Diakoninnen und Diakone in der Kirche der Zukunft

Engagement und Spiritualität

„Der Geist Gottes wirkt in den Fugen“, hat Ernst Lange gesagt, und ich sehe vor mir die Stelle, an der der Asphalt aufbricht und ein Löwenzahn ans Licht kommt…

 

1. Ein Fenster zur Welt

„Gehen Sie an einem festen Tag, zu einer festen Uhrzeit in ein Cafe und lesen dort ein Buch oder eine Zeitung. Wiederholen Sie dies jede Woche oder öfter, aber immer zu selben Zeit am selben Ort, schaffen Sie sich Ihr Ritual. Sie werden feststellen, dass sich etwas verändert. Das Wahrnehmen unserer Umgebung ist von ihrer Veränderung abhängig. Wenn wir also zur selben Zeit am selben Ort sind, entsteht ein anderer Blick auf uns selbst, das Umfeld, die eigene Bedeutung und die Mitmenschen und die Stadt, in der man lebt“. Diese Idee ist eine von vielen aus dem wunderbaren Bändchen „Von wegen nix zu machen“ von Franz Meurer, Jürgen Becker und Martin Stankowski. Franz Meurers Stadtteilarbeit in Köln Höhenberg-Vingst, gehört für mich zu den vorbildlichen und nachhaltigen Formen kirchlicher Gemeinwesenarbeit. Die Idee, sich regelmäßig in ein Cafe zu setzen, bis es zur Stammkneipe wird, und so die Wirklichkeit mit neuen Augen zu sehen, habe ich, ohne Franz Meurer zu kennen, vor inzwischen 25 Jahren im Wickrather Gemeindeladen umgesetzt. Wir hatten damals in der Tradition von Ernst Lange ein Ladenprojekt in der Fußgängerzone gegründet – einen offenen Diakonieladen mit Cafe und Kleiderkammer, mit Büchereiarbeit und Sozialberatung, mit Bildungsangeboten und Mutter-Kind-Gruppen. Professionell geleitet von einer Sozialpädagogin, begleitet von mehr als 25 freiwillig Engagierten. Der Laden, der gerade sein 25.jähriges Jubiläum gefeiert hat, war für mich ein Schlüssel für die Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie und die Chancen freiwilligen Engagement.

Als ich damals jeden Mittwoch Nachmittag an einem der kleinen Kaffeehaustische im Gemeindeladen saß und Gespräche führte, begegneten mir  Nöte in meiner eigenen Stadt, die ich vorher gar nicht wahrgenommen hatte: Arbeitslose kamen und erzählten von ihrer aussichtslosen Situation – und manche engagierten sich später im Ladenteam und fanden dort eine neue Aufgabe. Überforderte und verzweifelte pflegende Angehörige trafen sich in einer Gruppe. Alleinstehende Frauen erzählten von der Not, einen Freundeskreis zu finden. Und während ich dort mit Ihnen sprach, während wir im Team überlegten, welche Chancen wir hatten, leuchteten hinter so vielen Einzelschicksalen plötzlich gesellschaftliche Strukturen auf. Strukturen, die zumeist in Zahlen, Daten und Fakten dargestellt werden. Und das will ich nun auch tun.

 

2. In Zerreißproben – Kirche und Diakonie in den aktuellen Umbruchprozessen

Die soziale und die demographische Struktur unserer Gesellschaft sind im Umbruch. Die Veränderung von Familien und Geschlechterrollen, vor allem aber der demographische Wandel unsere Gesellschaft grundlegend verändern. Nicht zuletzt deshalb, weil sie mit einem erheblichen Schrumpfen der Bevölkerung einhergeht. Ohne Zuwanderung würde die Bevölkerungszahl Deutschlands bis 2050 auf 50,7 Millionen zurückgehen.

  • 1998 war jeder zweite Einwohner älter als 38. Dieses so genannte Medianalter nimmt bis 2050 auf Werte zwischen 45 (Fertilitätsrate 2,1) und 53 Jahren (Fertilitätsrate 1,4) zu. Das hat zwei Gründe.
  • Der medizinische Fortschritt schenkt uns allen ein längeres, gesünderes Leben  – im Schnitt zehn gesunde Jahre mehr.  In der Folge nimmt die Zahl der Hochbetagten (über 80-jährigen) exponentiell zu. Waren es 1998 noch 3,0 Millionen – so werden es 2050  mindestens zehn Millionen sein.
  • Zugleich aber nimmt der Anteil der unter 20-jährigen ab. Er betrug 1998 noch 21,6% und sinkt bis 2050 auf Werte zwischen 15. und 18 Prozent. Grund dafür ist die niedrige Geburtenrate, die in Deutschland bei 1,4 Kindern pro Frau liegt – einem der niedrigsten Werte im OECD –Vergleich. Manche sprechen in diesem Zusammenhang von einer Bevölkerungsimplosion, andere von einer Reproduktionskrise.

