Laudatio auf die Frauen in der Diakonie – die alten und neuen Heiligen

Dem Herzen Platz schaffen

Erinnern Sie sich an den Froschkönig? Der hässliche grüne Frosch trägt am Anfang keine Krone. Als Königssohn entpuppt er sich erst, als die Prinzessin ihn mit voller Wucht gegen die Wand schleudert. Aber die kleinen grünen Frösche mit goldener Krone sind im Augenblick richtig beliebt – als Kerze, als Ring oder auch als Ohrring. Eine Verheißung für die, die einen realistischen Blick auf das Leben mit der Kraft zur Vision verbinden. Eine Ermutigung, die eigene Energie frei zu lassen. Im Märchen fängt alles damit an, dass der Frosch der Prinzessin ihr Spielzeug wiederbringt – die goldene Kugel, die ihr in den Brunnen gefallen war. Sie nimmt sie an – und wächst heraus aus der Spielzeugwelt. Dabei finde ich es interessant, daran zu erinnern, was die von den Brüdern Grimm weitergegebene Märchenfassung genau erzählt: Die Prinzessin hatte an dem Brunnen dem Frosch leichthin versprochen, er dürfe ihr „Geselle“ sein, und der König verlangt von seiner Tochter, ihr Versprechen zu halten. Als der Frosch nun nicht nur mit von ihrem goldenen Teller essen, sondern auch noch in ihrem Bett schlafen will, da wird sie, wie es heißt, „bitterböse“. Von einem Kuss aber, wie es oft kolportiert wird, ist hier keinesfalls die Rede. Vielmehr nimmt sie das eklige Tier und wirft es eben gegen die Wand. Das Märchen erzählt also von der Liebe und thematisiert, wie kompliziert es damit sein kann, dass es auch um Abgrenzung und Eigensinn geht, um Mut. Und dass damit Verwandlung möglich wird. Anpassung und Selbstüberwindung haben ihre Grenze im Gefühl für sich selbst. – Dann erst gibt es das Happy End: Der Königssohn und die Prinzessin fahren in der Hochzeitskutsche. Vorn auf dem Kutschbock sitzt der alte Diener Heinrich, der dem verwunschenen Prinzen treu geblieben war. Und jetzt kommt der Teil des Märchens, der weniger bekannt ist. Denn am Ende löst sich die Spannung: Drei Mal kracht es ganz laut. „Heinrich, der Wagen bricht“, ruft der Prinz voller Angst. Aber der Diener antwortet: „Nein, mein Herr, der Wagen nicht. Es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen …“.

„Ich weiß, was er meint“, schreibt Sabine Asgodom in ihrem Buch Lebe wild und unersättlich. „Ich spürte diese eisernen Bänder lange Zeit auch um mein Herz.“[1] Sie sei ein Kopfmensch gewesen und habe nicht wirklich vertrauen können. Oft genug habe sie sich selbst nicht gespürt, als stecke ihr Herz in einem Panzer. Stress, Kurzatmigkeit, Abwehr seien die Folge gewesen. Wer sich selbst nicht mehr spürt, der kann auch kaum Empathie für andere entwickeln. Und keine Ideen, keine Visionen. Nur wer mit dem Herzen sieht und dabei die eigenen Gefühle nicht wegschiebt, lässt sich berühren und bewegen, schwingt mit in den Höhen und Tiefen des Lebens. Eigentlich sehnen wir uns danach. Aber wer sich mit Leib und Seele auf das Leben einlässt, kann auch ausbrennen und verletzt werden. Deshalb verkriechen wir uns sicherheitshalber in einen Panzer oder wir fahren die Ellenbogen aus. Herzenshärte nennt die Bibel das. Aber Gott verspricht immer wieder, seinem Volk ein neues, ein schlagendes Herz zu geben, ein Herz aus Fleisch.[2] Gebrochene Herzen sollen heilen, verzagte getröstet werden, unruhige Ruhe finden. Mehr als tausendmal finden sich solche Sätze in der Bibel, und das sind keine leeren Versprechen. Immer wieder haben sich Menschen auf die Liebe eingelassen, sind Risiken eingegangen, haben Schmerzen nicht gescheut. Haben leidenschaftlich geliebt und gelebt. Oft waren es gerade die Frauen.

