbeitsfeldern). Gemeinden und Diakonie können deshalb dazu beitragen, die gesellschaftliche Reserviertheit gegenüber dem Alter aufzulösen, wenn sie das ehrenamtliche Engagement Älterer, und gerade älterer Frauen, in den eigenen Gemeinden angemessen würdigen und sichtbar machen. Aber die jungen Alten werden auch aus anderen Gesellschaftsbereichen umworben und werden etwa gebraucht, um den fragilen Zusammenhalt einer mobilen Gesellschaft zu stärken: als Freiwillige in Sozial- und Diakoniestationen leisten sie Nachbarschaftshilfe, bei „Rent a Grant“ arbeiten sie als Leihomas, in Mehrgenerationenhäusern geben sie den Kindern ein Stück Kontinuität. Sie tragen auf diese Weise entscheidend dazu bei, dass die Wohnquartiere lebendig und lebenswert bleiben und im wahrsten Sinne des Wortes ‚die Kirche im Dorf‘ bleibt. Inzwischen schauen die jungen Alten aber genau hin, wann sie andere Freizeit- und Gestaltungsmöglichkeiten zurückstellen und ob dann ihre Gaben und die Herausforderungen auch zusammen passen, ob ihre Persönlichkeit und biographische Prägung berücksichtigt sind. Stifter und Stifterinnen – wir sind ja eine Gesellschaft von Erben, Menschen, die sich um ihre Kirche kümmern, sie offen halten, Leute, die Gräber auf Friedhöfen pflegen, ehrenamtliche Prädikantinnen und Prädikanten in schrumpfenden Städten – sie halten das kulturelle, geistige und geistliche Gedächtnis für die nächste Generation wach. Diese Entwicklung kommt der Kirche sehr entgegen und fordert sie zugleich heraus. Gefragt ist ein erneuertes Selbstverständnis, das aufräumt mit der versteckten Abwertung vor allem älterer Frauen. Es gäbe eine Reihe von biblischen Belegen, die man dafür zitieren könnte (die wichtigsten scheinen mir mit der Hochschätzung des Witwenamtes zu tun zu haben). ‚Wachsen gegen den Trend‘ – das heißt eben auch: wertschätzen, wer wir sind und was wir zu geben haben.