In einer wohlhabenden  Gesellschaft bedeutet verantwortete Elternschaft, in Bildung und Erziehung der Kinder viel zu investieren- an Geld, an Zeit, an Zuwendung. Die so genannten Opportunitätskosten der Elternschaft steigen. Dabei sind die Frauen in einer Schlüsselposition. Unser Sozialmodell hat über lange Zeit davon gelebt, dass Frauen auf berufliche Entfaltung verzichteten, und einen großen Teil der Sorgeaufgaben unentgeltlich übernahmen. Heute wollen und müssen Mütter wie Väter erwerbstätig sein. Wenn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht gegeben ist, wird häufig auf ein zweites Kind verzichtet,  Wenn es möglich sein soll, dass beide Eltern oder eben auch Alleinerziehende arbeiten- und angesichts des Schwindens der Erwerbsbevölkerung wird das auch sozial erwünscht sein, dann brauchen wir eine andere Infrastruktur in Bildung und Erziehung. Kirchengemeinden haben dabei eine wesentliche Rolle. Mit ihren Tageseinrichtungen und Familienzentren, mit Beratungseinrichtungen und Bildungsstätten können sie Impulsgeber werden für eine neue, familienfreundliche Infrastruktur.

Ähnliches gilt für die Pflege. Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland wird mit der Zahl der Hochaltrigen weiter wachsen. Man kann davon ausgehen, dass die Zahl der Leistungsempfänger in der Sozialen Pflegeversicherung zwischen 2000 und 2040 mindestens von 1,8 Mio. auf knapp 3 Mio steigt  um 61. %. steigt. Meinhard Miegel hat vor einigen Jahren vorgerechnet, dass sich der Anteil der Menschen, die in Gesundheits- und Pflegeberufen arbeiten, in den kommenden dreißig Jahren verdoppeln müsste. Das wird  durch einheimische Kräfte allein nicht zu gewährleisten sein. Aber nicht nur die quantitativen Anforderungen wachsen, auch die Beziehungsbedürftigkeit alter Menschen wächst. Schon heute leben mehr als 40 % der 70 bis 85 Jahre alten Menschen in Einpersonenhaushalten.[1] Das selbstverständliche Töchter-Schwiegertöchter-Pflegepotential schwindet. Trotzdem kann das Pflegesetting der Zukunft kann aber nicht nur professionell und institutionell gedacht werden – aus finanziellen Gründen nicht, aber auch nicht wegen des anstehenden Fachkräftemangels. Wir brauchen neue Modelle wohnortnaher, integrierter Versorgung pflegebedürftiger Menschen, eine neue Kooperation zwischen Pflegefachkräften, Angehörigen und Freiwilligen[2], eine alten- und behindertengerechte Wohninfrastruktur und gute haushaltsnahen Dienstleistungen..  Und die zeitweilige  Freistellung erwerbstätiger Männer und Frauen für Pflegeaufgaben in der Familie.

Der Wandel der Alternsgruppen und Lebensformen geht mit einer zunehmenden Spreizung der Einkommen einher, mit einer sozialen Spaltung zwischen Erwerbstätigen und Hilfebeziehern, der Trennung in Bildungsgewinner und Bildungsverlierer, den Parallelgesellschaften von, Migranten und Autochthone. Während die Anforderungen an Mobilität wachsen, nimmt zugleich die Bedeutung der Herkunft zu. Schichtzugehörigkeit und ethnisches Herkommen bestimmen in Deutschland den Bildungserfolg, die gesundheitliche Versorgung, den gesellschaftlichen Aufstieg, Gesundheit und Lebensdauer. 10 Jahre Lebenszeit trennen einen gut situierten Mittelschichtbürger im Schnitt von einem anderen aus prekären Lebensverhältnissen. Während die geographische Mobilität zugenommen hat, hat die soziale abgenommen. Längst können wir auf Karten verfolgen, wie die soziale Segmentierung sich ausweitet. Und was in den Städten selbst geschieht, hat ein bundesweites Pendant. Aufblühende Städte und Stadtteile – Leuchttürme des Urbanen- stehen neben verwüsteten Stadtlandschaften, in denen der öffentliche Raum verwahrlost und die öffentlichen Aufgaben drastisch reduziert werden müssen. Theater und Schwimmhallen geschlossen, Brunnen abgedreht

Haben wir schon begriffen, was es bedeutet, dass ein Drittel der Gemeindeglieder über 60 Jahre alt sind, dass mehr und mehr Frauen erwerbstätig sind, dass Erziehung und Engagement in Zukunft stärker in Ganztagseinrichtungen und Schulen stattfindet? Haben wir begriffen, dass Kirche eine der wenigen Generationenübergreifenden Organisationen ist, die Dienstleistungen anbieten, Öffentlichen Raum zur Verfügung stellen und Engagement binden kann? Die Gewichte zwischen Jugendarbeit und Arbeit mit Älteren, zwischen Formalisiertem und informellem Lernen werden sich deutlich verschieben!

 

3. Zugänge eröffnen, Teilhabe ermöglichen

Das Schwinden der Erwerbsbevölkerung und die Notwendigkeit, Frauen als Fachkräfte voll in den Arbeitsmarkt einzubeziehen, werden den Ausbau professioneller Care-Angebote in Erziehung, Bildung, Pflege, Betreuung unverzichtbar machen. Das bringt die Kommunen an den Rand ihrer Spielräume. Zugleich wächst der Finanzbedarf für Transfereinkommensbezieher in Hilfe zur Pflege, Sozialhilfe und Mindestrente.