 

Von Liebe und Leidenschaft – die anderen Frauengeschichten

Erinnern Sie sich an Elisabeth, die Prinzessin aus Ungarn, die alle Konventionen sprengte und alle Regeln brach? Auch sie hatte ihren Traumprinzen gefunden: Ludwig, der sie über alles liebte. Nach der prunkvollen Hochzeit wich Elisabeth nicht von seiner Seite – saß neben ihm bei Tisch und begleitete ihn auf Reisen. Aber das Glück endete jäh. Elisabeth war noch keine zwanzig und mit dem dritten Kind schwanger, als Ludwig bei einem Kreuzzug starb. Sie versank in Verzweiflung, wollte nicht mehr weiterleben, jedenfalls nicht so weiterleben. Sie hasste das Leben am Fürstenhof, den Jahrmarkt der Eitelkeiten, die himmelweite Kluft zwischen dem Reichtum auf der Burg und der Armut unten in deren Schatten. In den letzten Jahren hatte sie manchen ihrer Pelze an einen Frierenden verschenkt. Manchmal hatte sie sich geweigert, erpresstes Gut zu essen, während die Armen hungerten. Einmal, als der Sommer fast keine Ernte brachte, hatte sie die Scheunen öffnen lassen, um die Hungrigen zu speisen. Jetzt aber will sie so nicht weitermachen, sie will die Mauern sprengen, die Oben und Unten trennen. Verzweifelt ist sie, aber auch leidenschaftlich – und so beginnt sie noch einmal ein neues Leben. Ihr eigenes Leben.

Niemand hält sie zurück, als sie sich vom Fürstenhof verabschiedet. Als sie alle Sicherheiten hinter sich lässt, alles, woran ihr Herz hängt – sogar ihre Kinder. In Marburg erfüllt sie sich einen Lebenstraum ganz anderer Art. Von ihrem Witwengut lässt sie ein Hospital bauen. Wie eine einfache Schwester lebt sie in Armut und pflegt die Kranken und Sterbenden. Eine Mutter Teresa ihrer Zeit, die Fürstin, die in Samt und Seide geboren ist, im wollenen Gewand. Die Tochter aus dem Königshaus auf den Spuren des Franz von Assisi. Sie hat alles gegeben, ihren Besitz, ihre Familie, ihre Liebe, ihre Energie – ohne jede Berührungsangst. Mit vierundzwanzig steckt Elisabeth sich mit Typhus an und stirbt nach wenigen Tagen im Fieber. Die Energie war verbraucht – aber was hatte sie bewegt! So viele Konventionen gesprengt, so viel Schmerz und Zerreißproben ertragen, so viel Liebe gelebt – leidenschaftlich, brennend vor Hingabe. Die ihr begegnet sind, haben erzählt, dass Menschen und Dinge sich in ihrer Nähe wandelten: Blinde lernten zu sehen, Eltern, die ihre Kinder verstoßen hatten, nahmen sie wieder an, aus dem Brot, das sie unter dem Mantel zu den Armen schmuggelte, sollen Rosen geworden sein, als jemand ihr misstrauisch den Mantel von den Schultern nahm. Ja, und in dem Leprakranken, den sie zur Pflege einmal in ihr Ehebett gelegt hatte, erkannte Ludwig Christus selbst. Elisabeth sah mit dem Herzen und lehrte andere, das Leben so wahrzunehmen. Mit einer Energie, die alle Riegel sprengte.

