Als im Frühjahr dieses Jahres der neue Freiwilligensurvey erschien, war das Datenmaterial zum Teil überholt – jedenfalls was das TOP-Thema des Jahres 2015 angeht, das freiwillige Engagement von und für Migranten. Denn das Material dieses 4. Surveys wurde zwischen April und November 2014 erhoben; immerhin aber zum ersten Mal auch in fremdsprachigen Interviews in englischer, türkischer, arabischer, polnischer und russischer Sprache. 17,4 Prozent der Befragten in den im Schnitt halbstündigen telefonischen Interviews hatten Migrationshintergrund und immerhin 31,6 Prozent der Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund sind freiwillig engagiert – nach dem Sport ganz besonders in Schulen und Kindergärten. Allerdings nehmen sie seltener als Menschen ohne Migrationshintergrund Leitungsaufgaben wahr. Nach der starken Zuwanderung im letzten Jahr liegt hier eine große Integrationsaufgabe auch für kirchliche Bildungseinrichtungen: Ehrenamt ist wie Erwerbsarbeit ein Schlüssel zu Integration und Teilhabe.
Der Freiwilligensurvey bildet nicht so sehr aktuelle Prozesse ab; er analysiert die langfristigen Veränderungen der ehrenamtlichen Arbeit – sowohl im Blick auf die individuellen Ressourcen, Geschlecht, Alter, Bildungs- und Erwerbsstatus als auch hinsichtlich der regionalen und kulturellen Rahmenbedingungen. Die Kontinuität der Fragestellungen in den vier Wellen des Surveys ermöglicht einen differenzierten Blick auf diese Themen im Zeitvergleich – und damit auf den gesellschaftlichen Wandel, der sich im Ehrenamt zeigt und auch für die Kirchen von großer Bedeutung ist. Eins der wichtigsten Ergebnisse: 31 Millionen engagieren sich; das ehrenamtliche Engagement in Deutschland ist konstant stabil, selbst wenn über die erhobene Prozentzahl im Detail gestritten wird.
Sorgenetze und Leitungsaufgaben
Zum ersten Mal wurde die informelle, außerfamiliale Unterstützung in Freundschaft und Nachbarschaft abgefragt, soweit sie eben unentgeltlich und außerhalb beruflicher Tätigkeiten erfolgt. Es geht also nicht um gering bezahlte „Jobs“ in der Pflege – auch wenn der Übergang manchmal unscharf und der gesellschaftliche Druck gerade hier immens ist. Gleichwohl wird deutlich: solche wechselseitigen Unterstützungsleistungen verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten. Immerhin 26,2 Prozent geben an, dass sie nachbarschaftliche Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten bis Kinderbetreuung erbringen – und es sind, bis auf die Unterstützung Pflegebedürftiger, mehr Männer als Frauen und eher Jüngere als Ältere. Die vielen Modelle von Quartiersarbeit und Sorgenetzwerken und Diakonie und Caritas zeigen: die gleichwohl nötigen Hintergrundstrukturen zu stärken und Vernetzungsangebote zu schaffen, ist eine wichtige Zukunftsaufgabe der Kirchen. Das gilt besonders im ländlichen Raum, wo die Vereine mit ihrem Ehrenamt nach wie vor der zentrale Faktor für sozialen Zusammenhalt sind.
Angesichts der Pluralisierung und Unüberschaubarkeit gesellschaftlicher Prozesse gewinnen die persönlichen, unterstützenden und beratenden Hilfeleistungen auch gegenüber der eher praktischen Arbeit an Gewicht – ebenso die administrativen Tätigkeiten von der Mittelbeschaffung bis zur Öffentlichkeitsarbeit. Was aber, wenn sich nicht mehr hinreichend Vorstandsmitglieder in einem Verein oder einer Initiative finden? Der FWS zeigt deutlich, dass die Beteiligung an Leitungsfunktionen von 38,2 Prozent 1999 auf 27,5 Prozent 2014 zurückgegangen ist – möglicherweise die Folge einer sinkenden Bereitschaft, organisationelle Verpflichtungen zu übernehmen. Dabei spielen allerdings auch die beruflichen Mobilitäts- und Flexibilitätserwartungen eine Rolle. Bei den Fusionen von Organisationen und Verbänden wachsen gleichzeitig die Anforderungen an Leitung – und auch die vielen kleinen Initiativen könnten nicht funktionieren ohne ein erhebliches Maß an Professionalisierung von Fundraising bis zur Interessenvertretung. Auf diesen Zusammenhang von Organisationsentwicklung und Ehrenamtsentwicklung zu achten – und übrigens auch Engagementforschung und Organisationsforschung neu aufeinander zu beziehen – ist eine weitere Herausforderung für Kirchen, Diakonie und Caritas. Noch immer ist die traditionelle Geschlechterhierarchie spürbar: 21,7 Prozent der Frauen und 33 Prozent der Männer übernehmen Leitungsfunktionen. Wie schon in den vorangegangenen Erhebungswellen zeigt sich aber: der Geschlechterunterschied spielt bei den 30- 39-jährigen (21,4 zu 30,9 Prozent) schon eine weit geringere Rolle als bei den über 65-jährigen (19,4 zu 38,8 Prozent). Schwerer scheint zukünftig der Einfluss sozialer Ungleichheiten wie Gesundheit und Bildung zu wiegen. Auch hier sind die Kirchen und ihre Verbände gefragt: gerade in Leitungsfunktionen sind Ehrenamtliche auf Fortbildung, Austausch und Informationen, aber zunehmend auch auf organisationelle Entlastung angewiesen.