Dieser Situation begegnen die Städte mit einem forcierten Wettbewerb und Privatisierung in Bereichen, die bis vor 20 Jahren noch öffentlich finanziert wurden: Infrastruktur, Verkehrssystem, Energie- und Wasserwirtschaft, Abfallbeseitigung und nun auch Gesundheits- und Sozialwirtschaft. Möglich wurde das durch die Öffnung der Freien Wohlfahrtspflege für private Träger und den Wegfall des Kostendeckungsprinzips Mitte der 90er Jahre. So kommt es auf dem neuen Sozialmarkt zu regionalen Budgets, Wohlfahrtsverbandsübergreifenden Konsortien und zu Partnerschaften mit Kommunen und Privaten. Die Schattenseite dieser Privatisierung ist eine weitere gravierende Veränderung: der Zugang öffentlichen Raum schwindet, die Dienste verändern sich zu Dienstleistungen.

Aber dieser Trend zur Professionalisierung hat personelle wie finanzielle Grenzen. Schon heute erleben wir einen Fachkräftemangel in Erziehung und Pflege, aber auch eine wachsende Zahl von Haushaltshilfen aus Osteuropa in Familien, die professionelle Pflege nicht bezahlen können. Und einem wachsenden Angebot differenzierter Dienstleistungen stehen abnehmende „ Kassenleistungen“ gegenüber. Auch in der Medizin entwickelt sich eine Zwei-Klassengesellschaft. Die Rede von Eigenverantwortung und Autonomie der Hilfesuchenden steht in Spannung zu der Tatsache, dass viele Menschen mit diesem Anspruch überfordert sind. Damit gerät auch  die Unternehmensentwicklung in der Diakonie mehr und mehr in Spannung zu ihrer anwaltschaftlichen Tradition.

Solidarität, Anwaltschaft und Leidenschaft aber sind nicht verschwunden- sie kehren wieder in den neuen sozialen Bewegungen in – und außerhalb der Kirche: in Tafelbewegung wie in der Hospizbewegung, bei den Angehörigen von Demenzerkrankten wie bei dem Bemühen um die Inklusion behinderter Menschen. Dabei spielen Ehrenamtliche, Angehörige und Selbsthilfegruppen eine entscheidende Rolle. Sie sind die Detektoren für neue sozialen Notlagen und Um-Brüche. Engagierte schließen quer zu den alten, konfessionell oder weltanschaulich geprägten Verbändestrukturen zusammen. Zum Teil von Sponsoren aus der Wirtschaft unterstützt, wie bei der Tafelbewegung, geben sie auch Kirche und freie Wohlfahrtspflege neue Anstöße. Aus Hilfeempfängern werden Gestalter des eigenen Lebens. Die Zukunft gehört deshalb einem neuen Mix aus Professionalität und bürgerschaftlichem Engagement, aus bezahlbaren Leistungen und sozialem Einsatz – im Sinne der aktiven Bürgergesellschaft. Längst sind .neue Modelle von Social Entrepreneurship am Markt.  Gründerpersönlichkeiten gelingt es, mit Spenden, Sponsoring und einem hohen Maß an Freiwilligkeit Innovationen entstehen zu lassen, die bis in die Wirtschaft hinein Ausstrahlung haben- ich denke zum Beispiel an die Dorfladenbewegung.

Viele dieser Projekte verankern sich wie der Wickrather Gemeindeladen im Quartier, wo Menschen ihre Kinder erziehen, ihre Eltern und Freunde pflegen, Initiativen entwickeln und füreinander einstehen. Quartiersarbeit spielt eine Rolle in der Altenhilfe , wo neue Modelle von Quartierspflege und integrativer Versorgung erprobt werden Sie spielt eine Rolle in der Familienzentren, in denen Erziehung, Bildung und Beratung zu neuen Angeboten gebündelt werden , und auch in der  Armutsbekämpfung im Projekt „soziale Stadt“. In all diesen Feldern sind Kirche und Diakonie gefragt – mit ihren Tageseinrichtungen und Pflegediensten, mit Mehrgenerationenhäusern, aber auch mit der Öffnung von Kirchen und Gemeindehäusern zum Wohnumfeld. .

Die Diakoniedenkschrift  der EKD von 1998 zum 150. Jubiläum der Inneren Mission hat dazu drei wesentliche Perspektiven entwickelt: Es geht darum, die Distanz zwischen Kirchengemeinden und Diakonischen Diensten zu überbrücken, die Kontakte zu zivilgesellschaftlichen Initiativen und außerkirchlichen Trägern zu verbessern und die Bedürfnisse wie die Kompetenzen von Betroffenen besser wahrzunehmen. Damit beschreibt die Denkschrift eine neue Definition von Subsidiarität im Sinne von „ Wichern III“ und leitet das Umdenken ein, das dringend gebraucht wird. Es geht um

  • die Überwindung der Zielgruppenorientierung und Versäulung, die vor allem in der Diakonie auch durch die Form der Refinanzierung festgelegt ist,
  • eine Sensibilität für die bestehenden Aktivitäten anderer Träger, ihre Stärken, gemeinsame Schnittstellen
  • und eine Haltung, die generalistisch, offen und lernbereit ist und sich des eigenen Profils bewusst ist.