Elisabeth ist eine meiner Heiligen. Eigentlich haben wir als Protestantinnen doch gar keine Heiligen, werden Sie vielleicht jetzt sagen. Aber das stimmt nicht so ganz. Wer nämlich in eine diakonische Einrichtung kommt, wird schnell entdecken, wie viele Heilige es in der Diakonie gibt. Als ich als Vorsteherin nach Kaiserswerth kam, hing in meinem schönen alten Büro ein Bild von Friederike Fliedner. Und je mehr andere Einrichtungen ich besuchte, desto mehr dieser großen Gründerfrauen und Initiatorinnen habe ich kennengelernt: Amalie Sieveking und Elise Averdieck in Hamburg, Elisabeth Fry in England, Mathilda Wrede in Schweden und Finnland und Eva von Tiele-Winckler in Oberschlesien. Ida Arenhold in Hannover und Alice Salomon aus Berlin und natürlich Florence Nightingale, auch sie für eine Zeit in Kaiserswerth. Oder, heute, die Begründerin der Hospizbewegung Cicily Saunders aus London, die Gynäkologin Monika Hauser, Gründerin von Medica Mondiale, und Schwester Lea Ackermann, Gründerin und Vorsitzende von SOLWODI, einem Netzwerk, das sich um Zwangsprostituierte kümmert. Bekannte und unbekannte Namen. Krankenhäuser, Hospizdienste, Schulen und Altenhilfeeinrichtungen wurden nach ihnen benannt – und hinter den Namen verbergen sich mutige und unkonventionelle Lebenswege. Ich bin sicher, Sie werden selbst noch einige hinzufügen können. Namen aus Sachsen, Namen, die ich nicht kenne. Ich freue mich auf die Geschichten, die dahinter stehen.

Die moderne Krankenpflege, die Unterstützung kinderreicher Familien, der Kampf um die Rechte der Dienstmädchen, der Einsatz für Zwangsprostituierte, die Entwicklung der Hospizarbeit, die Sorge für Gefängnisinsassen – ohne diese Frauen wäre all das nicht denkbar gewesen. Dabei sind es – keineswegs nur, aber doch oft – Schwierigkeiten von Frauen und Familien, die sonst kaum beachtet wurden, für die diese Frauen einen Blick hatten. Mit ihrem Einsatz haben sie nicht nur persönlich Barmherzigkeit geübt – sie haben neue Wege für Frauen gebahnt, indem sie Organisationen gründeten, mit Politikern verhandelten und die nächste Töchtergeneration fit machten für diese wahrhaft neuen Frauenrollen. Dabei gingen und gehen ihre Netzwerke weit über die Kirche hinaus – seit dem 19. Jahrhundert sind die Diakonikerinnen Teil der wachsenden Zivilgesellschaft und der Frauenbewegung.

 

An die Grenzen gehen

Aber diese engagierten Frauen standen in einer Zerreißprobe. Wo sie sich vor allem um Kindererziehung, Fürsorge und Pflege kümmerten wie in der Diakonissenbewegung, schienen sie den konservativen Mainstream in Kirche und Bürgertum zu bestätigen – dass Frauen zu Liebe und Fürsorge geboren wären. Wenn sie dann aber in solchen Einrichtungen – in den Mutterhäusern und Rettungshäusern – auch Leitungsämter wahrnehmen oder gar eigene Dienste gründen wollten, fanden sie wenig Unterstützung – von Kirchenmännern nicht, aber auch nicht von der bürgerlichen Frauenbewegung. Die Lehrerinnen, Ärztinnen, Physikerinnen rückten die Eigenständigkeit und Freiheit der Frau in den Mittelpunkt, Ehe und Mutterschaft aber sahen sie zeitbedingt kritisch. Und waren nicht die Schwesternschaften eine Art Großfamilie mit den Oberinnen als Mutter? Die Frauenbewegung stand mitten in den Zerreißproben, das ist nicht neu, und so blieben Macht und Strukturen weitgehend Männersache – auch und gerade in den diakonischen Einrichtungen. Und wer sich die Leitungsstatistik ansieht, weiß: Das ist noch nicht vorbei. Damals sagte man übrigens „Liebesanstalten“ – und versuchte in diesem Wort zusammenzubinden, was doch unvereinbar schien: Männersachen und Frauensachen. Organisation und leidenschaftliches Engagement. Den Diakonikerinnen der ersten Stunde hat man Sentimentalität vorgeworfen, Naivität vielleicht auch – aber genau mit dieser Unmittelbarkeit und Unbedingtheit gingen sie mitten hinein in die Problemzonen der Gesellschaft, wagten das Ungewöhnliche und betraten Neuland.

