Anknüpfung oder Widerspruch

Diakonische Erfahrungen mit der pluralen Wirklichkeit – ein Praxisbericht

 

Respekt vor dem Leben: Was uns verbindet

Vor einiger Zeit erschien in der Kaiserswerther Diakonie ein kleines Heft für die Kitteltasche der Ärzte und Schwestern. „Lebenswege“ – eine Hilfe zur Segnung Sterbender, zur Aufbahrung Verstorbener, zu Trauern und Gedenken und zum Umgang mit totgeborenen und früh verstorbenen Kindern.[1] Das Heft enthält sehr bewusst neben christlichen Segensritualen, Segensworten und Liedern auch Segensrituale anderer Weltreligionen.

Es werde aber kein „Maßnahmenkatalog für Andersgläubige und Fremde aufgeführt, sondern nur einige ganz weiträumige und vorsichtige Hinweise“ gegeben, schreibt der Autor, Hans Bartosch. Denn „ durch die Vielgestaltigkeit der weltweiten Migrationen und der wachsenden Individualisierung“ bleibe eine angemessene individuelle Begleitung das oberste Gebot. Erfahrungen mit solcher Begleitung könnten aber den Horizont der Mitarbeiterschaft erheblich erweitern. Aufgeführt sind dann jüdische, islamische und buddhistische Rituale und deren jeweiliger religiöser Hintergrund.

Wer das Heft in die Hand nimmt, spürt eine eigenartige Spannung. Da ist einerseits die starke christliche Tradition der Kaiserswerther Diakonie, auf die immer wieder verwiesen wird. Die Tradition der Kaiserswerther Schwesternschaft, der ältesten Diakonissengemeinschaft in Deutschland, die in der Krankenhauskapelle, auf den Friedhöfen des Diakoniewerks, in den Aussegnungsritualen der Schwesternschaft und in den Palliative-Care- und Hospizgruppen der Mitarbeitenden bis heute spürbar ist und in kreativen Weiterentwicklungen neu aufgeblüht ist – im Moseskörbchen für tot geborene Kinder, in der Krankenlade mit Kerze und Kreuz. Diese Tradition bestimmt bis heute die kollektive religiöse und kulturelle Identität des Krankenhauses. Im Zweifelsfall allerdings werde es richtig sein, lieber diskret mit Symbolen umzugehen, schreibt Bartosch und fährt fort: „Die Kaiserswerther Diakonie versteht ihre christliche Orientierung keinesfalls in einer möglichst umfassenden Ausgestaltung jedes Sterbezimmers.“ Freiheit, nicht Zwang bestimmt das Heft mit seinen Ritualangeboten. Diese Freiheit ist vielfach erprobt an den Grenzen der kollektiven Identität – bei Ausgetretenen und Agnostikern, denen das Kreuz im Krankenhauszimmer zur Anfechtung wurde. Dissidenten werden respektiert. Und dieser Respekt vor Andersdenkenden verträgt sich offenbar gut mit dem Respekt vor anderen Religionen, die hier zum Ausdruck kommt. Das gilt jedenfalls, solange die einen wie die anderen in der Minderheit sind, solange individuelle Lösungen auf dem Hintergrund der kollektiven christlichen Identität des Krankenhauses gefunden werden können. So enthält das Heft zwar Hinweise auf Rabbiner und Imame, auf die Möglichkeit von Waschungen in den Räumen des Krankenhauses und von muslimischen Bestattungen für totgeborene Kinder auf dem eigenen Friedhof des Werkes, letztlich aber überlässt es die Initiative den jeweiligen Angehörigen. Von einer offiziellen Zusammenarbeit des Krankenhauses oder der Krankenhausseelsorge mit Geistlichen anderer Religionen ist nicht die Rede.