 

4. Inklusion als Herausforderungen für die Gemeinde

Wohin die Kirche unterwegs ist, wie die Kirche von morgen aussieht, das hängt mit den beschriebenen gesellschaftlichen Trends zusammen- es ist aber entscheidend abhängig von unserem Kirchenbild. Wir streiten vermutlich weniger um die Analyse als um unsere Visionen – um Leuchtfeuer und Kompetenzzentren, um den Gemeinwesen- und Gesellschaftsbezug der Kirche. Aus meiner Sicht liegt unsere besondere Chance in der Überwindung der 175 Jahre alten Spaltung von Kirche und Diakonie. „ Angesichts der Nöte der Welt selbst zufrieden zu sein“, heißt es in einer Erklärung der Ökumenischen Versammlung von Uppsala 1968, das würde bedeuten, „ sich der Häresie schuldig zu machen“.

Die wachsende Zahl von Gemeinwesendiakonieprojekten in der EKD zeigt, wie attraktiv es ist, wenn Kirche und Diakonie sich neu vernetzen – für Familien, ältere Menschen, für Menschen mit Behinderung wie für sozial und ökonomisch Benachteiligte. Dabei hat die verfasste Kirche einen entscheidenden Vorteil  sie ist in der oft geschmähten Parochie auf den öffentlichen Raum und das Gemeinwesen bezogen.. Gemeinden bringen ein hohes Sozialkapital mit – an Kontakten, Netzwerken und Beziehungen. Fast an jedem Ort verfügen sie über Kirchen und Gemeindehäuser mit großen Möglichkeiten- auch für Vermietung und Kooperation mit Partnern im Gemeinwesen. Gemeinden gehören zu den wenigen Organisationen, die  damit öffentliche Orte zur Verfügung stellen können – offener noch als Schulen, intergenerationell, ohne Konsumerwartungen Kirchen bilden  symbolische Orte in der Stadt, sie haben die gemeinsame Geschichte mit geprägt oder sie haben Anteil daran. Und sie haben in der Regel einen großen Vertrauensvorschuss.

Von diesen Lebensräumen hat sich Diakonie weitgehend entkoppelt – zunächst die Professionalisierung, zuletzt die Vermarktlichung der letzten Jahrzehnte haben entscheidend dazu beigetragen. Dafür bringt sie größere Freiheitsspielräume, professionelle Dienstleistungen und oft mehr Unternehmensgeist ins Spiel – und manchmal eben auch die heilsame Distanz der nächsten Ebene und einen klaren Bezug zu sozialen und politischen Entwicklungen.  Wenn es gelingt, beides zusammen zu bringen – Lebensweltorientierung und Professionalität, Dienstleistung und Sozialraum,  Orientierung an denen, die in die Gemeinde kommen und denen, die in der Stadt auf das besondere Engagement der Kirche warten, kann Neues entstehen.

Die Steuerungsebene, um Gemeinde und Diakonie neu zu vernetzen, ist allerdings meist nicht die Gemeinde, sondern die mittlere Ebene – die Ebene der kreiskirchlichen oder städtischen Diakonischen Werke und der Fachbereiche diakonischer Unternehmen. Dort braucht es strategische Planung, um Beratungsstellen, Tageseinrichtungen, Familienbildungsstätten zu Familienzentren zu verschränken, oder ambulante Pflegedienste, Besuchsdienste, Arztpraxen zu Gesundheitsnetzen oder auch mit den Wohngruppen behinderter Menschen in der Gemeinde an einer inklusiven Gemeinde zu arbeiten. Zu dieser neuen Vernetzung gehört auch die Frage, wie Gemeinden mit Altenzentren und Krankenhäusern zusammen arbeiten können und wie Diakonie dem Freiwilligen Engagement in Einrichtungen und Diensten neuen Raum geben kann.  Freiwillige können die Brücke schlagen zwischen Professionalität und Lebenswelt.

Meine These: Eine diakonische Kirche verwirklicht sich als offene Gemeinschaft, die über die Grenzen von Geschlechtern und Altersgruppen, von Herkunft und Milieus hinaus geht und gerade auch die Leidenden und Benachteiligen einschließt. Denn jeder und jede hat das Recht auf Zugang zum Glauben, das Recht auf Gewissens- und Meinungsfreiheit, das Recht auf Integrität der Person, das Recht auf Gleichheit und Teilhabe. Inklusion, die zur Zeit in der Gesellschaft debattiert wird, kann sich auf die Kindersegnung und die Heilungen Jesu berufen, auf die Jerusalemer Urgemeinde und die grundlegenden Sätze des Paulus im Galaterbrief. Wenn jetzt der Aufruf zur Inklusion von außen kommt, dann haben wir einen Weckruf verschlafen.

 

5. Engagement und Spiritualität – über die innere Achse der Arbeit

Dis-embedding ist eine Schlüsselkategorie der Moderne. Der klar und verlässlich gezeichnete Rahmen, in dem Menschen über Jahrhunderte gelebt haben, hat sich aufgelöst – das gilt für Geschlechterrollen wie für Familienbilder, für Biographien wie für Berufswege. Und es gilt auch für die Beschreibung gesellschaftlicher Funktion; Aus der Wohlfahrtspflege ist die Sozialbranche geworden – zugleich entdecken sich behinderte und pflegebedürftige Menschen neu als Bürgerinnen und Bürger. Wir stecken mitten drin in Veränderungsprozessen.

Wir haben neue Freiheiten gewonnen und neue Unsicherheiten dagegen eingetauscht. Wir haben Autonomie gewonnen und vergessen manchmal, wie sehr wir angewiesen sind. Wir leben in einer Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft und müssen neu lernen, dass Gesundheit, Bildung, Veränderungsprozesse nicht konsumierbar sind, sondern unsere eigene Gestaltung brauchen- mit Engagement und Spiritualität.

