Aufbruch als Geschenk, Chance und Herausforderung: zu Hes. 36, 26

1 Und du, Menschenkind, weissage den Bergen Israels und sprich: Hört des HERRN Wort, ihr Berge Israels! Weil man euch allenthalben verwüstet und vertilgt und ihr zum Besitz der übrig gebliebenen Völker geworden und übel ins Gerede der Leute gekommen seid, 4 darum hört, ihr Berge Israels, das Wort Gottes des HERRN! So spricht Gott der HERR zu den Bergen und Hügeln, zu den Bächen und Tälern, zu den öden Trümmern und verlassenen Städten, die den übrig gebliebenen Völkern ringsumher zum Raub und Spott geworden sind, – 5 darum, so spricht Gott der HERR: Ich hebe meine Hand auf zum Schwur: ihr Berge Israels sollt wieder grünen und eure Frucht bringen meinem Volk Israel, denn bald sollen sie heimkehren. 9 Denn siehe, ich will mich wieder zu euch kehren und euch mein Angesicht zuwenden, dass ihr angebaut und besät werdet. 10 Und ich will viele Menschen auf euch wohnen lassen, das ganze Haus Israel insgesamt, und die Städte sollen wieder bewohnt und die Trümmer aufgebaut werden. (Hes. 36, 1, 4 und5, 9 und 10)

 

Teil I Der hessische Löwe

Im Magazin der Süddeutschen Zeitung fand ich kürzlich eine Ansicht des unzerstörten Aleppo – aus Pappe, von einem Flüchtlingsjungen nachgebaut. Aus Wüste wird fruchtbares Land. Aus verlassenen Regionen werden wieder lebendige Städte. Was dem Volk Israel hier versprochen wird, das würde sich ganz sicher mancher Syrer wünschen. Oder die Jesidinnen und Jesiden aus dem Irak. Die Vorstellung, einmal wieder nach Hause zurück zu kommen – das Land wieder aufzubauen, bleibt im Augenblick ein Traum.

Stattdessen leben noch immer viele in Flüchtlingsheimen und Übergangswohnungen. Und die deutschen Städte bleiben ihnen fremd, manchmal sogar feindlich. Die erste Offenheit und Begeisterung der Willkommenskultur ist abgeflaut. Wie kann es gelingen, ein freundliches Land zu gestalten, ein gutes Miteinander? Ende letzten Jahres habe ich an einer Diskussion über das hessische Integrationsgesetz teilgenommen. Und ich war positiv überrascht, wieviel gute Ideen, Geld und Kraft die dortige Landesregierung einsetzt, um Zuziehende zu integrieren und denen, die schon lange hier leben, die Angst zu nehmen. Dabei geht es nicht nur um neue Lehrer und zusätzliche Kita-Plätze, es geht auch um Wohnungsbauprogramme und die Förderung des Ehrenamts.

Da haben Menschen zusammen gesessen, die nicht nur einen klaren Blick für die notwendigen Integrationsanstrengungen haben, sondern auch für die liegen gebliebenen politischen Aufgaben. Herausgekommen ist ein kluges und differenziertes Konzept. Aber letztlich wird es darauf ankommen, dass die Stimmung sich dreht, oder jedenfalls nicht kippt. Dass die Bürgerinnen und Bürger Vertrauen in die Zukunft und auch in ihre Institutionen haben und dass sie weiterhin bereit sind, sich zu engagieren. Kurz: politische Programme sind wichtig – aber entscheidend ist, die Herzen zu bewegen. Deswegen wird überlegt, eine Kampagne mit dem Hessischen Löwen zu starten: der „Löwe im Herzen“. Stark und mutig soll Hessen in die Zukunft gehen. Naja, ob ich einen Löwen im Herzen haben will, weiß ich nicht so genau – aber ein lebendiges Herz, das wünsche ich mir auch.

Natürlich ging es auch darum, was die Kirche zum Mentalitätswandel beitragen kann. Schließlich sollte in der Kirche ja die Erinnerung an die Zeit wach sein, als unsere eigenen Städte verwüstet waren. Als wir in Trümmern spielten. Wie der Prophet in Israel haben auch damals viele wohl verstanden, dass ein Zusammenhang mit den 12 Jahren vorher bestand. „Weil man Euch allenthalben verwüstet und vertilgt und Ihr ins Gerede der Leute gekommen seid“, heißt es im Text.