So wie Florence Nightingale, die Lady mit der Lampe, die in den Lazaretten des Krimkriegs nachts an den Sterbebetten wachte. Eine Frau unter Soldaten. Wie sie sich mit Ärzten und Militärs auseinandersetzte, wie sie weit über ihre Kräfte hinaus die Verwundeten versorgte, die Verwaltung reformierte, Spenden einwarb und Briefe an die Angehörigen schrieb, das ist so unglaublich wie ihre ganze Lebensgeschichte. Die Diplomatentochter hatte schon früh davon geträumt, Kranke zu pflegen. Als Siebzehnjährige schlief sie mit dem Prospekt der Kaiserswerther Diakonissenanstalt unter dem Kopfkissen.[3] Heimlich und gegen den Willen ihrer Familie reiste sie schließlich zu den Fliedners nach Kaiserswerth, um dort eine Pflegeausbildung zu machen. Ihre Büste steht heute im Eingang des Florence-Nightingale-Krankenhauses dort. „Jetzt weiß ich, was es heißt, zu leben und das Leben zu lieben – und ich möchte mir keine andere Erde wünschen“, schrieb sie damals voller Begeisterung in ihr Tagebuch. Einsegnen ließ sie sich nicht – auch ohne kirchlichen Segen fühlte sie sich berufen. Als wenige Jahre später der Krimkrieg ausbrach, setzte sie alles daran, dorthin zu reisen, wo das Elend am größten war. Es gelang ihr tatsächlich, Fürsprecher, Geldgeber und Mitarbeiterinnen zu finden – vor allem aber Respekt und Anerkennung für ihre Leitungsaufgaben. Und trotzdem: Schon bald schlug ihre Begeisterung in Verzweiflung um. „Ich bin in einem Zustand chronischer Wut“, schrieb sie im März 1856 aus Scutari nach London: „Ich habe zugesehen, wie die Männer, die mit nichts weiter bedeckt waren als einer schmutzigen Decke und nichts weiter am Leib trugen als ihre Uniformhosen, in diesem schrecklichen Winter auf unnötigen Umwegen zu uns gebracht wurden – während wir doch wussten, dass die Vorratslager überquollen mit warmer Kleidung.“[4] Zu Tode erschöpft und mit ohnmächtiger Wut kam sie nach England zurück und verkroch sich in ihrer Wohnung.

Und dann ging sie zurück an die Arbeit. Und sie betrieb ihre Sache nicht nur mit Leidenschaft und Hingabe, sondern auch äußerst systematisch. Sie ließ Statistiken über die Volksgesundheit erstellen, entwarf Curricula für Pflege- und Hebammenschulen und schrieb Eingaben an die Regierung. Sie verfasste fachlich versierte Bücher über die Krankenpflege und den sinnvollen Aufbau von Krankenhäusern die weltberühmt wurden. Und wer noch daran gezweifelt hatte, der begriff jetzt: Dieses Licht, das die Lady mit der Lampe auszeichnete, kam nicht nur aus ihrem Herzen, sondern auch aus einem klugen Kopf und einem starken Willen. „Wenn du dich klein machst, hilft das der Welt nicht“, hat Marianne Williamson aus Südafrika hundert Jahre später geschrieben. „Wir sind geboren, um den Glanz Gottes zu offenbaren, der in uns ist. Wenn wir unser eigenes Licht scheinen lassen, geben wir anderen ebenfalls die Erlaubnis, ihr Licht scheinen zu lassen.“ Florence hat sich nicht klein gemacht – sie ist ihren eigenen Weg gegangen: Gegen den Willen ihrer Familie ging sie nach Kaiserswerth, sie erkämpfte sich ihre Ausbildung dort, sie entschied sich, auf die Krim zu gehen, und sie hatte auch keine Scheu, ihre Lehrer und Förderer zu kritisieren. Sie war mutig genug, sich über Konventionen hinwegzusetzen. Ob Kolonialpolitik oder Standesdünkel, Geschlechterrollen oder Kirchenhierarchien – für sie ging es immer nur darum, den Kranken zum Leben zu helfen. Diese Energie, ihre Freiheit und Unmittelbarkeit, die alle Riegel sprengte, hatte auch mit ihrem Glauben zu tun. „Wo werde ich Gott finden“, schrieb sie auf der Krim in ihr Tagebuch. Sie finde ihn „in mir selbst. Das ist die wahre Lehre der Mystik. Aber dann muss ich bereit sein, ihn aufzunehmen und ihm eine Wohnstatt zu bieten.“

 

Perfekte Frauen? Nein, Heilige.

