1. Roseto – ein Traum aus den 60ern
Ein kleines Dorf in Pennsylvania wurde in den 60er Jahren berühmt: Roseto. Dorf, das von italienischen Auswanderer gegründet wurde, hatte eine besonders niedrige Sterberate bei den unter 65-jährigen – 30 – 35 Prozent unter dem Durchschnitt. John Bruhn, Mitglied in einem Forscherteam, berichtete, man habe dort keine Selbstmorde gefunden, keinen Alkoholismus, keine Magengeschwüre; die meisten Leute seien einfach an Altersschwäche gestorben. In den nächsten Jahren ging man verschiedenen Hypothesen nach: war es ein besonderes Olivenöl, das so gesund erhielt oder insgesamt eine gesündere Kost? Tatsächlich aber nahmen die Leute dort 41 Prozent Fett zu sich. Lag es an den Genen? Am Trinkwasser, der medizinischen Behandlung in der dortigen Klinik? Keine Hypothese hielt der Forschung stand. Erst in den 70er Jahren kam das Forscherteam zu einem ganz anderen, überraschenden Ergebnis. Damals, als in Roseto der erste junge Mann am Herzinfarkt starb, hatte das Dorf seinen ursprünglichen, italienischen Charakter schon verloren; die jungen Leute zogen zur Arbeit raus, man ging nicht mehr regelmäßig zur Kirche oder in den Club, aß abends nicht zusammen auf der Piazza. Im Rückblick zeigte sich: wer in eine solidarische Gemeinschaft eingebunden ist, lebt entspannt und vertrauensvoll. Und das lindert Stress und hält gesund.
Inzwischen sind die Migranten aus Roseto längst integriert. Heute sind 28% aller US-Haushalte Single-Haushalte, verglichen mit 9% in den 50er Jahren – ein enormer Anstieg. In Schweden sind es 47 Prozent, in Großbritannien 34, in Japan 31 Prozent – aber in Kenia nach wie vor nur 15, in Indien sogar nur 3 Prozent. Der Soziologieprofessor Eric Klinenberg spricht von einer Versingelung der Gesellschaft. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Alleinleben der beste Weg ist, die modernen Werte einer individualistischen Gesellschaft zu leben: Freiheit, Selbstverwirklichung und Selbstkontrolle. Single zu sein, ist eine Lebensform. Von vielen frei gewählt oder in Übergangsphasen bewusst gestaltet. Auch viele Paare kennen Lebensphasen, in denen sie aus beruflichen Gründen über lange Zeit getrennt leben. Immerhin jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren ist betroffen. Eine Frauenzeitschrift fragte vor kurzem solche Paare, wie Sie Ihre Liebe und Partnerschaft lebendig halten: durchschnittlich 10 sms und einige Emails am Tag und bis zu 480 Minuten Skype in der Woche kamen da zusammen. Das zeigt: so sehr wir unsere Autonomie lieben – wir wünschen uns zugleich, in einer verlässlichen Gemeinschaft zu leben. In Familien und auch in Betrieben, Vereinen und Quartieren. Der Streit um die EKD-Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ legt den Finger in die Wunde dieser Zerreißproben: Was treibt uns auseinander und was hält uns zusammen? Sind wir bereit, das Miteinander zu stärken und dabei die Pluralität der Familienformen anzuerkennen? Was können wir tun, um Familien zu unterstützen, zu ergänzen, neue Formen der Gemeinschaft zu entwickeln? Was lässt sich lernen von den Mutterhäusern und Bruderhäusern des 19. Jahrhunderts, denen es um nichts anderes ging – Ergänzungsfamilien in der Zeit der ersten Globalisierungswelle, als schon einmal Familien unter erheblichen Druck gerieten.
In der Zivilgesellschaftsbewegung ist zurzeit von Caring- Communities die Rede, von sorgenden Gemeinschaften. Die Alterskommission wie die Ehrenamtskommission der Bundesregierung befassen sich damit. Es geht um die Entwicklung von lebendigen und starken Nachbarschaften, um Budgets für Quartierspflege und Bündnisse für Familien. Dass die traditionellen Netze in Familien und Nachbarschaften in der Zerreißprobe stehen, zeigt schon der letzte Freiwilligensurvey der Bundesregierung: Waren es vor 10 Jahren noch 74 Prozent der Bevölkerung, die sagten, sie könnten sich in Notlagen auf Familie und Freunde verlassen, so sind es heute nur noch 64 Prozent. Die „Moralökonomie verliert an Strahlkraft“ sagt der Vorsitzende der Alterskommission, Thomas Klie. Denn wer sich um andere kümmert, und das waren traditionell die Frauen, der hat weniger Zeit für Erwerbsarbeit, weniger Geld für Konsum – und wahrscheinlich auch weniger Geld in der Rente. Kein Wunder, dass viele Ältere Angst haben, ihren Kindern zur Last zu fallen, deren Leben zu stören. Und dass weniger Kinder geboren werden. Die Moralökonomie verliert an Strahlkraft, außer in den Migrantenvierteln.