Auch darum – und nicht nur aus Kostengründen- hat bürgerschaftliches Engagement Konjunktur. Es geht darum, die eigene Umwelt zu gestalten, am eigenen Platz Probleme anzugehen, für Gerechtigkeit einzutreten und sich damit selbst neu zu verankern. Die Förderung des sozialen Engagements und die Stärkung sozialer Bildungsprozesse standen deshalb an der Wiege der neuzeitlichen Diakonie. Diakonie ist eine Bildungsbewegung, in der sich Engagement und Spiritualität so verknüpfen, dass auch die Kirche sich weiter entwickelt und verändert.

Wenn es um die Überwindung einer falschen Trennung von Kirche und Diakonie geht, gehe ich deshalb gern an die Anfänge der neuzeitlichen Diakonie zurück und frage nach den damaligen Weichenstellungen wie nach den Gründen für das Scheitern mancher Bewegung.  Im Rückblick auf die Gründerjahre, die ebenfalls in eine gesellschaftliche Umbruchphase fielen, die zur Kirchenreform führte, lässt sich  formulieren, was den Kern der Arbeit im Diakonat ausmacht. Dazu gehören:

  • der Respekt vor dem Einzelnen und seiner voraussetzungslosen Würde, die Wertschätzung unwiederbringlichen Individualität, die Neugier auf die Gaben und Kompetenzen, die jeder einzubringen hat- das Zutrauen, das jeder und jede gebraucht wird und keiner marginalisisert werden darf.
  • eine Lebenswelt- und Angehörigenorientierung, bei der das Angewiesensein des Einzelnen auf andere genauso ernst genommen wird wie seine Freiheit und Autonomie
  • ein klarer Blick für gesellschaftliche Rahmenbedingungen und ethische Herausforderungen und die Bereitschaft, sich für gerechte Teilhabe und den Schutz des Lebens  einzusetzen
  • die Wertschätzung und Entwicklung von Gemeinschaft als Gastfreundschaft,  „Weggemeinschaft“ oder auch als Dienstgemeinschaft im Raum der Kirche,
  • ein bewusster Umgang mit Zeit und Raum,  – und den religiösen Traditionen, die darin verwurzelt sind:  Kirchenjahreszeiten und Schwellenzeiten im Leben des Einzelnen, Mahlzeiten und Feste,  Gastfreundlichkeit, Geburt und Taufe, Tod und Segnung,  Lebensbrüche und Neuanfänge.

Spiritualität ist eine entscheidende Dimension diakonischer Arbeit, die in der Gestaltung von Ritualen, Festen und Feiern, in Seelsorge und Sterbebegleitung erfahrbar wird. Dass diese Neuentdeckung inzwischen weit über den Raum der Kirche hinaus reicht, ja, dass Spiritualität als eine wesentliche Dimension der Palliativpflege auch von den Kassen festgeschrieben wurde, setzt kirchliche Einrichtungen einem ungewohnten Konkurrenzdruck aus: der eigene Mehrwert, das unverwechselbare Profil muss neu beschrieben, in vielen Fällen auch neu entwickelt werden.  Dabei wird Spiritualität auch gesundheitliche Ressource für die Mitarbeitenden entdeckt. Eine Untersuchung der Fachhochschule der Diakonie in Bethel , die derzeit zu diesem Thema stattfindet,[3] zeigt, dass Spiritualität eine wichtige Ressource in der Gratifikationskrise ist, die viele Mitarbeitende aufgrund des wachsenden Zeit- und Kostendrucks erleben – das aber  die entscheidende Kraftquelle der diakonischen Gemeinschaft , der Zusammenhalt im Team, durch Veränderungsdruck und Umstrukturierungen bedroht ist. Der Schlüssel zur Veränderung ist auch hier die Frage nach Beteiligung. Gelingende Beteiligungsprozesse allerdings zeigen die religiöse und kulturelle Vielfalt, die heute auch diakonische Unternehmen prägen. Dieser Umbruch, von vielen als Traditionsverlust beschrieben, ist auch eine Chance zur Erneuerung.

Christoph Müller hat vor kurzem in einem Artikel über „ Laientheologie“  deutlich gemacht, dass Theologie sich dadurch erneuert, dass sie eben nicht nur Theologentheologie ist. Sie bleibt angewiesen auf die Einsichten derjenigen Menschen, die als Christen aus ihrer Glaubens- und Welterfahrung schöpfen. Er schreibt: durch die Wahrnehmung von Ambivalenzen wie. Unabhängigkeit und Abhängigkeit, Trauer und Hoffnung, Wissen und Nicht-wissen werden eingespielte (auch christliche) Weltbilder, (schein-)eindeutige Überzeugungen, Machtverhältnisse und Beziehungsmuster in Frage gestellt. Das kann tief verunsichern. Ambivalenzen werden deshalb oft ignoriert, verdeckt oder abgewertet“. Dabei kann der offene Umgang mit Ambivalenzen lebensfördernde Suchbewegungen in Gang setzen. Dazu braucht es allerdings eine Atmosphäre, in der Denken und Fühlen Platz haben.