Was kann die Kirche zum Wandel beitragen? Der Theologe Ernst Lange hat sich in den 60er und 70er Jahren, zuletzt als Leiter der Studienabteilung der EKD mit diesen Fragen beschäftigt. Er hat Befragungen der Kirchenmitglieder durchführen lassen und Reformprojekten analysiert. Veränderungen könnten nur stattfinden, wenn Interessen und Konflikte transparent und tabufrei benannt werden, sagt Lange. Alles muss auf den Tisch – gerade deshalb, weil gesellschaftliche Konflikte oft Macht- und Herrschaftskonflikte zwischen Ungleichen sind. Der Weg zur Versöhnung führt deshalb oft genug nur „über Krise, Polarisierung und Konfrontation“. Ernst Lange spricht mit Paolo Freire von Exorzismus. Wer den Bann brechen will, wer die Verdammten erlösen will, muss das Böse beim Namen nennen. Ich denke an den Antijudaismus der Kirche, der mitverantwortlich war für den menschenmörderischen Antisemitismus. Oder an den mangelnden Schutz, den unsere Kirche im Dritten Reich Menschen mit Behinderung gegeben haben. Veränderung ist nur möglich, wenn wir die eigene Verantwortung wahrnehmen. Eine selbstkritische Kirche versteckt ihre Konflikte nicht und geht ehrlich mit der eigenen Geschichte um. Genau daraus erwächst Kraft.

Unzählige Christinnen und Christen haben das in den letzten beiden Jahren gezeigt. Mit den unzähligen Initiativen für Flüchtlinge haben die Kirchen bewiesen, dass sie eine wichtige gesellschaftliche Plattform sind. Dabei bringt das Engagement in Patenschaften, Kleiderkammern, Deutschkursen den Ehrenamtlichen meist selbst eine große Bereicherung. Menschen, die sich in Gruppen engagieren, entwickeln ein überdurchschnittlich hohes Vertrauen, eine positive Grundeinstellung anderen – auch Fremden gegenüber. Und das Gefühl, gebraucht zu werden, macht auch die stark, die sich sonst selbst als Hilfeempfänger erleben – Menschen mit Behinderung zum Beispiel oder „Kunden“ der Tafeln. Es ist dieses aktive, gelebte Mit-Einander und Für-Andere, das Kirche ausmacht. Der Einsatz und auch die Fürbitten für andere, aber auch gemeinsame Feste bestätigen eine Zusammengehörigkeit, die Grenzen überschreitet – Milieugrenzen, Sprachgrenzen, auch kulturelle.

Leider wirken manche Gemeinden immer noch wie eine geschlossene Gesellschaft. Man kennt sich, kommt aus ähnlichen Milieus, fühlt sich wohl im Miteinander, als sei die Kirche ein Verein. Das hat auch mit der Trennung zwischen Kirche und Diakonie zu tun.[1] Angebote für Alleinerziehende, für Pflegebedürftige und pflegende Angehörige oder Menschen mit Behinderungen gibt es bei der Diakonie, Tageseinrichtungen für Kinder und Seniorenclubs in der Kirche. Wir müssen sehr konkret darüber nachdenken, wie wir dieses Schubladendenken überwinden. Wie unsere Nachbarschaften und Arbeitsplätze, unsere Gemeinden und sozialen Dienste sich ändern können, um Teilhabe zu fördern. In einer Welt, in der das Unterwegssein für viele zur Selbstverständlichkeit geworden ist, wo aber auch Egoismus und Einsamkeit herrschen, fühlen sich viele wie Fremde.