Gott sei Dank gibt es auch Gegenbeispiele: ich denke an Mehrgenerationenhäuser und Wohngemeinschaften für Demenzkranke. In Mössingen zum Beispiel hat eine Gruppe von Angehörigen eine Wohngemeinschaft für Wachkomapatienten gegründet – und Menschen, die eigentlich schon aufgegeben waren, fanden nach Jahren zu neuem Leben. Ihre Würde wird ernst genommen, Respekt auch vor der Schwäche spürbar. „Die Sorge für die Schwachen schützt die Starken selbst“, schreibt Romano Guardini. „Der Mensch, der es ablehnt, dem sinkenden Leben gut zu sein, versäumt eine wichtige Chance, zu verstehen, was Leben überhaupt ist“.
2. Und was ist Ihre Berufung?
„Und was ist Ihre Berufung?“ Diese Überschrift fand ich vor ein paar Tagen in der Zeitschrift „Emotion“: „Katrin Wilkens, eine Job-Profilerin, hilft Frauen dabei, den passenden Beruf zu finden und ist gerade genervt, weil das Thema „Berufung“ Konjunktur hat. Häufig säßen Frauen in der Widereinstiegsphase bei ihr und fragten, wie es gelingen könnte, noch 30 Jahre zufrieden zu arbeiten – möglichst auch in Teilzeit, ohne zu viele Dienstreisen und so, dass sich Selbstverwirklichung und Familie vereinbaren ließen. „Irgendetwas muss es doch geben, eine Berufung, eine Erfüllung, einen Job, für den ich wirklich brenne.“[1], bekommt sie immer wieder zu hören. Dabei geht es um eine lohnende Aufgabe, die den eigenen Gaben entspricht. In einer Welt, in der wir die Jobs und Positionen, die Wohnorte, Familien und Freundeskreise oft mehrfach im Leben wechseln, in der sich viele zerrissen fühlen zwischen verschiedenen Rollen und Identitäten und manche Philosophen schon diskutieren, ob es überhaupt so etwas gibt wie eine Identität der Person, da fragen sich auch ganz säkulare Menschen, was der Sinn ihres Lebens ist und wofür sie gebraucht werden. „Wann haben Sie zuletzt aus tiefster Überzeugung heraus geliebt, was Sie tun? Kompromisslos, begeistert, enthusiastisch?“ Das fragen auch Anja Förster und Peter Kreuz in ihrem Buch: „Hört auf zu arbeiten![2] Eine Anstiftung zu tun, was wirklich zählt“.
Dabei ist Arbeit wichtig zur Selbstverwirklichung, sie kann Anerkennung bringen, sie verbindet uns mit anderen Menschen, aber sie ist für viele mit steigendem Druck verbunden. Höhere Stückzahlen werden erwartet, mehr Kundenbesuche, wachsende Fallzahlen, mehr gefahrene Kilometer, kürzere Liegezeiten, mehr Umsätze. Das gilt für die Industrie wie für den Dienstleistungsbereich und auch für die Sozialwirtschaft. Wir erleben eine Ausweitung der Betriebs- und Ladenöffnungszeiten bis hin zum Rund-um-die-Uhr-Betrieb in Fabriken und Callcentern und natürlich auch in Krankenhäusern und OPs. „Just in time“ wird zur Erwartungshaltung, nicht nur in der Logistik, sondern auch im Blick auf die elektronische Kommunikation der Mitarbeitenden. Der moderne Arbeitnehmer soll flexibel, mobil und jederzeit verfügbar sein wie seine Produkte. Da kann ein Bahnstreik schon das ganze Leben durcheinander bringen
Nicht nur für Müttern und Vätern mit kleinen Kindern, auch für Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen und für viele ältere Arbeitnehmern ist es nicht leicht, die Leistung, die von ihnen erwartet wird, stetig und vor allem in Vollzeit zu erbringen. Sie wünschen sich eine „atmende Teilhabe“; ein Arbeitsverhältnis, das den verschiedenen Lebensphasen angemessen ist. Und große Gruppen von Menschen haben erhebliche Schwierigkeiten, überhaupt Arbeit zu bekommen – auch wenn die deutsche und europäische Arbeitsmarktpolitik unter dem Stichwort employability einiges unternehmen, um möglichst viele auf dem Markt zu halten bzw. ihnen den Weg in die Beschäftigung zu ermöglichen. Die Spaltung zwischen denen, die drin sind und denen, die draußen bleiben, wächst – genauso wie die zwischen prosperierenden und schrumpfenden Stadtvierteln und Regionen. Oder zwischen denen, die Sorge für Kinder oder Pflegebedürftige tragen und denen, die sich ganz auf den Job konzentrieren. Und dabei ist Erwerbsarbeit nach wie vor zentral; als Hanna Arendt in den 60 er Jahren in ihrem Buch „vita activa“ unsere Gesellschaft als Erwerbsgesellschaft charakterisierte, stand dieser Prozess z. B. für die Frauen noch am Anfang.