Meine These: Zur Erneuerung diakonischer Professionalität kommt es darauf an, Fachwissen mit theologischer Reflexionsfähigkeit, Handeln mit Spiritualität, den Blick auf gesellschaftliche Umbrüche mit kirchlicher Planung zu verknüpfen. Hier sind Diakoninnen und Diakone als Dolmetscher dringend gefragt.

 

6. Diakonische Professionalität

Die Frage nach Identität und Relevanz der Kirche entscheidet sich zum einen an ihrer Auftragsgewissheit und ihrer religiösen Sprach- und Reflexionsfähigkeit, zum anderen aber an der Differenziertheit, mit der sie gesellschaftliche Veränderungsprozesse wahrnimmt und angemessene  Antworten entwickelt . Ohne sozialwissenschaftliche und religionspädagogische, ohne pflegerische und theologische Professionalität lassen sich keine Antworten auf den demographischen Wandel, die wachsende soziale und kulturelle Pluralität, Migration oder Religionswandel und andere Transformationsprozesse zu finden. Es muss deshalb reflektiert werden, was geschieht, wenn die anstehenden Veränderungs- und Einsparprozesse wesentlich auf Kosten der Stellen hauptberuflicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehen

Es sind aber nicht nur Stellenkürzungen und Stellenstreichungen, die die Berufsgruppen der Hauptamtlichen in den Kirchen schwächen; es ist auch die Unüberschaubarkeit von Berufsprofilen und Ausbildungsgängen sowie kirchlichen Anerkennungsverfahren und Anstellungsgesetzen. Nach der Studienreform von Bologna ist das Maß an Vielfalt und der Mangel an Transparenz und Durchlässigkeit der Berufswege in Diakonie, Gemeindepädagogik und Pflege noch gestiegen. Dabei fehlt die vertikale wie die horizontale Durchlässigkeit;  innerhalb der Berufsgruppen, wie z.B. in der Pädagogik bei der Entwicklung der Qualifikation von Erzieherinnen, Sozialpädagogen und Diplompädagogen in aufeinander aufbauenden Stufen von der Ausbildung bis zum Studienabschluss, aber auch zwischen den Berufsgruppen, wenn man etwa auf das Verhältnis von Grundqualifikationen und Spezialisierung schaut. So reagieren bereits einige Kirchen auf die Entwicklung von Tageseinrichtungen für Kinder zu Familienzentren, indem sie ehemalige Jugendmitarbeiter und Jugendmitarbeiterinnen für die Arbeit mit Familien weiterqualifizieren. Ähnlich wie in die Pflegeausbildung, könnte auch im Bereich Pädagogik einer gemeinsamen (sozial)pädagogischen Grundqualifikation mit unterschiedlichen Aufbaustudiengängen für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, Familien oder Älteren die Zukunft gehören.

Angesichts der starken gesellschaftlichen wie kirchlichen Veränderungsdynamik, aber auch auf dem Hintergrund der Umbrüche in der Bildungslandschaft entstehen derzeit zudem neue Hochschulen und neue Studiengänge – insbesondere in der Kombination von Human- Sozial- und Wirtschaftswissenschaften wie auch in besonderen Handlungsfeldern wie Quartiersarbeit und Gemeinwesendiakonie. Zugleich allerdings ist zu erkennen, dass trotz aller Unterschiede in den verschiedenen Handlungsfeldern ähnliche Kompetenzen erforderlich sind: Projekt- und Qualitätsmanagement, strategisches Denken und wirtschaftliche  Methoden, aber auch die Zusammenarbeit mit Angehörigen oder Freiwilligen und grundlegende Beratungskompetenzen sind in allen Ausbildungsgängen und Arbeitsfelder gefragt. Auf diesem Hintergrund hat die Evangelische Kirche in Deutschland eine ad-hoc-Kommission zu Berufsprofilen und Abschlusszertifikaten in Diakonie und Gemeindepädagogik einberufen, um über die notwendige Qualifizierung von Mitarbeitern im Raum der Kirche wie über die kirchliche Anerkennung von Kompetenzen und Abschlüssen zu beraten. Die Aufgabe ist überfällig, aber die  Modularisierung von Ausbildungs- und Studiengängen zwingt nun endgültig dazu; das bunte Feld kirchlicher Abschlüsse und Anerkennungen neu zu systematisieren und dabei vor allem die Kompetenzen in den Blick zu nehmen, die am Ende benötigt werden. Darüber sind am Ende Verständigungsprozesse auf Leitungsebene nötig.

Die Kommission, die nach einem Hearing in Kassel im März 2010 gebildet wurde, geht davon aus, dass wir es im Feld gemeindepädagogischer und diakonischer Dienste mit drei vertikalen Berufsbildern in Pädagogik, Pflege und Heil- oder Sozialpädagogik zu tun haben, für die wiederum auf mindestens drei Levels ausgebildet wird – von der Helfer, über die Fachoberschulausbildung bis zum Hochschulabschluss. Die beschriebenen professionellen Kompetenzen können in lebensweltlich- informellen Kontexten genauso gefragt sein wie in Einrichtungen. und Institutionen: Pädagogik in Gemeinde und Schule, Pflege ambulant wie stationär usw.