„Wenn ich einen Traum von der Kirche habe, so ist es der Traum von den offenen Türen gerade für die Fremden, die anders sprechen, essen, riechen“, schreibt Dorothee Sölle. „Mein Haus wünsche ich mir nicht als eine für andere unbetretbare Festung, sondern mit vielen Türen. Heimat, die wir nur für uns selbst besitzen, macht uns eng und muffig. Jeder Gast bringt etwas mit ins Haus, das wir selbst nicht haben. Heimat und Exil gehören zusammen, weil wir ganz zu Hause auch im schönsten Haus nicht sind.“[2]

In Hannover, Berlin und an anderen Orten wurden offene Kirchen zu „Häusern der Religionen“[3], zu Orten des Dialogs mit Angehörigen anderer Kulturen. Das neue Interesse an Religion ist eine große Chance, gemeinsam zu diskutieren, auf welche Weise Traditionen, Kulturen, Werte aus den jeweiligen heiligen Texten abgeleitet werden können. Aber nicht nur Kirchen, auch Familienzentren, Schulen oder diakonische Einrichtungen können und müssen Orte eines bewussten interreligiösen Dialogs werden. In Diakonie und Caritas haben wir uns lange auf Fachlichkeit und Wirtschaftlichkeit konzentriert und über Religion, Ethik und Spiritualität oft geschwiegen. Aber die Herausforderungen vor denen wir stehen, brauchen mehr als ausgeklügelte Konzepte und auskömmlichen Finanzierungen. Wir brauchen Menschen, die bereit sind, sich auf andere einzulassen und ihr Herz zu öffnen.

Kennen Sie das Märchen vom Froschkönig noch? Die Geschichte von der Prinzessin, die den Frosch wider Willen von ihrem Tellerchen essen und in ihrem Bettchen schlafen lässt, weil sie es versprochen hat und die ihn schließlich mit Karacho gegen die Wand schleudert? „Als er aber herabfiel, war er kein Frosch, sondern ein Königssohn mit schönen und freundlichen Augen. Der war nun nach ihres Vaters Willen ihr lieber Geselle und Gemahl. Da erzählte er ihr, er wäre von einer bösen Hexe verwünscht worden, und niemand hätte ihn aus dem Brunnen erlösen können als sie allein, und morgen wollten sie zusammen in sein Reich gehen. Dann schliefen sie ein, und am andern Morgen, als die Sonne sie aufweckte, kam ein Wagen herangefahren, mit acht weißen Pferden bespannt, die hatten weiße Straußfedern auf dem Kopf und gingen in goldenen Ketten, und hinten stand der Diener des jungen Königs, das war der treue Heinrich. Der hatte sich so betrübt, als sein Herr war in einen Frosch verwandelt worden, dass er drei eiserne Bande hatte um sein Herz legen lassen, damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge. Und als sie ein Stück Wegs gefahren waren, hörte der Königssohn, dass es hinter ihm krachte, als wäre etwas zerbrochen. Da drehte er sich um und rief: „Heinrich, der Wagen bricht!“

„Nein, Herr, der Wagen nicht,

Es ist ein Band von meinem Herzen,

Das da lag in großen Schmerzen“.

Noch einmal und noch einmal krachte es auf dem Weg, und der Königssohn meinte immer, der Wagen bräche, und es waren doch nur die Bande, die vom Herzen des treuen Heinrich absprangen, weil sein Herr erlöst und glücklich war.

Einander mit freundlichen Augen anschauen. Einander von Verwünschungen befreien. Und endlich frei atmen können. Was für schöne Bilder das alte Märchen für das Glück findet, wie treffend es das Unglück beschreibt. Eiserne Ringe ums Herz – aus Stress und Kurzatmigkeit, aus Angst und Abwehr. Ekel vor der Welt – als ob alle nur etwas von einem wollen – von meinem Tellerchen essen, in meinem Bettchen schlafen. Wer Angst hat, wer sich fremd und unerwünscht fühlt, verkriecht sich sicherheitshalber in einem Panzer. Die Bibel nennt das Herzenshärte – und es fühlt sich nicht gut an. Unglücklich, unerlöst. Aber Gott verspricht seinem Volk ein neues, ein schlagendes Herz zu geben, ein Herz aus Fleisch. Gebrochene Herzen sollen heilen, verzagte getröstet werden, unruhige Ruhe finden. Mehr als tausendmal finden sich solche Sätze in der Bibel. Und auch die Jahreslosung für 2017 enthält diese große Verheißung. Sie ist ein Zitat des Propheten Hesekiel: „Ich schenke Euch ein neues Herz und lege meinen neuen Geist in Euch“, sagt Gott. Normalerweise wird dieser Text übrigens zu Pfingsten gepredigt. Denn es geht nicht nur um den Einzelnen, der ein neues Herz bekommen soll – es geht um unser Miteinander, um das ganze Volk Gottes.