Wer keine Chance mehr sieht, den eigenen Anspruch im Berufsalltag zu verwirklichen, wer sich nicht gewürdigt sieht mit seiner Biographie, mit dem, was er einzubringen hat, geht vielleicht in die „innere Emigration“, die innere Kündigung. Oder macht sich auch äußerlich auf den Weg – wechselt die Stelle, bildet sich weiter, spezialisiert sich. Das gilt auch und erst Recht in der sozialen Arbeit: die verhältnismäßig geringe Verweildauer in Pflegeberufen, die Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die in Forschung oder Versicherungswirtschaft arbeiten, ja – auch die der Pflegekräfte und Ärzte, die nach Skandinavien auswandern, sprechen eine klare Sprache. Andere reduzieren die Erwerbsarbeit, um Zeit für die Familie zu haben, oder machen sich selbständig – mit einem Kinderhospiz, einer Wohngemeinschaft für Komapatienten oder einem Jugendhilfeprojekt. Und manche suchen neben dem Beruf ein ehrenamtliches Standbein, einen Ort, an dem sie ihre Berufung leben können: eine Imkerei vielleicht, ein Theaterprojekt, eine Yogaschule. Sinnvolle Arbeit hat zu tun mit der Erfahrung, die eigene Berufung zu leben und gerade so zu einem größeren Ganzen beitragen zu können. Sie lebt vom Engagement für etwas, was über uns selbst hinausgeht – das Glück anderer Menschen, die Entdeckung neuer Chancen, eine andere Gesellschaft, ein nachhaltiger Umgang mit dem Lebendigen.
Wir sind schon längst auf dem Weg in die Tätigkeitsgesellschaft – teils gezwungen, teils aber auch freiwillig und bewusst. Erwerbsarbeit wird gebraucht, um das Einkommen zu sichern und es bleibt wesentlich, für angemessene und existenzsichernde Entgelte zu kämpfen. In den Tarifkämpfen, die wir gerade erleben – bei Erziehern und Sozialarbeitern – geht es aber nicht nur um Geld, es geht um Anerkennung und Wertschätzung von Bildung und sozialer Arbeit in einer Gesellschaft, die mehr und mehr darauf angewiesen ist – wegen des demographischen Wandels, wegen der Notwendigkeit zur Vollbeschäftigung bei Männern und Frauen, wegen des Auseinanderdriftens von Milieus und der Vielfalt von Kulturen.
3. Resonanz in Zeiten der Beschleunigung
Wie andere Dienstleistungsbereiche auch leidet aber die Sozial- und Gesundheitsbranche in besonderer Weise unter Kosten- und Arbeitsdruck. Hier werden keine Überschüsse erwirtschaftet, die sich an Mitarbeitende verteilen ließen. Aufgaben wie Erziehung, Pflege oder Hauswirtschaft, die traditionell von Frauen in den Familien oder ergänzend von kirchlichen Einrichtungen übernommen wurden, werden bis heute oft nicht als professionelle Dienstleistungen verstanden, die das Einkommen einer Familie sichern sollen. Tendenziell gelten sie noch immer als „Liebesdienst“ für Menschen, die das Herz am rechten Fleck haben. Für kleine Kinder, für alte Menschen – für alle, die als noch nicht oder nicht mehr produktiv gelten, nicht leistungsfähig sind, sondern einfach da sind. Ohne Zweifel hängt das geringe Einkommen auch damit zusammen, dass „Beziehungs- und Zuwendungsarbeit“ grundsätzlich niedriger bewertet wird als wissenschaftliche und technische Arbeit oder Managementaufgaben – das zeigt sich bis hin zum Einkommensgefälle zwischen verschiedenen Fachrichtungen der Medizin. Wo die Anforderungen an interdisziplinäres Arbeiten, an Effektivität und Wirtschaftlichkeit wachsen, nehmen aber auch die Ausbildungsanforderungen, die Erwartungen an Einkommen und die Belastungen zu – was die erwartete Leistung, aber auch, was die Arbeitskosten angeht. Auf diesem Hintergrund kommt es zu einer zunehmenden Spreizung von Qualifikationen und Einkommen: einfache Tätigkeiten werden outgesourcet, Fachdienste oft teuer eingekauft und Mitarbeiter ohne weitere Zusatzqualifikationen möglichst flexibel eingesetzt. Teams werden immer neu gemischt, Patienten „durchgeschleust“, einzelne Module und Dienstleistungen in einer Kette aneinandergereiht – die Beziehungen geraten in Zerreißproben und werden brüchig. Das Qualifikationsgefälle, das heute schon in der Pflege zu beobachten ist, wird sich bei wachsendem finanziellem Druck in den Kommunen in den Tageseinrichtungen für Kinder fortsetzen.