Christliche Identität und Offenheit für andere gehen hier Hand in Hand – und auch das passt gut in den Rahmen einer diakonischen Einrichtung, die bis in die 70-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine lebhafte Orientarbeit mit Krankenhäusern und Schulen von Istanbul bis Alexandria, von Beirut bis Jerusalem unterhielt, ihre Schwestern mit der Barmer Mission aussandte und ins Paul– Lechner-Krankenhaus des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission schickte. Dank der breiten Erfahrung in anderen, vorwiegend muslimischen, Kontexten ist aus der Offenheit Toleranz entstanden. Die inzwischen alt gewordenen Schwestern hatten am eigenen Leib erfahren, was fremd sein bedeutet, und nahmen später Schwestern aus den Philippinen oder der Türkei mit Achtung und Liebe bei sich auf. Dabei ging es nicht um Beliebigkeit, wohl aber , bei Achtung der Verschiedenheit, um das Grundgefühl, dass Respekt vor dem Leben und Respekt vor Gott zusammen gehören, und dass Religion etwas mit einer Deutung unserer menschlichen Existenz zu tun hat, wie sie z.B. Andreas Feldtkeller einführt . Alles; was nach dem allgemeinen Sprachgebrauch als „ Religion“ bezeichnet wird, bezieht sich in irgend einer Weise darauf, dass wir Menschen unser Da-Sein vorfinden und dass wir dabei bedürftig sind nach Deutung und Gestaltung unseres Menschseins“ [2]. Danach hilft Religion Menschen dabei, „ ihren Ort im Lebenslauf nicht nur ins Bewusstsein zu bringen, sondern ihn auch zu verleiblichen und zu vergemeinschaftlichen,“[3] Dazu dienen Riten des Übergangs, wie sie in „ Lebenswege“ aufgezeichnet sind. Sie beschreiben das individuelle Leben im Zusammenhang des Ganzen und einer Gemeinschaft, die über den Tod hinausführt. „ Nach unserem christlichen Verständnis vertrauen wir darauf, dass alle unsere Verstorbenen nicht einfach weg sind. Wir vertrauen auf einen Weg, den Gott mit ihnen geht, den er mit uns, den Weiterlebenden, und unseren Verstorbenen gemeinsam geht. Dieses Verständnis teilen wir mit erfreulich vielen, die solches in anderer Religion oder Form leben und ausdrücken.“ [4]

 

Grenzerfahrungen und Widerspruch

Bei soviel Anknüpfung muss nun auch Raum sein für den Widerspruch. Es sind vor allem zwei Fragen, die mich in diesem Zusammenhang beschäftigen:

  • Die eine richtet sich sozusagen nach außen: Das kleine Heft nimmt nur die Rituale der sogenannten Hochreligionen auf. Was ist aber mit den Sterberitualen der Rosenkreuzer, frage ich mich, wie viel Achtung ist den Zeugen Jehovas im Blick auf Ihre besondere Sorge um das Blut als Sitz der Seele entgegenzubringen? Wäre Raum für einen lateinamerikanischen Kult? Je pluraler unsere Gesellschaft wird, je mehr Migranten in unseren Krankenhäusern sterben, desto drängender wird die Frage, ob es Grenzen der Toleranz in einem christlichen Krankenhaus geben kann oder muss und wer diese Grenzen festlegt.
  • Die andere Frage richtet sich nach innen, auf die christliche Gemeinschaft: Wie viele Sonderwege verträgt die kollektive Identität? Wann löst sie sich auf in ein Nebeneinander individueller Lebenswege? Wie kann es in Zukunft in diakonischen Einrichtungen gelingen, in Pluralität und Individualität die gemeinsamen christlichen Grundlagen zu stärken, die gemeinsame Kultur fortzuentwickeln – in Arbeitsgruppen und Arbeitshilfen, in Andachten und im Qualitätsmanagement? Wird die Zeit bleiben, das zu tun, während die Einrichtungen zugleich unter dem beinahe gnadenlosen Druck der Ökonomisierung stehen?