Wie Elisabeth, Friederike und die anderen gehört auch Florence Nightingale zur Galerie meiner Glaubenszeuginnen. Und ich vermute, Sie könnten auch dazu gehören. Ich stelle mir vor, wie Sie sich einbringen – hauptamtlich oder auch ehrenamtlich. Vielleicht arbeiten Sie bei einer Tafel mit? Oder in einer Initiative für Flüchtlinge? Vielleicht sind Sie in der Pflege engagiert oder in einem Besuchsdienst? Sie engagieren sich in der Leitung einer Einrichtung, im Hospizdienst oder in einem Quartiersprojekt. Vielleicht haben Sie auch das Gefühl, dass die Spannungen in unserer Gesellschaft zunehmen und die Solidarität abnimmt. Von der Gesellschaft der Angst ist die Rede, der Ellenbogengesellschaft, vom Wolfsrudel. Und ich bin so dankbar, dass es Menschen gibt wie Sie, die etwas dagegen unternehmen. Mit ihren Händen, mit ihren Herzen, mit ihrem Kopf. Der Papst hatte das richtige Gefühl, als er das Jahr der Barmherzigkeit ausrief. Und Mutter Teresa heilig sprach. Haben Sie es bemerkt? Wie nebenbei habe ich Sie eben als Heilige bezeichnet!

Frauen, hatten wir festgestellt, sind streng unter Beobachtung, wenn sie etwas anpacken. Vor allem, wenn sie nach der Macht greifen und dabei Schwäche zeigen – man sieht das gerade an Hilary Clinton. Macht gilt noch immer als unweiblich, Männersache. Viele Frauen wollen sich daher auch nicht auf Leitungsämter einlassen, sind frustriert von den Konkurrenzkämpfen in größeren Institutionen oder Unternehmen, den oft autoritären Strukturen, von Intrigen und auch schlicht von der Tragweite, die Fehlentscheidungen haben können, wenn man sie nicht nur für sich selbst und den eigenen kleinen Kreis trifft. Die Philosophin Rebekka Reinhard hat eine Kleine Philosophie der Macht geschrieben – nur für Frauen. Darin setzt sie sich mit der Ohnmacht auseinander, sie empfiehlt, richtig wütend zu werden und den Nonkonformismus zu kultivieren. Ich denke, was das angeht, lässt sich einiges bei den Diakonikerinnen lernen. Letztlich geht es ihr darum, Macht und Moral zu verbinden.[5] Darum geht es auch in der Diakonie – noch immer. Zwischen den Leitungsorganen und den Mitarbeiterinnen, zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen. Zwischen denen, die eine Anstellung haben oder über politischen Einfluss verfügen, und denen, die einfach ihre Zeit und Energie geben, weil sie ein Problem angehen wollen. So oder so – „Wir sind alle keine Engel“, schreibt Rebekka Reinhard. „Keine von uns ist schlechthin gut, keine schlechthin ohnmächtig. Wir alle wollen respektiert, geliebt und gemocht werden. Wir alle wollen Macht.“ Es gibt eben keine Heiligen im Sinne von moralischer Vollkommenheit. Darum sollten wir das Feld nicht nur den Männern überlassen. Denn Macht hat ja eigentlich durchaus mit machen zu tun. Und wenn Macht also heißt, etwas zu verändern und zu gestalten, dann sollten wir genau das tun!

Ob das Gute eine Vision bleiben muss, können wir nur herausfinden, wenn wir versuchen, es zu realisieren. Dazu brauchen wir eine grenzüberschreitende, eine wilde Macht, die über die jeweiligen Ordnungsgrenzen hinaustreibt, sagt Rebekka Reinhard: Wir brauchen eine Macht, die sich weigert, sich einschränken zu lassen durch bestimmte Positionen, Rollen, Normen, Konventionen.[6] Die dem eigenen Gefühl folgt wie die Prinzessin. Und die gerade daraus die Fähigkeit nimmt, die anderen wahrzunehmen, Leiden zu sehen und Konflikte auszutragen. Die Liebe der Prinzessin kennt Dankbarkeit, Mitleid und Verzweiflung – vor allem aber Respekt. Das sind gute Grundlagen für ein ehrliches Miteinander. Was wir im Innersten brauchen, ist dieses lebendige Bezogensein, ein neues WIR in dem Spannungsfeld zwischen Vorständen und Mitarbeitenden, Männern und Frauen, Haupt- und Ehrenamtlichen, Frauen und Frauen. Vor allem aber: zwischen Ihnen als Diakonikerinnen und denen, die sich abgehängt fühlen, die Ermutigung brauchen.