Die Zeit wird knapp, sie ist in sozialen Diensten das teuerste Gut – und so werden die „Resonanzflächen“ geringer und die Möglichkeiten, sich einzufühlen und Feedback im Alltag aufzunehmen, schwinden.[3] Vor Jahren hat mich eine Untersuchung über den Schritt in der Altenpflege beeindruckt, die deutlich machten, wie schnell die Mitarbeiterinnen über die Flure gehen mussten, wie langsam dagegen die Bewohnerinnen vorankamen – beide konnten einander so wenig auf Augenhöhe begegnen wie die Menschen im durchfahrenden Zug den Wartenden auf dem Bahnsteig. Zielvereinbarungen, Nutzerfragebögen, Regelgespräche können zwar dafür sorgen, dass Feedback und damit Resonanz organisiert werden, sie bleiben aber letztlich Managementinstrumente, deren Sinnhaftigkeit immer neu erinnert und hergestellt werden muss. So beschweren sich viele Mitarbeiterinnen wie Nutzerinnen über den wachsenden bürokratischen Aufwand, der das Gruppen- und Institutionengedächtnis ersetzen muss und trotz immer neuer Veränderungsprozesse für geregelte Abläufe sorgen soll. Aber Qualitymanagement kann Führung nicht ersetzen, Übergabebögen nicht das kollegiale Gespräch. Wer Hilfebedürftige nur noch ein kleines Stück auf dem Weg begleiten kann und nicht mehr sieht, wie es weiter geht, wer sich immer neu einlassen und schnell wieder abgeben muss, verliert das Gefühl von Resonanz, das Kostbarste, was diese Berufe ausmacht. Interessanterweise bleiben viele noch im Ausscheiden oder im Protest genau darauf bezogen: es sind oft ehemalige Altenpfleger und Erzieher, Lehrerinnen oder Ärzte, die die Missstände in Einrichtungen oder Fehlsteuerungen im System besonders scharf ins Visier nehmen und damit auch Verantwortungsträger in Politik und Gesellschaft an die Seele des Sozialen erinnern. Wenn man Hartmut Rosa folgt, der sich in vielen Büchern mit Entfremdung in der Beschleunigung auseinander gesetzt hat, dann geht es in Kirche und Diakonie genau darum, hier gegenzusteuern: Nachhaltige Beziehungen und verlässliche Gemeinschaften zu gestalten.
4. Der rote Faden
Aber auch wir selbst erleben ja die beschriebenen Prozesse der Beschleunigung. Vor lauter Effizienzdenken und Effizienzsteigerung habe man den roten Faden verloren, sowohl individuell als auch gesellschaftlich, sagt Stefan Grünewald vom Institut Rheingold in einem Buch über den letzten Wahlkampf der SPD. Unserer Gesellschaft fehle es nicht nur an Zusammenhalt, sondern auch an einem gemeinsamen Projekt, an einer tragfähigen Vorstellung für die Gestaltungsaufgaben der nächsten Jahrzehnte. Viele blickten in ein schwarzes Loch und fragten sich, was als nächstes kommen werde. Die soziale Struktur unserer Gesellschaft ist im Umbruch. Und dabei geht es um mehr als um die fiskalische Krise der sozialen Sicherungssysteme oder um die Ökonomisierung des Sozialen, die damit verbunden ist. Natürlich wirken sich prekäre Beschäftigungsverhältnisse, unterbrochene Erwerbsbiografien und Teilzeitbeschäftigungen auf die Stabilität der Sozialsysteme aus, tatsächlich haben wir es bei zunehmender Privatisierung auch mit einer wachsenden Spaltung zu tun. Aber noch tiefer reichen der demographische Wandel und die Veränderung von Familien und Geschlechterrollen: Das Design unseres Zusammenlebens bekommt ein neues Muster. Die alte Rollenaufteilung zwischen männlicher Erwerbsarbeit und unentgeltlicher Wohlfahrtsproduktion von Frauen trägt nicht mehr. Die Trennung von Wirtschaft und Wohlfahrt löst sich auf. Und die traditionelle Form der Subsidiarität, nach der vor allem die Verbände und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, auskömmlich finanziert, dafür zuständig waren, soziales Handeln professionell zu gestalten, ist auch längst Geschichte. Von außen betrachtet, erscheint Deutschland so manchem wie eine Insel der Seligen – während innen die Ängste wachsen. Vielleicht stehen wir am Ende einer langen Phase der Sozialstaatsentwicklung, die mit der neuzeitlichen Diakonie begann.
Die Gründergestalten der neuzeitlichen Diakonie reisten quer durch Europa, um sozialpolitische Zusammenhänge zu verstehen und neue Initiativen zu entdecken. Mit grenzüberschreitendem Handel und wachsender Mobilität gingen auch damals Armut und prekäre Beschäftigungsverhältnisse, überforderte Familien und die Vernachlässigung von Kindern und Pflegebedürftigen einher. Dabei stand für diese Generation außer Zweifel, dass die Herausforderungen ihrer Zeit zugleich Herausforderungen an ihren Glauben waren. Sie rechneten damit, dass ihnen in den vernachlässigten Kindern, den allein gelassenen Kranken, den jungen Leuten im Gefängnis Gott selbst begegnen würde – so wie Jesus es im Gleichnis vom großen Weltgericht erzählt: „Alles, was ihr getan habt meinen geringsten Brüdern, das habt Ihr mir getan.“[4]
Wichern, die Fliedners und all die anderen Gründerpersönlichkeiten der damaligen Zeit entwickelten neue Gemeinschaftsmodelle, die Antwort auf Zerreißproben und Sinnsuche gaben: Bruderhäuser gaben jungen Männern aus schwierigem Umfeld Ausbildung und Beruf, damit sie anderen eine Zukunft ermöglichen konnten. Mutterhäuser boten Pflege für die Kranken, zugleich aber auch berufliche Perspektiven für unverheiratete Frauen. Es ist diese Erfahrung gebraucht zu werden, es ist das Gefühl, dazu zu gehören, wonach sich heute wieder viele sehnen – Berufsträger wie Hartz-IV-Empfänger, Frührentner wie abgehängte Jugendliche und die vielen, die nicht mehr mithalten können in der beschleunigten Arbeitswelt, die Mütter kleiner Kinder, Menschen mit Behinderung und psychisch Kranke. All die Abgehängten, die das Gefühl haben, auf sie käme es nicht mehr an. In manchem gleichen die Herausforderungen der weltweiten Globalisierung denen des 19. Jahrhunderts und manche Probleme, die wir längst überwunden glaubten, kehren in der heutigen Transformation in neuem Gewand zurück.