 

Teil II Du musst Dein Leben ändern.

Vor zwei Wochen bekam meine Schwester einen Herzschrittmacher. Sie ist 53 – eigentlich zu jung dafür. Inzwischen sind wir froh, dass alles gut gegangen ist. Es ist bedrohlich, wenn das alte, vertraute Herz nicht mehr so selbstverständlich schlägt. Wie froh wir waren, als die OP gut überstanden war: neue Sicherheit, neues Leben. In einem solchen Augenblick ist alles gut: jedes Essen schmeckt, das Wasser tut unendlich gut und nichts ist schöner, als mit anderen sprechen zu können.

Milton Erikson war achtzehn, als er an Kinderlähmung erkrankte. Die Krankheit traf ihn so hart, dass er ins Koma fiel und erst nach einigen Tagen gelähmt erwachte. Weil er ein guter Sportler war, schaffte er es, wieder auf die Beine zu kommen. Er unternahm sogar gegen den Rat der Ärzte eine Kanutour auf dem Mississippi. Aber Jahre später kehrte die Krankheit zurück. Noch einmal brachte er die Energie auf, sie zu besiegen. Beim dritten Mal blieb er auf den Rollstuhl angewiesen. Aber da war Milton Erikson schon ein weltweit anerkannter Therapeut. Denn in den Jahren der Krankheit hatte er seine Begabung entdeckt und entwickelt: Er konnte sich besonders gut in andere einfühlen. Er konnte zuhören, beobachten und die Gedankenwelt anderer wahrnehmen. Er hatte Bilder und Worte für das, was anderen Menschen zu schaffen machte. Das Fremde, das Unfassbare. Und so konnte er auch selbst seinen Patientinnen und Patienten helfen, die Kräfte zu entdecken, die einen in Identitätskrisen tragen und zu einem neuen Leben führen. Ihm war es wichtig, nicht nur auf die Grenzen zu schauen, sondern auch auf die Möglichkeiten, die wir haben. Dass wir die Augen offen halten für das Licht, uns selbst öffnen für die Lebenskraft. Der Therapeut im Rollstuhl hatte die Kraft, anderen auf die Beine zu helfen. Die Krisen, durch die er selbst gegangen ist, haben ihn zum Meister des Lebens gemacht.

„Aus der Angst findet man nur durch die Angst“, heißt es in einem fernöstlichen Koan. Ein Paradox, das wir kaum denken können.

Auch die hebräische Bibel erzählt eine solche Geschichte: Jakob, der Stammvater Israels, muss nach einem großen Streit mit dem Bruder sein Elternhaus und seine Heimat verlassen (Gen 25 ff.). Aber der Onkel, zu dem er flüchtet, betrügt ihn – genauso wie er selbst seinen Bruder betrogen hat. Was er erlebt, hat er sich selbst zuzuschreiben: Auf die Frau, die er liebt, muss er lange warten, er heiratet zunächst eine andere. Auch beruflich muss er immer wieder von vorne anfangen, um weiter zu kommen. Aber in allem, was er erlebt, hält er sich daran fest, dass ihn der Vater gesegnet hat – auch wenn er selbst diesen Segen erschlichen hatte. Er erinnert sich an eine Traumnacht auf der Flucht, in der er den Himmel offen sah. Das Bild der Himmelsleiter (Gen 28) mit den Engeln, die zu ihm unterwegs sind, bleibt die Vision, die ihn trägt. Am Ende hat er tatsächlich Erfolg; er ist ein reicher Mann geworden und kehrt mit seinen Herden und seiner großen Familie nach Hause zurück. Dann aber, auf dem Weg, sozusagen auf der „Schwelle“ in die Heimat, am Fluss Jabbok, kommt die Nacht, in der er alle Kämpfe seines Lebens noch einmal kämpfen muss (Gen 32). Da ist es, als ob die Himmelsleiter bricht. Er spürt, wie er den Boden unter den Füßen verliert – er steht auf Treibsand mitten im Fluss. Angst überfällt ihn, Gott verschwindet in den dunklen Schatten. Ringt er mit dem Schicksal oder mit sich selbst, ringt er mit Gott? Wer kann das in solchen Augenblicken unterscheiden? Am nächsten Morgen, als die Sonne aufgeht, ist er gezeichnet. Er hinkt. Aber geschlagen ist er nicht; er fühlt sich spürbar gesegnet. Es ist diese Krisenerfahrung, die ihm Versöhnung und einen Neuanfang ermöglicht. Mit seinem Bruder und mit sich selbst. In dieser Nacht bekommt Jakob einen neuen Namen. Er heißt jetzt Israel und wird damit der Stammvater des Volkes Gottes. Und das Volk wird noch viele Male durch solche Krisen gehen – auch der Prophet Ezechiel erzählt davon.

