Predigt zu Apg 6, 1-7 am Diakoniesonntag 2017
1 In den Tagen aber, da der Jünger viele wurden, erhob sich ein Murmeln unter den Griechen wider die Hebräer, darum daß ihre Witwen übersehen wurden in der täglichen Handreichung. 2 Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es taugt nicht, daß wir das Wort Gottes unterlassen und zu Tische dienen. 3 Darum, ihr lieben Brüder, sehet unter euch nach sieben Männern, die ein gut Gerücht haben und voll heiligen Geistes und Weisheit sind, welche wir bestellen mögen zu dieser Notdurft. 4 Wir aber wollen anhalten am Gebet und am Amt des Wortes.
5 Und die Rede gefiel der ganzen Menge wohl; und sie erwählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Judengenossen von Antiochien. 6 Diese stellten sie vor die Apostel und beteten und legten die Hände auf sie. 7 Und das Wort Gottes nahm zu, und die Zahl der Jünger ward sehr groß zu Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.
Liebe Schwestern und Brüder,
über keinen EKD-Text ist in den letzten Jahren so heftig gestritten worden wie über das so genannte Familienpapier. Was brauchen Familien und was ist überhaupt eine Familie? Welche Familienformen sind gesellschaftlich, sozialpolitisch und auch kirchlich anerkannt? Es ging um die sogenannten Regenbogenfamilien – also um Kinder in homosexuellen Lebensgemeinschaften. Um Ehegatten- und Familiensplitting, um Alleinerziehende und Patchwork-Familien und die Notwendigkeit von Ganztagsplätzen in Kindergärten und Schulen. Und letztlich um die Frage nach dem Leitbild: Gehören Ehe und Familie zusammen? Und besteht die heile Familie letztlich doch aus Vater – Mutter-Kind? Oder hat Heilsein mit der Form gar nichts zu tun?
Familie ist Streitpunkt und Sehnsuchtsort zugleich. Familie – das sind die Menschen, zu denen ich ganz selbstverständlich gehöre. Der Platz, wo mir geholfen wie – bei kleinen Alltagsproblemen und in schweren Krisen. Heimat in einer mobilen Gesellschaft. Ein glückliches Familienleben gehört zu den sehnlichsten Wünschen der allermeisten Menschen. Dabei wächst der Anteil von Singles. Denn gerade angesichts der Mobilität und der Zerreißproben, die wir heute erleben, ist es schwer geworden, Familie zu leben. Das hat mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu tun – aber auch mit unseren eigenen Ansprüchen an das Leben. Wir leben in einer Optionsgesellschaft, immer auf der Suche nach besseren Möglichkeiten. Auch unsere Freiheit, unsere Selbstbestimmung sind uns heilig.
Die Welt, in die der Predigttext uns heute führt, ist ganz anders. Die damaligen Familien waren keine Vater-Mutter-Kind-Familien; sie glichen eher den großen Clans der Migranten, die bei uns leben. Wo es keinen Sozialstaat gibt, sind Familien die einzige Lebensversicherung. Und dabei waren die Rollen sehr klar zugewiesen. Eine Frau, die nicht Mutter wurde; ein Sohn, der nicht für die alten Eltern sorgte – undenkbar! Man kann sich seiner Familie nicht einfach entziehen – das ist verrückt, pflichtvergessen, gefährlich. Und das ist der Stoff, aus dem der Streit in unserer Geschichte entsteht.
Es geht um die klassische Frage, wer dazu gehört und wer nicht. Wer zum Inner Circle gehört und wer draußen bleiben muss. Hier kehrt sich alles um; alles steht Kopf. Denn die Familie, die Jesus zurückholen will, die Familie, die ihn an seine Rolle erinnert, steht draußen vor der Tür. Drin sitzt Jesus mit einer Gruppe von Fremden. Was sind das für Leute, die sich um ihn versammelt haben? Ich denke, es sind die, bei denen er auch sonst einkehrt: Frauen wie Maria und Martha, Menschen mit Behinderungen, Arme und Verachtete. Menschen vom Rand der Gesellschaft, Leute, die von ihren Familien verlassen wurden. Die bezeichnet Jesus als seine Familie – seine Mutter, seine Brüder. Mit ihnen fühlt er sich mehr verbunden als mit den Verwandten draußen vor der Tür.