Und wie damals gewinnen ehrenamtliches Engagement und soziale Initiativen wieder an Bedeutung. Nicht nur Einzelne, auch Unternehmen machen sich auf den Weg. Dahinter stehen neue Konzepte des Sozialstaats, aber auch ein wachsendes Selbstbewusstsein der Zivilgesellschaft. So zeigt der letzte Freiwilligensurvey der Bundesregierung einen neuen Ausgleich von Ich- und Wir-Orientierung, weg von der Geselligkeitsorientierung hin zu Gemeinwohlorientierung. Und parallel entwickeln sich auch in der Kirche Gemeinwesendiakonie, Tafelarbeit und Nachbarschaftshilfen zu wichtigen ehrenamtlichen Arbeitsfeldern. Nicht zur Unrecht fürchten machen, dass die Ehrenamtlichen zum billigen Jakob von Kirche und Sozialstaat geworden sind. Eltern reisen mit auf Klassenfahrten oder streichen die Klassenräume ihrer Kinder, Ehrenamtliche übernehmen den Kaffeeservice im Altenzentrum oder die Rezeption. Und es mutet schon tatsächlich merkwürdig an, wenn im Kontext der Einführung des Mindestlohns immer wieder betont wurde, dass die 8,50 Euro nicht für Ehrenamtliche gelten. Aber es gibt diese Grauzone zwischen dem klassischen Ehrenamt und prekären Beschäftigungsverhältnissen – mit Übungsleiterpauschale, Bürgerarbeit und Minijobs. Es gibt die Langzeitarbeitslosen, die den Bundesfreiwilligendienst für sich entdeckt haben, und die Rentnerinnen, die ihre ehrenamtliche Aufgabe als Zusatzjob verstehen. Menschen, die es sich nicht leisten können, nur für Ehre und Anerkennung zu arbeiten. Studien, die in den Blick nehmen, aus welchen Schichten und Milieus die Engagierten kommen, zeigen: Auch im Ehrenamt gilt das Matthäusprinzip. Wer hat, kann weitergeben. Wer aber wenig an Bestätigung und Beziehungen mitbekommen hat, der findet oft den Einstieg nicht. Ich wünsche mir von Herzen, dass Kirchengemeinden mit ihrem Sozialkapital dazu beitragen, das Beteiligungsgefälle in unserer Gesellschaft aufzulösen.
Dass alle zum Leib Christi gehören sollen, Reiche wie Arme, Menschen mit und ohne Behinderung, Juden wie Griechen, Männer wie Frauen – das gehört zu den tiefsten christlichen Überzeugungen. Deshalb ist es eine Glaubensfrage, wenn Herkunft zum Ausschluss führt, wenn Menschen sich einsam und elend fühlen, wenn Beziehungen zerbrechen. Das allerdings war für die Kirche der neuzeitlichen Diakonie ebenso wenig selbstverständlich wie für uns. Damals ist es gelungen, den roten Faden wieder zu finden, der mitten in den Umbrüchen Orientierung gab. Sie erinnern sich an den antiken Mythos von Ariadne im Labyrinth. Sie kannte das Design nicht und hatte Angst, ihren Weg nicht zu finden. Ohne den roten Faden, an dem sie gehalten war, wäre sie dem Ungeheuer, dem Minotharus ausgeliefert gewesen. Die großen Erzählungen unseres Glaubens sind so ein roter Faden, der uns hilft, unsere Lebensgeschichte zu verstehen. Auch die Bindung an eine Gemeinschaft kann ein solcher Haltepunkt sein – Halt genug, um sich zu verankern und ohne Furcht zu entdecken, wie das Design unserer Welt sich wieder einmal verändert.
Dabei weiß ich wohl: die Zeit der großen Erzählungen ist vorbei; und auch Roseto ist nur noch ein Traum. Für viele sind auch vom christlichen Glauben nicht mehr übrig geblieben als einzelne Bilder und Gesten – so wie das Bild von den Werken der Barmherzigkeit und von den namenlosen Heiligen, die sie tun in Ihrer Kirche. Aber ich bin überzeugt: das genügt. Das Kind von Bethlehem, das nur knapp den Schergen des Herodes entgeht, erzählt die ganze Jesusgeschichte. Als kürzlich ein deutscher Familienvater aus Brandenburg ein Segelboot für die Flüchtlingsrettung im Mittelmeer umbaute und in der Sonntagsabendtalkshow von Günther Jauch mit einer Schweigeminute für sein Vorhaben warb, hielt die Mediengemeinde für einen Moment den Atem an. Endlich einmal wurde das „Reden über“ unterbrochen; es ging, wie Dietrich Bonhoeffer gesagt hätte, ums Beten und das Tun des Gerechten. Und zwar in Jetzt-Zeit. Ob dieser neue Noah in irgendeiner Weise von den Bildern und Geschichten des Glaubens inspiriert war, weiß ich nicht, aber ich bin sicher, dass er seine Berufung spürt. Und dass für ihn die Flüchtlingsfrage zu einer Glaubensfrage geworden ist.