Äußere und innere Wege sind nicht selten zwei Seiten derselben Medaille. Sei es, wie bei Milton Erikson, dass gerade eine Krankheit oder Behinderung die Begabungen hervorlockt, die am Ende auch zum beruflichen Erfolg führen. Oder sei es, wie bei Jakob, dass eine körperliche Einschränkung der Preis eines äußeren Erfolgs ist. „Die Bewältigung von Krisen geschieht nicht, indem man wieder ‚ganz der Alte‘ wird“, sagt der Analytiker Michael Mary. „Sie geschieht, indem man einen neuen Namen annimmt.“[4] Aus Irrwegen und Schicksalsschlägen kann neue Kraft erwachsen; die Schuld, die wir auf uns laden, die inneren Kämpfe, die wir erleben, können unsere Wahrnehmung schärfen und uns eine neue Identität, neue Lebendigkeit schenken.

 

Seit einigen Jahren hängt an meinem Schlüsselbund das Markenzeichen des Calvin College in Michigan. Da ist eine ausgestreckte Hand mit einem Herzen zu sehen – darum der Wahlspruch des Genfer Reformators Johannes Calvin: „Cor meum tibi offero domine, prompte et sincere“ – ich schenke Dir mein Herz Gott, ernsthaft und sofort. Tausche Angst gegen Lebendigkeit. Und riskiere den absoluten Neuanfang. Ja, ich lasse mich ein auf diesen Prozess.

In Krisen und Lebensübergängen, in persönlichen Veränderungsprozessen können die alten Gespenster noch einmal richtig munter werden. Dann ist es notwendig, sich die alten Geschichten noch einmal in Erinnerung zu rufen und anzusehen, was uns noch immer blockiert mit Bitterkeit oder einer versteckten Wut. Brigitte Hieronimus schreibt in ihrem Buch „Mut zum Lebenswandel“, das diese alten Gefühle uns dabei helfen wollen, unsere biographischen Erfahrungen sinnvoll zu nutzen. Situationen und Menschen, die uns schwierige Erfahrungen in Erinnerung rufen, nennt sie deshalb „Entwicklungshelfer“, weil sie dazu beitragen, das Blockierte in uns wieder wahrzunehmen. In diesem Sinne ist auch der Unbegreifliche, mit dem Jakob ringt, ein Entwicklungshelfer. „Sie wollen uns keine Angst einjagen; vielmehr wollen sie endlich in Rente gehen“. Vor allem im Älterwerden kommt es darauf an, uns zu versöhnen mit alten Widersachern, uns auszusöhnen auch mit den Ecken und Kanten des eigenen Lebens. Und dann: sich neu zu öffnen. Neue Lernprozesse stehen an, die uns letztlich helfen, Gottes Gegenwart in allen Dingen zu spüren. Vergeben lernen, sich aussöhnen, die Dinge nun noch einmal aus der Perspektive der anderen sehen. Man kann das als eine Art psychischen Hausputz begreifen.