Die Art, wie hier innen und außen, Rand und Mitte neu definiert werden, erinnert mich an eine andere Szene – an den zwölfjährigen Jesus im Tempel. Auch da wird er von der Familie verzweifelt gesucht und zur Ordnung gerufen. Und macht dann klar, wo er wirklich zu Hause ist: bei seinem himmlischen Vater. Für mich schieben sich die beiden Szenen jetzt übereinander: Jesus im Tempel, Jesus bei den Einsamen und Verlassenen. Wie er da in der Mitte sitzt, ist er ganz zu Hause. Im Haus des Vaters. Die Freiheit, die da spürbar wird, diese Weite, ist offenbar für viele eine Provokation. Was ist Familie? Und wer gehört dazu?
In einem Tagebuch aus dem 19. Jahrhundert berichtet Adelheid Bandau von ihrer Einsegnung zur Diakonisse. Die neue Tracht und die Haube liegen bereit, man spürt die Aufregung vor dem großen Tag. Das Ganze erinnert ein wenig an eine Hochzeit – aber anders als bei einer Hochzeit, ist Adelheid nicht allein. Mit ihr wird eine ganze Gruppe von Probeschwestern ihr Versprechen abgeben. Ihnen fühlt sie sich verbunden, als wären es ihre Schwestern. „Es war, als ob wir unter einem Mutterherzen gelegen hätten“, schreibt sie schwärmerisch in ihr Tagebuch. Und tatsächlich versteht sich das Mutterhaus ja als Familie – eine Wahlfamilie mit Diakonissenmutter und Diakonissenvater, die jungen Frauen als Töchter. Aber auch hier ist die Beziehung zur Herkunftsfamilie zu klären. Wie sieht es mit Besuchen aus? Was ist, wenn Vater oder Mutter krank werden? Wer hat jetzt das Sagen?
Adelheid Bandau trat nach einigen Jahren aus und gründete selbst eine Familie – wie viele andere auch. Es war die Zeit, in der nur wenige Frauen sich ein Leben ohne Mann und Kinder vorstellen konnten. Und doch auch eine Welt, in der auch Frauen und Kinder arbeiten mussten. Alle träumten von der bürgerlichen Familie, aber die Kehrseite des wachsenden Wohlstands waren Armut, Wohnungsnot und überforderte Familien. Das war der Hintergrund für die Gründung der Mutterhäuser und Brüderhäuser. Sie waren nicht nur Wahlverwandtschaften für Schwestern und Brüder – sie wurden auch zur Familie für verwahrloste Kinder, für Kranke und Sterbende. Fliedner schickte Erzieherinnen und Pflegerinnen als Schwestern in die Gemeinden, während Johann Hinrich Wichern Pläne für ein neues Wohnquartier entwickelte, eine neue Nachbarschaft.
Heute sind wir wieder ganz nah an diesen Themen. Wieder wandelt sich die Gesellschaft rasant, Familien sind überfordert, man spricht von einem Drittel Abgehängter. Vor vier Jahren hat die Kommission für den Siebten Familienbericht darauf aufmerksam gemacht, dass uns bald wieder ein Care-Defizit droht, wenn es nicht gelingt, den absoluten Vorrang ökonomischen Denkens in Frage zu stellen. „Eine Zeit, die ihre soziale Energie nur aufs Geschäft und auf die Frage der Nützlichkeit reduziert, ist (…) widerwärtig“ schreibt auch Ariadne von Schirach. „Sie beraubt die ihr unbedacht Folgenden aller Erfahrungen von Fürsorge, Loyalität und Großzügigkeit“. Inzwischen sind „Caring Communities“, Sorgende Gemeinschaften zu einem neuen politischen Leitbegriff geworden. Kommunen, Kirchengemeinden, Schulen und Unternehmen sind gefragt, Verantwortungsstrukturen neu zu beleben. Die sorgenden Gemeinschaften von heute gleichen Wicherns „Netzwerken der brüderlichen Liebe“. Und heute wie damals ist eine gute Quartiersarbeit gefragt.