5. Freundschaft gegen die Vereisung
Soziales Handeln ist Beziehungshandeln. Ob in der Pflege oder der Stadtteilarbeit, in einer Flüchtlingsinitiative oder bei der Frühförderung in einer Familie, ja auch und vielleicht gerade in der Sterbebegleitung: immer geht es darum, eine tragfähige Beziehung zwischen Hilfebedürftigen und Helfern zu erhalten oder aufzubauen, die Compliance zwischen Ärztinnen und Patienten, eine Partnerschaft in der Erziehung herzustellen. Gesundheit lässt sich nicht einkaufen wie ein Medikament, Erziehung nicht überstülpen, eine Therapie hängt von der Bereitschaft der Betroffenen ab, sich mit sich selbst auseinander zu setzen. Zielerreichung und erfolgreiche Arbeit basieren auf einer gelungenen Kooperation. Mit dem jungen Menschen, dessen Familie überfordert ist, mit der chronisch Kranken, die ihren Alltag leben will, mit einem Sterbenden, der auch die letzten Wochen sinnvoll gestalten möchte. Mit Johannes, mit Frau Boch, wie es in Ihrer Kampagne heißt. Denn unser Selbstbewusstsein und unsere Würde verbinden sich mit der Erfahrung, eine eigene Lebensperspektive zu entwickeln, auf die eigene Gesundheit zu achten, uns so gut es geht, selbst zu versorgen. Wir wollen Bindungen aufbauen und gestalten, zu Menschen und zu Dingen – lieben, trauern, Dankbarkeit und Zorn empfinden. Wir brauchen das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Wir wollen teilhaben und zum Ganzen beitragen.
Und tatsächlich stehen die meisten Menschen in einem sichtbaren oder auch unsichtbaren Netzwerk, nicht nur virtuell, sondern auch lebensgeschichtlich. Da sind Angehörige und Familiengeschichten, Nachbarn und Mitbewohner, Kumpels und Kollegen, – Menschen, die zum Guten wie zum Schlechten an unserem Ringen um Lebensqualität beteiligt sind. Wie wichtig es ist, die Gemeinschaft, aus der ein Mensch kommt, im Blick zu haben, negative Einflüsse wahrzunehmen, fördernde Kräfte zu stärken, jedenfalls die Beziehungen nicht einfach abzubrechen, sondern einzubeziehen und zu ergänzen, das hat die soziale Arbeit in vielen Arbeitsfeldern durchdekliniert: in der Adoptions- und Pflegekinderarbeit, in der Hospizarbeit, in der ambulanten Suchtkrankenhilfe, der Betriebs-Sozialarbeit und in allem Bemühen um ein gutes Versorgungsnetz im Stadtteil. Damit das gelingt ist mehr nötig als Fachwissen und gutes Management. Es geht um eine Haltung, die dem anderen auf Augenhöhe und mit Respekt begegnet, Ressourcen entdeckt, Begabungen fördert. Es geht darum, auch Brüche und Konflikte auszuhalten, Schmerzen wahrzunehmen und zur Versöhnung beizutragen.
„Wir brauchen Freunde und Freundinnen, eine Kultur der Freundschaft. Freundschaft begründet sich in dem Wissen, dass wir wohl immer mehr empfangen, als wir zu geben in der Lage sind.“[5], schreibt Andreas Heller. Die Sorge füreinander kann uns helfen, reicher, lebendiger und sinnvoller zu leben – Resonanz zu erfahren. Freundschaft geht über die berufliche Arbeit hinaus – sie lässt sich nicht bezahlen, nicht organisieren und professionalisieren.“ Ein guter Freund ist jemand, der einen an einen selbst erinnert, wenn man sich aus den Augen verloren hat“, schreibt Ariane von Schirach in ihrem Buch „Du sollst nicht funktionieren“: „Dieser Blick ist unersetzlich, vor allem, weil es manchmal leichter ist, sich selbst zu täuschen als einen Menschen, der einem nahe steht. Eine Zeit, die diese soziale Energie auf die Fragen nach Nützlichkeit oder sexueller Attraktivität beziehungsweise Verfügbarkeit reduziert, ist nicht nur widerwärtig, sondern beraubt die ihr unbedacht Folgenden auch aller Erfahrungen von Fürsorge, Loyalität und Großzügigkeit“[6]. Natürlich sind eine achtsame Haltung und die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen, über alles Expertenwissen und Handwerk hinaus Teil der Professionalität in sozialen, Gesundheits- und Bildungsberufen – zugleich aber kommen diese Fähigkeit gerade da an ihre Grenzen, wo diese Branchen denselben Beschleunigungs- und Ökonomisierungsmechanismen unterliegen wie andere auch. Professionalisierung dagegen bedeute immer auch Vereisung, wie Heller sagt. Wenn die Spannung zwischen Haupt- und Ehrenamt in den sozialen Organisationen und auch in der Kirche zugenommen hat, dann liegt das nicht nur an knapper werdenden Ressourcen, sondern daran, das Haupt- und Ehrenamtliche sich das gleiche wünschen: Menschen zu begleiten, ihre Gaben einzubringen. Unter dem wachsenden Zeit- und Finanzdruck brauchen sie einander mehr denn je – zugleich aber wollen sich die einen nicht auf ihre Professionalität und Funktion reduzieren lassen und die anderen fühlen sich unterschätzt, wenn man ihnen ihre Kompetenzen abspricht. Bei knapper werdenden finanziellen Ressourcen möchten die einen nicht nur managen, die anderen nicht nur umsetzen und ausführen. Beiden geht es um mehr: um Sinnerfahrung und um Gemeinschaft.