Das Besondere daran: es geschieht eher mit uns, als dass wir es selbst tun müssten. Es kommt darauf an, es zuzulassen – auch wenn dieser Prozess nicht einfach ist. Wir müssen uns stellen, loslassen und uns öffnen – es kommt darauf an, Gott an uns handeln zu lassen. Uns von Gott beschenken zu lassen. Viermal, eigentlich fünfmal heißt es in unserem Text, dass Gott die Initiative ergreift: „Ich will“:

24 Denn ich will euch aus den Heiden herausholen und euch aus allen Ländern sammeln und wieder in euer Land bringen,

25 und ich will reines Wasser über euch sprengen, dass ihr rein werdet; von all eurer Unreinheit und von allen euren Götzen will ich euch reinigen.

26 Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben.

27 Und will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun.

 

III „Herz und Herz vereint zusammen“: Gemeinschaft

Gottes Handeln zielt auf die Welt: „Die Heiden sollen erfahren, dass ich der Herr bin, spricht Gott der Herr, wenn ich vor ihren Augen an euch zeige, dass ich heilig bin.“ (V6) Gott verleiht seinen Geist, damit die Kirche Ausstrahlungskraft bekommt. Ein neues Herz, das Löwenherz, ein Herz aus Fleisch statt aus Stein und einen neuen Geist sollen wir in den Leib bekommen. Und diese Operation ist von Gott aus nicht mit Risiken verbunden. Das einzige Risiko sind wir selbst, wenn wir dieses neue, fleischerne Herz, das Gott uns geben will, abstoßen, wenn wir ihm keinen Raum geben wollen in unserem Leben.

Dabei ist dieses Herz aus Fleisch pulsierend und voller Leben und geht mit dem Leben im eigenen Leib und außerhalb liebevoll um. Es kann vor Freude hüpfen, wie Paul Gerhardt singt: „mein Herze geht in Sprüngen und kann nicht traurig sein…“ und es drängt auf Gemeinschaft mit anderen, wie Zinzendorf dichtet: „Herz und Herz vereint zusammen sucht in Gottes Herzen Ruh.“

Aber es steht nicht so gut um das Miteinander im Land – nicht einmal in der Diakonie. Vor kurzem erzählten mir einige Pflegedienstleitungen vom Trend zu selbständigen Pflegefachkräften. Auf dem leer gefegten Markt bestimmen sie die Rahmenbedingungen ihres Einsatzes weit gehen selbst: sie kommen, wenn Personalmangel auf Station ist, aber sie machen keinen Nachtdienst, oder arbeiten nicht am Wochenende oder nur, wenn die Kinder in der Schule sind. Der Rest muss von den fest Angestellten aufgefangen werden. Und wieder einmal wird mir klar, wie wenig selbstverständlich es ist, wenn der Dienst in einer Klinik oder einer Pflegeeinrichtung funktioniert – wenn Menschen bereit sind, sich für andere einzusetzen, sich mit anderen abzustimmen, Beruf und Familie irgendwie unter einen Hut zu kriegen. Nichts davon ist selbstverständlich; alles hängt davon ab, dass Lebensenergie fließt, auch wenn wir sie nicht sehen.

„Lasset Eure Liebesflammen lodern auf den Heiland zu“, dichtet Zinzendorf in seinem Lied. In meiner diakonischen Arbeit ist es mir oft so vorgekommen, als sei da nur noch Asche – nur mehr eine Erinnerung an diese starke diakonische Tradition. „Unter der Asche ein heimliches Feuer“ heißt ein Buch der amerikanischen Benediktinerin Joan Chittister, das vor mehr als 15 Jahren erschien. Die heute 80-jährige Joan Chittister ist Mitglied eines Benediktinerinnen – Konvents in Pennsylvania, in den sie als ganz junges Mädchen eintrat. Zwölf Jahre war sie dessen Priorin, eine starke, inspirierende und mutige Frau. 2001 erhielt sie den Thomas Merton Award für Frieden und soziale Gerechtigkeit, 2007 den Hans-Küng-Preis, 2008 trat sie in Seattle mit dem Dalai Lama auf. Es war aber Chittisters Forderung nach Frauenordination in der römisch-katholischen Kirche, die ihrer Bekanntheit noch einmal einen Schub gegeben hat – sie geriet darüber in Konflikt mit dem Vatikan, wie übrigens größere Teile des Reformflügels der amerikanischen Katholiken. Joan Chittister kann begeistern – und sie steht zu ihren Einsichten. So ist das nun mal, wenn man für eine Sache brennt.