Beruf, Familie, Ehrenamt
Dem Paradigmenwechsel zum „neuen Ehrenamt“ zum Trotz liegt die durchschnittliche Dauer des Engagements noch immer bei 10,2 Jahren – bei Männern sind es sogar 11,2, bei Frauen nur 9,1 Jahre. Hier schlägt bereits der Bildungsunterschied deutlich zu Buche: während niedriger Gebildete 15,4 Jahre lang „dabei bleiben“, beenden höher Gebildete ihr Engagement im Schnitt nach 9,1 Jahren. Dabei engagiert sich immerhin ein knappes Drittel täglich oder jedenfalls mehrfach in der Woche ehrenamtlich und immer noch jeder zweite mehrmals im Monat. Über die Jahre zeigt sich allerdings: während die Vielfalt der ehrenamtlichen Tätigkeiten zunimmt, nimmt der Stundenumfang seit 2004 kontinuierlich ab. Einer der wichtigsten aufgabenbezogenen Gründe, ein Ehrenamt zu beenden, liegt denn auch in einem zu hohen zeitlichen Aufwand. Dabei spielt bei fast jedem zweiten die berufliche Situation eine Rolle – und mit 47,6 Prozent zeigt sich hier eine starke Steigerung von einem Drittel auf die Hälfte der Befragten. Bei einem knappen Drittel – 28,1 Prozent, nach wie vor zumeist bei Frauen – geht es um die Vereinbarkeit mit der Familie. Angesichts der zunehmend selbstverständlichen Frauenerwerbstätigkeit wird das Thema Vereinbarkeit von Beruf, Engagement und Familie, das zwischen 2009 und 2015 immer wieder Thema bei den ökumenischen Ehrenamtskongressen war, auch für die Kirchen wichtiger. Seit dem letzten Survey hat sich die Zahl derer verdreifacht, die angeben, dass ihre ehrenamtliche Tätigkeit von Anfang befristet war; hier zeigt sich tatsächlich der Vormarsch des neuen, projektorientierten Ehrenamts. Es lohnt sich, diese Entwicklungen mit denen auf dem Arbeitsmarkt zu vergleichen: hier wie da nehmen Aufgabenvielfalt und Arbeitsintensität zu, Elektronik und Rationalisierung werden immer wichtiger. Und wie auf dem Arbeitsmarkt gibt es auch im Ehrenamt einen noch wenig beachteten Trend zu kleinen Start-ups: immerhin 10 Prozent der Ehrenamtlichen sind nicht durch Einrichtungen oder Vereine „organisiert“ – sie vernetzen sich spontan über soziale Netzwerke und fordern damit gerade die Verbände heraus.
Nach wie vor geht es im Ehrenamt aber um andere Werte als in der Erwerbstätigkeit. Hier zählen Wohlbefinden und Gemeinwohlorientierung: „Spaß haben (93,9 Prozent), Menschen helfen (81,9 Prozent) und Gesellschaft verändern (91 Prozent) stehen im Vordergrund. Der Wunsch, Qualifikation und Einfluss zu gewinnen (51,5 bzw. 31,5 Prozent) treten deutlich dahinter zurück. Wie weit sich allerdings die Motive bei Leitenden und anderen Ehrenamtlichen unterscheiden, ist noch zu wenig erforscht. Keinen Zweifel gibt es, wie Menschen für ein Ehrenamt gewonnen werden: neben den Netzwerken spielen Personen mit hoher Akzeptanz und Vertrauen vor Ort eine entscheidende Rolle. Solche haupt- wie ehrenamtlichen „Schlüsselpersonen“ weiter zu qualifizieren, haben sich die Kirchen mit Programmen für Ehrenamtsmanagement und Ehrenamtskoordinatoren vorgenommen. Das gilt es in den nächsten Jahren mit Zeit- und Mitteleinsatz fortzuführen. Politisch aber sollten die Kirchen sich einsetzen für eine bessere Verknüpfung der Erhebungen (nicht nur) im Freiwilligen- und Alterssurvey. Die Diskussion über Unstimmigkeiten in diesem Zusammenhang hat den Blick auf wichtige gesellschaftliche Entwicklungen im Ehrenamt geschwächt.