6. Circle of support – Gemeinschaften als tragfähige Netze
Soziale Dienste sind wie die Kirchen Agenturen für Sinnfragen in den Umbruchszeiten des Lebens. Ihr professionelles Wissen, ihre Dienstleistungsangebote, die Erfahrung von Mitarbeitenden und Teams, die regelmäßigen Diskurse über Menschenbilder, soziale Veränderungsprozesse und Werte machen sie für Politik und Gesellschaft wie für die Einzelnen zu gefragten Partnern, wenn es darum geht, in Krisen- und Belastungssituationen und in Umbrüchen Orientierung zu finden. Dazu braucht es allerdings mehr als eine gute Marktbeobachtung im Management und Fachleute, die am Puls der Zeit sind. Notwendig sind Menschen, die mit allen Sinnen wahrnehmen, wo neue Notlagen auftauchen, die mit Betroffenen und ihren Angehörigen zusammenarbeiten und in den Quartieren zu Hause sind. Männer und Frauen, die die offenen Fragen, die diffusen Nöte auch wirklich an sich heran kommen lassen und aushalten, dass sie noch nicht für alles ein Angebot haben. Oft sind es Ehrenamtliche, die solche Detektoren für soziale Notlagen sind, aber auch Angehörige und Betroffene und natürlich engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Entscheidend ist deshalb die Frage, welchen Einfluss sie mit ihrer Kritik und ihren Ideen bekommen.
„Führung macht den Unterschied“, ist der Titel einer Studie von Heike Lubatsch vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD über Arbeitsbedingungen in der Pflege im Krankenhaus. Knapp 2000 Fragebögen wurden in diakonischen Krankenhäusern in Niedersachsen versandt, etwa ein Drittel kam zurück und konnte ausgewertet werden. Hinzu kamen 500 Fragebögen in den neuen Bundesländern sowie als Vergleichsgröße knapp 300 in städtischen Häusern. Heike Lubatschs Studie fragte nach Arbeitszufriedenheit und Sinnerleben im Beruf. Angesichts hoher Burnoutgefährdung in der Pflege, erforschte sie auch Religiosität als eine Kraftquelle. Es wird niemanden überraschen, dass sich knapp die Hälfte der Befragten mit Entlohnung und Anerkennung ihrer Leistung unzufrieden zeigten, dass 80 Prozent über Zeitdruck klagten – während umgekehrt an erster Stelle der Zufriedenheit die vielfältigen Aufgaben und vor allem die sozialen Beziehungen zu den Kollegen standen. Für immerhin 69 Prozent der Befragten hatte das Team diese hohe Bedeutung. An erster Stelle das Wohl der Patientinnen und Patienten, aber gleich danach ein gutes Team, eine sinnstiftende Tradition und schließlich die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung – in dieser Reihenfolge – sind nach wie vor hohe Werte. Die Studie von Lubatsch zeigt, wie unterschiedlich diese Kraftquellen sein können – sie reichen von Naturerfahrungen bis zu Zeiten der Stille, vom Yoga oder Joggen bis zu Teamtagen und der Erfahrung, einmal ohne Druck an einem Sterbebett sitzen zu können. Es kann darum gehen, den Alltagsrhythmus und den festgesetzten Rahmen zu verlassen – aber auch, ganz dicht hineinzugehen in die Brennpunkte.
Nicht zufällig ist der Bestseller mit den „Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bedauern“, das Buch einer Krankenschwester.[7] Tatsächlich ist ja da, wo es um Sterben und Abschied nehmen geht, oft mehr Zeit, Beziehungen aufzubauen und Zuwendung zu geben als auf einer normalen Station – Zeit, sich auch mit der eigenen Sterblichkeit, dem eigenen Lebenssinn – und der Erfahrungen von Sinnlosigkeit auseinander zu setzen. Darum erstaunt es nicht, dass viele genau hier ihre Berufung finden. Wer sich engagiert, einen sozialen Beruf ergreift, ist in der Regel bereit, dahin zu gehen, wo etwas auseinander bricht, wo Fragen aufbrechen. Dahin, wo es blutet und schmerzt. Wo geschrien, geschlagen und geweint wird. Kurz: an die Kreuze dieser Welt, an die Bruchstellen der Gesellschaft. Manche tun das aus Solidarität. Andere aus der Hoffnung des Glaubens, dass Gott auch und gerade in der Gottverlassenheit ist. Wo unterschiedliche Motivationen, Werte, Überzeugungen offen zur Sprache kommen können, muss auch Spiritualität kein Tabu bleiben – auch nicht in einer weitgehend säkularisierten und religiös vielfältigen Mitarbeiterschaft.