Tatsächlich ist das neue Interesse an diakonischer Identität zu einem Zeitpunkt entstanden, als – nicht nur in Kaiserswerth – die letzte Generation der Lebenszeit-Diakonissen in den sogenannten Feierabend ging und damit die Verknüpfung von Institution und tragendem Amt fehlte. Allmählich wurde klar, dass neue Mitarbeitergruppen gewonnen werden mussten, die Identität des Unternehmens mit zu prägen – nun aber nicht mehr normativ, sondern partizipativ, nicht mehr unter Verzicht auf ein eigenes, privates Leben, sondern gerade in der Gestaltung verschiedener Lebensentwürfe. Die Grundlage, auf der das geschah, war in den 70er und 80er Jahren gelegt worden, in der Zeit der „Frauen- und Friedensbewegung“, der Psychiatriereform und der Öffnung der Heime. Gesetzliche Normen in der Sozialhilfe wurden reformiert, neue soziale Berufe entstanden und auch die Pflege gewann an Selbstbewusstsein. Als in Kaiserswerth das neue Krankenhaus eingeweiht wurde – einer der vielen funktionalen Klinikneubauten der 70er Jahre – , da zog die letzte Diakonissengeneration die Haube aus und kämpfte erfolgreich um ein Tarifgehalt. Gemeinsam mit anderen wollten die Schwestern menschliche Bedingungen am Arbeitsplatz gestalten, ganzheitlich pflegen, Müttern Zugang zur Kinderstation ermöglichen, Kindern Erzieherinnen zur Seite stellen – kurz, Teams gestalten und Lebenszusammenhänge ermöglichen, wo ihre alte Gemeinschaft erodierte. Unter dem Kostendruck der letzten 15 Jahre wichen diese Zielsetzungen allerdings einer großen Ernüchterung. Während die medizinischen und technischen Möglichkeiten weiter wuchsen, mussten Kosten für Mitarbeiter reduziert werden und aus der ganzheitlichen Pflege wurden Pflegemodule. Was ist geblieben von den alten Traditionen der Diakonie? Was macht sie heute aus, wie entwickeln wir sie weiter? So fragten Kunden, Patienten und Angehörige – und sie meinten den „diakonischen Mehrwert“, die besondere Zuwendung, den Respekt vor Anfang und Ende des Lebens. So fragten Unternehmensleitungen, denen es um das besondere Profil ging. Und nicht zuletzt Mitarbeitende, die Hilfe in ethisch schwierigen Entscheidungen suchten, Orientierung in Zukunftsfragen, Hilfe in Stresssituationen. Auf diesem Hintergrund entstanden neue Einführungskurse und Ethikzirkel, Begrüßungs- und Abschiedsgottesdienste und schließlich auch ein Heft wie die „ Lebenswege“ .

Die medizinische Rationalität des Krankenhausbetriebes folgt heute in hohem Maße einer ökonomischen-technischen Logik. Die Normen der Diagnose bezogenen Fallgruppen und durchschnittlichen Heilungsverläufe lassen wenig Raum für Individualität und Beziehung, für Begegnung und Religion. Das gilt in gewisser Weise auch für die Pflegemodule in Altenheimen und ambulanten Pflegediensten. Zugleich gewinnt man den Eindruck, dass Pflegende sich und ihren Beruf in dieser Logik kaum aufgehoben fühlen – wo Sinnlichkeit, ganzheitliche Wahrnehmung und menschliche Begegnung fehlen, wo die Pflege sich immer mehr von den Grundgegebenheiten de Daseins entfernt, da geht leicht auch der Respekt vor dem Leben, seinen Grenzen, seiner Schönheit und Vergänglichkeit verloren. Der Respekt vor Schöpfer und Schöpfung. Kein Wunder, dass das Interesse an Spiritualität in der Pflegeforschung steigt, [5] dass die Nachfrage nach allen Formen des Religiösen in diesen Berufsgruppen groß ist. Und es sind eben nicht nur die Hochreligionen, denen sich die Menschen zuwenden, auch esoterische Zugänge sind gefragt und scheinen Wege zu eröffnen, die sonst verschlossen bleiben. Wege zu gemeinschaftlicher Erfahrung, zur Wahrnehmung von Jahres- und Lebenszyklen, zu Atem und meditativer Bewegung, Wege zur eigenen Mitte.

 

So zeigte sich in einem diakonischen Unternehmen wie Kaiserswerth über Jahre eine bizarre Spannung: Während die Krankenhausleitung medizinische Forschung und Technik weiter ausbaute und die neuesten Möglichkeiten der Fruchtbarkeitsbehandlung diskutierte, hatten Elternschule und Fortbildungseinrichtung allerlei Zusätzliches von Kinesiologie bis Reiki im Programm. Bei den einen ein Fortschrittsglaube, der jeden ethischen Einspruch des christlichen Trägers als Zumutung empfand, bei den anderen ein Aberglaube, der jede Nachfrage mit der gleichen Vehemenz abwehrte. Der Markt schien beides zuzulassen – durchaus auch beides nebeneinander. Warum soll nicht, wer es mag, die Chemotherapie durch Reiki ergänzen? Selten nur kam es zu ernsthaften Diskussionen zwischen den verschiedenen Protagonisten und ebenso selten gelang es, den christlichen Glauben als eine andere Perspektive ins Spiel zu bringen. Kein Wunder in Zeiten der Individualisierung und der Patchworkidentität, in Zeiten des Gesundheits- und Religionsmarktes.