Wo die Kinder und Enkel weit weg wohnen, brauchen gerade ältere Menschen Freunde und Wahlfamilien. Die Kirche hat hier eine besondere Aufgabe. Denn eigentlich waren ja auch die ersten christlichen Gemeinden Wahlfamilien. Da kamen ganz unterschiedliche Menschen zusammen, die sich aus ihren Herkunftsfamilien gelöst hatten, weil sie dem neuen Glauben anhingen. Sie kümmerten sich umeinander, sorgten für die Kranken und Hilfebedürftigen, materiell und mit kleinen Diensten. Familie – das sind dann eben die Menschen, zu denen ich gehöre. Der Platz, wo mir geholfen wird wie – bei kleinen Alltagsproblemen und in schweren Krisen. Familie ist Heimat in einer mobilen Gesellschaft – damals wie heute. Seit dieser Geschichte mit Jesus wissen wir: die Form ist dabei nicht so entscheidend. Es geht um diesen Geist der Offenheit, der Großzügigkeit und der Fürsorge.
Es geht nicht darum die Herkunftsfamilie gegen die Wahlfamilie auszuspielen – oder umgekehrt die Blutsverwandtschaft gegen das Kloster – obwohl es das in der Kirchengeschichte immer wieder gegeben hat. Jesus selbst verbindet am Ende seines Lebens beide, wenn er seine Mutter dem Lieblingsjünger anvertraut. Unsere Geschichte klingt an, wenn es heißt es: „Siehe, das ist Dein Sohn, siehe, das ist Deine Mutter.“ Die liebevolle Fürsorge überspringt die engen Grenzen.
Auch die Grenzen unserer Gemeinden und Gemeinschaften. Beim Nachdenken ist mir aufgefallen, dass die Kirche die geschwisterlichen Gemeinschaften immer dann neu entdeckt hat, wenn Familien und Nachbarschaften sozial überfordert waren, wenn die Gesellschaft verrohte. Das war so im 19. Jahrhundert und es war so im Dritten Reich in der Bekennenden Kirche. „Die christliche Gemeinde ist eine Gemeinde von Brüdern“, heißt es in der Barmer Erklärung von 1934. Diese Geschwisterlichkeit hat die Widerstandskraft gestärkt. Wenn aber am Ende nur noch Amtsträger einander Bruder oder Schwester nennen, werden erneut enge Grenzen gezogen. Das ist genauso problematisch wie wenn aus der Schwester eine bloße Berufsbezeichnung wurde. Da wird die dann Geschwisterlichkeit mit Hierarchien und Ansprüchen verbunden. Was würde Jesus dazu sagen?
Der Gründer von Taize, Roger Schutz, sagt es folgendermaßen: “Wenn die Christen die sichtbare Gemeinschaft untereinander suchen, liegt darin kein Ziel an sich; es geht nicht darum, dass wir uns zusammen wohler fühlen oder gemeinsam stärker sind. Es geht darum, für alle Menschen ein Ort der Gemeinschaft zu sein, an dem sich auch der Nichtglaubende aufgehoben weiß und auf niemanden irgendein Zwang ausgeübt wird.“ Wenn ich das höre, steht mir Jesus wieder vor Augen: großzügig und frei, Amen.
Cornelia Coenen-Marx, Kassel, 10.9.17