Niemand sollte Angst vor diesem Einblick in seine Privatsphäre haben müssen, niemand die Sorge, dass damit noch die letzten Motivationsressourcen ausgebeutet werden. Das war aber die Sorge mancher Mitarbeitervertretungen, die es ablehnten, sich an der SI-Studie zu beteiligen. Für mich noch einmal ein deutliches Signal für den erheblichen Druck, der auch in diakonischen Unternehmen herrschen kann – die eisige Seite der Professionalisierung, ja, auch eines Glaubens, der in den Kleidern stecken geblieben ist. Es braucht Vertraute, Freunde und Kollegen, um Stand zu halten in einer Zeit, in der der Wind des Wandels alte Ordnungen und Strukturen auflöst und neue Spannungen und Widersprüche offen zu Tage treten lässt. Ein Miteinander auch über Unterschiede hinweg. Und die Ermutigung, eigene Erfahrungen und Fragen. beim Namen zu nennen. Führung kann dafür einen Rahmen schaffen. Gemeinschaft wird auf Augenhöhe gebaut.
Das ist in Unternehmen so – und auch in Kommunen und Stadtteilen. Die wachsenden sozialen Unterschiede zwischen Erwerbstätigen und Hilfebeziehern, zwischen Bildungsgewinner und Bildungsverlierern sind eine der größten Herausforderungen für die Kommunen, die ähnlich wie soziale Unternehmen unter erheblichem Kostendruck leiden. Wie Menschen aus Armut, Benachteiligung und Isolation herausfinden, ist eine der Schlüsselfrage, die weit über die Organisation einzelner Dienstleistungen hinausgeht. Vom Modul zur Behandlungskette, vom Fall zum Feld, von der Konkurrenz zur Kooperation heißt die Richtung. Es geht um eine Quartierskomponente in allen Prozessen der sozialen Sicherungssysteme und um die Integration von stationären, teilstationären und ambulanten Angeboten. Schon Wichern hatte die Vision eines Stadtteils mit Schule und Krankenhaus, mit Bildungsangeboten und Treffpunkten. Und noch immer sind Kirche und Diakonie gefragt, wenn es darum geht, Teilhabe im Stadtteil zu organisieren.
Christen wären besonders stark darin, kleine Netze zu knüpfen, Heimat zu schaffen und Benachteiligte einzubinden, konnte man vor einiger Zeit im britischen „Guardian“ lesen. Der Redakteur hatte das Sozialkapital, das die Kirchen für die Gesellschaft bereitstellen, sogar umgerechnet in Pfund. Und er kam zu dem Schluss, dass diese Leistung in Deutschland anerkannt würde – mit der Kirchensteuer nämlich. Ich fürchte, wir sind uns nicht bewusst dass die Kirchensteuer auch dazu dient – Netze im Stadtteil zu knüpfen und Menschen Heimat zu bieten? Gemeinden seien Agenturen für Gemeinschaft, schreibt Rosemarie Henel, die als AWO-Mitarbeiterin mit einer Kirchengemeinde zusammenarbeitet, wenn es um Inklusion geht. Sie seien ein „Circle of support“. Kirche hat Begegnungsräume fast in jedem Wohnquartier – oft sind es die letzten öffentlichen Orte. Sie zu öffnen, damit viele sich einbringen können, ist ein wesentlicher Schritt. Wo wir sie nicht mehr brauchen und nicht mehr tragen können, kann es richtig sein, einen Verein mit anderen zu gründen, wie es bei Kirche findet Stadt hier und da geschehen ist. Wir müssen nicht mehr immer Gastgeber sein – wir können, um im Bild zu bleiben, auch als Servicekräfte mithelfen, damit das Leben gelingt.
Was also ist unsere Berufung? Ja, es gibt auch eine gemeinsame Berufung – nicht nur eine persönliche. Denn wir sind ja hineingestellt in Familien und Organisationen, haben uns hineinrufen lassen in eine Gemeinschaft. Gastgeber, Dienstleister, Gemeinschaftsagenturen – das ist und war die Rolle der diakonischen Gemeinschaften. Zwischen Engagement und Beruf – zwischen Dienstleistungszentren und Gemeinden haben sie schon immer Brücken geschlagen. Sie leben Gemeinschaft, um Gemeinschaft zu stiften. Halfen anderen, ihre Gaben zu heben und stellten sich in den Krisen den eigenen Sinnfragen. Die Seele des Sozialen liegt in diesem Dreieck – zwischen Helfern und Hilfebedürftigen wird Sinn erfahren, gestiftet, Menschsein erlebt und erlernt. Da geschieht Menschwerdung, da geschieht Gott. Zwischen Christus, meinem Nächsten und mir selbst entsteht eine Hilfebeziehung – und dabei kann jeder der unter die Räuber gefallene sein und jeder der Retter. Es ist eine einfache Geschichte, die Geschichte vom Barmherzigen Samariter. Aber in ihrer unendlichen Auslegungsvielfalt bleibt sie zugleich die große Erzählung der Diakonie- grenzüberschreitend, irritierend, offen in ihren Rollenwechseln, wenn der Christus uns in dem Hilfebedürftigen wie im Samariter begegnet. Sie ist vielleicht der rote Faden, der auch heute hilft, die Augen offen zu halten für Inspiration und eine Kette der Hilfe zu entwickeln – mit unseren Kontakten, mit unserem Geld. Ich wünsche Ihnen, dass Sie einander darin unterstützen.
Denn „die besten Momente haben alle eines gemeinsam“, schreibt Ariadne von Schirach: „Wir verbringen sie nicht alleine, sondern mit anderen Menschen.“ So wie heute.
Cornelia Coenen-Marx, Rummelsberg 2015