Im Blick auf den beruflichen Diakonat in der Kirche ist entscheidend wichtig, dass er eine Art dritte Dimension über die drei Felder und alle Ausbildungslevels legt.. Hier geht es dann nicht nur um Fachlichkeit, sondern um die Dimensionen von ethischer Urteilsbildung, theologischer Begründung, um  die Entwicklung und Vertiefung von Spiritualität  und das Verständnis von Kirche und diakonischem Dienst,– kurz, um die Entwicklung der Kompetenzen, die notwendig sind, um das spezifische Profil diakonischer Dienste zu erhalten und weiter zu entwickeln und zugleich die gesellschaftliche Wirkkraft der Kirche zu stärken. Im Kasseler Hearing wurde herausgearbeitet, dass die Systematik des Deutschen Qualifikationsrahmens als ein Ausgangspunkt für die Weiterarbeit hilfreich erscheint, dass dabei aber auch die Dimensionen von Haltung, Einstellung und Motivation werden müssen.

 

7. Relevanz und Identität kirchlicher Arbeit

Im Jahr 1987 erschien im Handbuch der Praktischen Theologie ein Artikel über die Katecheten- und Gemeindepädagogen-Ausbildung in der damaligen DDR.[4] Der Autor, Hans-Udo Vogler, stellt seine Überlegungen in den gesamtkirchlichen Kontext einer schrumpfenden Kirche in einem säkularisierten gesellschaftlichen System. Die Frage nach Relevanz und Identität der Kirche, besonders bei jungen Menschen, müsse immer neu praktisch und damit gesellschaftspolitisch durchgestanden werden, so der Autor. Gerade für die „katechetischen Mitarbeiter“ stelle sich die derzeitige Situation durchaus herausfordernd dar, ihr Selbstverständnis sei angefragt. „Da er im Gegensatz zum Pfarrer Angestellter auf Gemeinde- bzw. Kirchenkreisebene ist, die Geldnot der Kirche aber gerade hier immer wieder am ehesten zu Stellenstreichungen führt, wird seine soziale Stellung – im Vergleich zum gleichen Einsatz beim Pfarrer – als zu unterschiedlich, ungerecht und ungesichert empfunden.“[5] In Aufnahme und Abwandlung der bestehenden Berufszweige hat Vogeler damals eine umfassende Neuordnung vorgeschlagen. Für die Zukunft des Kirchenbundes war an „vier Grundtypen kirchlicher Mitarbeiter“ gedacht: „Gemeindetheologen, Gemeindepädagogen, Gemeindefürsorger und Gemeindemusiker“.

Alle vier Grundtypen sollten sowohl eine pastorale Grundfunktion als auch eine Spezialfunktion vor Ort und in der Region wahrnehmen. So sollte sich in den Regionen ein Netz von Bezugspunkten kirchlich Mitarbeitender mit unterschiedlichen Professionen entwickeln, die die Kirche in der Diasporasituation als Ansprechpartner repräsentieren, Ehrenamtliche unterstützen und darüber hinaus auf ihrem je eigenen Fachgebiet zu Bildung, Diakonie und Kirchenmusik beitragen. „Für die Ausbildung bedeutet dies, dass der neue Mitarbeiter in den vier Richtungen neben seiner Spezialausbildung eine pastorale Grundausbildung benötigt. Er muss zur Kommunikations-, Hör-, Gesprächs- und Kooperationsfähigkeit ausgebildet werden.“[6] Auch hier also sind die Fragen der Haltung angesprochen.

Ähnliche Modelle wurden in den Gliedkirchen der EKD in der Bundesrepublik unter dem Stichwort „Geteiltes Amt“ ebenfalls diskutiert wurden, sie haben sich über einzelne Experimente hinaus nicht durchsetzen können und nach der friedlichen Revolution weiter an Boden verloren. 25 Jahre später stehen im Mittelpunkt der Reformdiskussionen Überlegungen zum Pfarramt der Zukunft, wie zur wachsenden Bedeutung ehrenamtlicher Mitarbeit.[7] Nach wie vor ist die Situation anderer, hauptamtlicher Berufsgruppen in der Kirche im Vergleich zum Pfarramt ungesichert. In einer noch immer oder wieder schrumpfenden Kirche wird das umso mehr schmerzhaft spürbar, als sich der beamtenähnliche Status der Pfarrerschaft nach der Wende auch in den östlichen Gliedkirchen durchgesetzt hat. Diese Ausgangslage erschwert die Möglichkeit, eine produktive, interprofessionelle Zusammenarbeit und das dafür notwendige Vertrauen aufzubauen.

Während allerdings die Zahl der Mitarbeiterstellen in der verfassten Kirche sinkt,[8] steigt sie in der, zumeist unternehmerischen, Diakonie. Sozialpädagogen und Sozialarbeiter, Erzieherinnen und Erzieher, Diakoninnen und Diakone finden in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe der diakonischen Einrichtungen und Dienste nach wie vor attraktive Stellen. Hier können sie einbringen, was zunehmend gefragt ist: sie stärken die innere Achse der Diakonie, fördern die Unternehmenskultur, arbeiten als Seelsorgerinnen und Seelsorger, entwickeln das Freiwilligenmanagement und schlagen Brücken zwischen Kirche und Diakonie. DAs Aufrechterhalten einer beruflichen Qualifikation, die Mitarbeitenden auf beiden Märkten und Arbeitsfeldern Chancen eröffnet, ist deshalb ein Zukunftsthema für die kirchlich-diakonischen Ausbildungsstätten und für die Gremien, die über Anstellungskriterien entscheiden. Deshalb ist eine Doppelqualifikation, die neben der fachlichen die theologisch-kirchliche Perspektive stärkt, auch in diakonischen Arbeitsfeldern wünschenswert.