„Denken Sie groß“, schreibt Rebekka Reinhard, folgen Sie Ihrer Leidenschaft, setzen Sie Dinge in Bewegung. Gründen Sie eine Initiative, starten Sie eine Kampagne. Lassen Sie Ihre Arbeit sichtbar werden, lassen Sie sie wachsen. Und lassen Sie sich dabei inspirieren und unterstützen von denen, die schon mal einen großen Weg gegangen sind, Ihre Heldinnen und Vorbilder, unsere Heiligen. Wenden Sie sich gemeinsam der Zukunft zu. Fünf Dinge möchte ich Ihnen heute weitergeben:

  1. Geben Sie Ihre Träume nicht auf: nehmen Sie Ihr Herz in die Hand. „Mein Herz ist schon da, und ich hoffe, dass ich eines Tages auch dort sein kann“, schrieb Florence in ihr Tagebuch. Damals ging es um Kaiserswerth. Sie hat Wege gefunden, zu erreichen, was sie wollte. Was immer Sie unter dem Kopfkissen haben – eine neue Idee, eine Fortbildung, eine Kampagne – geben Sie Ihren Traum nicht auf.
  2. Nehmen Sie die Wirklichkeit wahr, wie sie ist – und wenn Sie sie unerträglich finden, werfen Sie den Frosch an die Wand, wie es die Prinzessin getan hat. Verstecken Sie Ihre Wut und Trauer nicht. „Mit mir nicht“ zu sagen, ist nicht peinlich, sondern stark. Haben Sie Mut, Probleme anzusprechen. Wer den Reformstau auflösen will, muss Missstände benennen.
  3. Pflegen Sie Ihre Eigenständigkeit, auch wenn das den Rahmen sprengt: Wenn wir anderen zu ihrer Würde helfen wollen, ist unsere ganze Person gefragt. Unsere Professionalität, unser Eigensinn und die Freiheit, dem eigenen Gewissen zu folgen, wenn es ums Ganze geht. Unser Herz will schlagen und fühlen, was ist – auch wenn das den Rahmen sprengt.
  4. Pflegen Sie sich selbst und achten Sie auf Ihr inneres Licht: Wer sich begeistern lässt, kennt auch das Ausbrennen. Wer mit anderen an die Grenze geht, kommt auch selbst an den Punkt, wo er nicht weiter weiß. Manchmal führt unser Weg durch die Nacht und erhellt sich nur Schritt für Schritt. Dann brauchen wir Zeit für uns selbst, Zeit zum Gebet.
  5. Und vergessen Sie nicht: Sie sind nicht allein. Sie sind von Engeln umgehen – von Ihren Heiligen in der Geschichte und Ihren Freundinnen und Freunden in der Gegenwart. Also: Schauen Sie auf Ihre Bildergalerie und vor allem: Schauen Sie sich um. Jetzt und hier im Saal. Und dann knüpfen Sie die Netze, die Sie brauchen.

 

Cornelia Coenen-Marx, 29.9.16

[1] Sabine Asgondom, Lebe wild und unersättlich. Zehn Freiheiten für Frauen, die mehr vom Leben wollen, Köln 2007, S. ???.
[2] Beispielsweise Hes 11,19.
[3] Wolfgang Genschorek, Schwester Florence Nightingale, Leipzig 1920.
[4] Manfred Vasold, Florence Nightingale, Eine Frau im Kampf für die Menschlichkeit, Regensburg 2003.
[5] Rebekka Reinhard, Kleine Philosophie der Macht – nur für Frauen, München, 2. Aufl. 2015, S. 186 ff.
[6] Reinhard, a.a.O., S. 189.