Joan Chittisters Buchtitel – „Unter der Asche ein heimliches Feuer“ – hat mich vor vielen Jahren angeregt, mich zu fragen, was das für eine Energie ist, die Menschen dazu bringt, sich für andere einzusetzen. Ich war damals Leiterin der Kaiserswerther Diakonie, des ersten Diakonissenmutterhauses. Dort, am Ursprungsort der neuzeitlichen Pflegegeschichte, waren die Keller voller Akten aus vielen Jahrzehnten Pflegearbeit – während die Diakonissengeschichte in der alten Form unweigerlich zu Ende ging. Das ließ mich fragen, was es für eine Energie ist, die Menschen miteinander verbindet – die unsere Herzen füreinander schlagen lässt.

Selbständige Pflegekräfte sind für mich der konsequente Endpunkt der Entwicklung von der Institution zur Individualisierung, von der Gemeinschaftsdiakonie zum Gesundheitsmarkt. Pflegende bieten ihre Dienstleistung auf dem Gesundheitsmarkt an wie jeder andere Anbieter auch. Und weil sie im Vergleich zu Ärzten oder IT-Kräften viel zu wenig verdienen, sorgen sie vernünftiger weise für ein gutes Zeitmanagement und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Allerdings lässt sich ein Krankenhaus so nicht managen – hier greift eins ins andere und alles hängt an einer guten Abstimmung zwischen den verschiedenen Diensten und Berufsgruppen. Die Organisationen leben von der Bereitschaft, sich einzufügen – gerade das war in den Schwesternschaften über viele Jahrzehnte Voraussetzung. Industrie und IT-Unternehmen setzen heute in weit höherem Maße auf Eigenständigkeit und Selbststeuerung – vielleicht müssen wir also auch in den alten Anstalten, in Schulen und Krankenhäusern umdenken? Aber Patienten „durchzuschleusen“ oder Pflegebedürftige in Modulen zu versorgen wie man Autos am Fließband fertigt, ist kein Weg – das ahnen wir längst. Heilung kann ohne Zusammenarbeit nicht gelingen – Zusammenarbeit mit dem Patienten und auch untereinander.

Taugt die Tradition der Gemeinschaftsdiakonie für neue Visionen? Machen wir uns nichts vor – manche würden entschieden den Kopf schütteln. Denn zur Tradition der Schwesternschaften gehörten eben auch der Anpassungsdruck, die Gehorsamstradition und das Zurückdrängen von Individualität. Zudem waren die Gründer wie Fliedner oder Zimmer davon überzeugt, dass gerade Frauen nicht allein ihren Mann stehen könnten – sie wären schon von ihrer Konstitution her auf Familie und Gemeinschaft angewiesen. Als ich vorhin gesagt habe, die selbständigen Pflegekräfte seien der Endpunkt einer Entwicklung, habe ich daran gedacht, wie lange die Kirche gegen die Unabhängigkeit des Pflegeberufs gekämpft hat und wie mühsam die Fortschritte errungen wurden – von Theodor Fliedners Mutterhausdiakonie über Friedrich Zimmer, der den Schwestern nicht mehr nur Taschengeld, sondern durchaus ein Entgelt zahlte, bis zu den privaten Pflegediensten. Zugleich aber ist mir bewusst, wie wenig damit erreicht ist: Der Soziologe Heinz Bude spricht in seinem Buch „Gesellschaft der Angst“ sogar vom neuen Dienstleistungsproletariat – Hauswirtschafts- und Reinigungskräfte und auch Pflegende zählen für ihn dazu. Die Sorgeberufe leiden unter mangelnder Wertschätzung.

Aus dem diakonischen Dienst ist eine Dienstleistung geworden wie andere auch. Wir haben neue Freiheiten gewonnen und neue Unsicherheiten eingetauscht. Wir haben Autonomie gewonnen, aber vergessen manchmal, wie sehr wir auf andere angewiesen sind. Wir leben in einer Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft und müssen doch neu lernen, dass Gesundheit, Bildung, Veränderungsprozesse nicht konsumierbar sind, sondern unsere eigene Mitarbeit und Gestaltung brauchen.