Denn wer Brücken bauen will, muss sich auf beiden Seiten, in beiden Welten auskennen. Im Blick auf die Kirchengemeinde heißt das, gesellschaftliche Prozesse so wahrzunehmen, dass die Anschlussfähigkeit der Gemeinde an den sozialen Wandel erhalten bleibt, zugleich aber, die eigenen Quellen und den biblischen Auftrag so zu verstehen, dass deren aktuelle Relevanz für das gesellschaftliche Handeln deutlich wird – im Blick auf die Diakonie, ihr kirchliches Profil zu fördern, zugleich aber die Triebkräfte gesellschaftlicher und diakonischer Veränderungsprozesse deuten zu können. Da die Anstellungsvoraussetzungen in den Landeskirchen sehr unterschiedlich sind, müssen die Kompetenzen, die zu einer doppelten Qualifizierung gehören, deshalb durch modulare Angebote der Fort- und Weiterbildung vermittelt werden.

 

Sehen – urteilen – handeln ( Zusammenfassung )

1. Was es tatsächlich bedeutet, dass ein Drittel der Gemeindeglieder über 60 Jahre alt sind, dass mehr und mehr Frauen erwerbstätig sind, dass Erziehung und Engagement in Zukunft stärker in Ganztagseinrichtungen und Schulen stattfindet, haben wir noch kaum begriffen. Ebenso wenig nehmen wir unser großes Asset wahr: dass Kirche eine der wenigen Generationenübergreifenden Organisationen ist, die Dienstleistungen anbieten, öffentlichen Raum zur  Verfügung stellen und Engagement binden kann.

2. Die Diakoniedenkschrift von 1998 zeigt drei Perspektiven auf:

  • Zielgruppenorientierung und Versäulung überwinden,
  • die Aktivitäten anderer Träger und ihre Stärken würdigen,
  • offen und lernbereit und dabei des eigenen Profils bewusst sein und damit Teilhabe und Kooperation ermöglichen.

3. Eine diakonische Kirche verwirklicht sich als offene Gemeinschaft. Jeder und jede hat das Recht auf Zugang zum Glauben, das Recht auf Gewissens- und Meinungsfreiheit, das Recht auf Integrität der Person, das Recht auf Gleichheit und Teilhabe. Wenn jetzt der Aufruf zur Inklusion von außen kommt, dann haben wir einen inneren Weckruf verschlafen.

4. Diakonie ist eine Bildungsbewegung, in der sich Engagement und Spiritualität so verknüpfen, dass auch die Kirche sich weiter entwickelt und verändert. Diakonische Professionalität verbindet Fachwissen mit theologischer Reflexionsfähigkeit, Handeln mit Spiritualität, den Blick auf gesellschaftliche Umbrüche mit kirchlicher Planung.

5. Die Kompetenzen von Diakoninnen und Diakonen zielen darauf, das spezifische Profil diakonischer Dienste zu erhalten und weiter zu entwickeln und zugleich die gesellschaftliche Wirkkraft der Kirche zu stärken. Diese Kompetenzen müssen für die Aus-, Fort- und Weiterbildung beschrieben und auch in den Eingruppierungen wert geschätzt werden.

6. Diakoninnen und Diakone sind Dolmetscher zwischen Kirche und Diakonie. Sie brauchen deshalb Qualifikationen und Rahmenbedingungen, die ihnen Mobilität und Wechsel ermöglichen, sowie Berufswege, die offen sind für die notwendigen Weiterentwicklungen im gesellschaftlichen Wandel. Landeskirchliche Festlegungen in die eine oder andere Richtung, Sackgassen, die Mobilität einschränken und Anstellungsverhältnisse, die zu Verunsicherung und Dequalifizierung führen, müssen überwunden werden.

 

[1] Zahlen aus: Thomas von Winter: Demographischer Wandel und Pflegebedürftigkeit, in Thomas Klie u.a.: Entwicklungslinien im Gesundheits- und Pflegewesen, Frankfurt am Main, 2003
[2] Beispiele dafür hat das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD i2007 n der Dokumentation des Projekts „ Das Ethos fürsorglicher Pflege“ dargestellt
[3] Prof. Dr. Tim Hage nah, Lehrstuhl für Arbeits-, Organisations- und Gesundheitspsychologie an der Fachhochschule der Diakonie
[4] Peter C. Bloth, Karl-Fritz Daiber u.a. ( Hrgb):Handbuch der Praktischen Theologie, Bd 4, Praxisfeld Gesellschaft und Öffentlichkeit, S. 274
[5] .a.O. S. 275
[6] A.a.O. S.278
[7] Darin unterscheidet sich das  EKD-Reformpapier „Kirche der Freiheit“ von 2006 nicht von kritischen Reaktionen darauf wie der von Isolde Karle, Kirche im Reformstress, Gütersloh 2010
[8] Es liegt wohl auch an der Situation der Anstellungsverhältnisse, dass eine genaue Zahl der beruflich Mitarbeitenden jenseits des Pfarramts in der EKD nicht vorliegt. Die aej geht derzeit von ca 5000 Mitarbeitenden in der Jugendarbeit aus.