Vielleicht haben die Ecksteine der neuzeitlichen Diakonie deshalb wieder Konjunktur: Engagement und Berufung, Spiritualität und Gemeinschaft sind wieder gefragt. Der Philosoph und Politikwissenschaftler Matthew Crawford, der mit den widersprüchlichen Anforderungen in dem Thinktank, in dem er arbeitete, nicht mehr zurecht kam, kündigte und eröffnete stattdessen eine Motorradwerkstatt. Ein Teil der Befriedigung liegt für ihn darin, dass er den Sinn seines Tuns in seinem Handeln findet. Aus seiner Sicht ist es entscheidend, dass Arbeit uns in einer Wertegemeinschaft verankert. Was ich tue, sagt er, ist Teil eine umfassenderen Bedeutungskreises – es dient einer Aktivität, die wir als Teil des guten Lebens betrachten. Dieses Bewusstsein, das gar nicht ausgesprochen werden muss, konstituiert die Gemeinschaft, in der wir arbeiten. Wir stehen in einer Art „tätigem Gespräch“ miteinander – und durch dieses Gespräch kann die Arbeit unser Leben zu einem in sich schlüssigen Ganzen machen.

Eine Zeit, die ihre soziale Energie nur aufs Geschäft und auf die Frage der Nützlichkeit reduziert, ist (…) widerwärtig“ und „sie beraubt die ihr unbedacht Folgenden aller Erfahrungen von Fürsorge, Loyalität und Großzügigkeit“, schreibt Ariadne von Schirach in ihrem Buch „Du sollst nicht funktionieren“. Aus dieser Erfahrung erwächst eine starke Gegenbewegung in der Zivilgesellschaft. Bürgerinnen und Bürger engagieren sich ganz bewusst für das Ganze. An ihrer Seite müssen die diakonischen Gemeinschaften ihren Platz finden. Gemeinsame Projekte, gemeinsames Kochen und Essen, Wohngemeinschaften und Mehrgenerationenhäuser – all das kann die Gemeinschaft stärken – es kann aber auch nach außen ausstrahlen.

Gemeinschaften halten die Berufung ihrer Mitglieder wach – mit Bildung, Ethik, Spiritualitätserfahrungen, Musik. Damit sind sie eine subversive Kraft – in Zeiten der Individualisierung können sie an Rituale und Traditionen erinnern, die Zusammenhalt stiften – und sie neu lebendig halten.

Was bedeutet das für Ihre Gemeinschaft? Wie äußert sich die Erneuerung, wo schlägt Ihr Herz?

26 Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben.

27 Und will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun.

Es geht um Gottes Heilungsprozesse, die an uns geschehen. Auch an Ihrer Gemeinschaft. Was sehen sie kritisch – was liegt schon längst in Trümmern, funktioniert nicht mehr? Was sind die Gespenster der Vergangenheit- und wo hat vielleicht etwas Neues begonnen?

Das Ziel dieses Prozesses ist klar: es geht nicht nur um uns oder unsere Gemeinschaften – es geht um andere: „Ich will solche Leute aus Euch machen, die meine Rechte halten und danach tun.“ – um Gottes willen.

Amen.

Cornelia Coenen-Marx, Bonn- FH-Diakonieschwesternschaft

 

[1] Vgl. dazu auch “Potenziale vor Ort“, das Gemeindebarometer des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, Hannover 2015
[2] Dorothee Sölle, Mutanfälle. Texte zum Umdenken, Hamburg 1994.
[3] Die Arbeit des „Hauses der Religionen“ in Hannover hat sich über viele Jahre entwickelt – mit Ausstellungen, Diskussionsveranstaltungen und inzwischen auch mit einer Internetpräsenz. In Berlin wird derzeit auf einem Kirchengrundstück das „house of one“ geplant.
[4] Michael Mary: Das Leben lässt fragen, wo die bleibst: Wer etwas ändern will, braucht ein Problem, 2007, S. 45