 

Der Doppelgesichtigkeit von wissenschaftlicher Medizin als öffentlich finanzierter, institutionelle Norm und esoterischer Suche als individueller, privat finanzierter Lebenspraxis in weiten Teilen unseres Gesundheitswesens entspricht, wie Andreas Feldtkeller überzeugend darlegt, die Doppelgesichtigkeit der modernen westlichen Kultur mit ihrer religionslosen und ihrer religiösen Seite , in die das Christentum jeweils tief hinein verwoben ist [6]– mit Schleiermachers Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit auf der einen und Bonhoeffers Ansatz eines „ religionslosen Christentums“ auf der anderen Seite. Tatsächlich steht Bonhoeffers Perspektive für den Wunsch nach einer vernünftigen Gestaltung der Welt in einer Phase religiöser Verführung. Heute aber erleben wir die Verführung durch die Machbarkeit ebenso wie das Aufbrechen neuer religiöser Sehnsüchte mach existentieller Ganzheitlichkeit in einer post-säkularen Wirklichkeit.

 

Religiöse Indifferenz, ethische Beliebigkeit und christliche Identität

Auf diesem Hintergrund scheint es mir wichtig, die Frage nach Identität und Toleranz in der Diakonie neu zu stellen. Und zwar im Gegenüber zu religiöser Indifferenz wie zu ethischer Beliebigkeit. Eine Religiösität, die durch keinerlei Aufklärung und Reflexion gegangen ist, kann Einzelnen durchaus als emotionale Ergänzung ihres funktionalisierten Alltags dienen. Sie ist aber kein tragfähiges Gerüst für eine diakonische Institution wie ein Krankenhaus, in dem Glaube und Wissenschaft ihren angemessenen Platz finden müssen. Eine wissenschaftliche Diagnose, die nicht durch ein theologisch begründetes Wertgerüst gehalten wird, kann in Normenkonflikten keinerlei Hilfe bieten. Der christliche Glaube aber, der durch die Krise der Aufklärung und vielfältiger wissenschaftlicher Diskurse immer neu reflektiert wurde, bietet der Institution ein religiöses und ethisches Bezugssystem zur Entscheidungsfindung in Konflikten und gibt dem Einzelnen Orientierung und Freiraum zugleich. Damit dies gelingen kann, brauchen diakonische Einrichtungen allerdings Gruppen und Netzwerke von Menschen, die Heimat im christlichen Glauben gefunden haben. Angesichts des schnellen Wechsels von Mitarbeitenden in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen – etwa ein Drittel der Mitarbeiterschaft erneuert sich in jedem Jahr – bedeutet dies, aktiv mit Bildungs- und Gemeinschaftsangeboten auf neue Mitarbeitende zuzugehen und alle Anstrengungen zu unternehmen, damit der christliche Glaube in der Mitarbeiterschaft wie bei Patienten und Angehörigen auch in Krisen wächst. Im Mit-teilen und Weitergeben muss unsere christliche Identität je neu gewonnen und gestaltet werden.

Selbstverständlich ist das nicht – auch nicht in den ehemaligen Häusern der „ Inneren Mission“. Allein in einem Unternehmensleitbild von Gott, Kirche und christlicher Nächstenliebe zu sprechen, empfinden manche als Verletzung der Toleranz gegenüber muslimischen Kolleginnen oder Kunden – vom Glauben an die Auferstehung habe ich noch kaum irgendwo gelesen. Und mit dem Caterer auszuhandeln, dass es freitags ein Fischgericht gibt, scheint manchmal schwieriger, als darauf zu achten, dass Muslimen kein Schweinefleisch zugemutet wird. Aber nicht nur die Selbstaufgabe aus falsch verstandener Toleranz, auch der gesetzliche Umgang mit religiösen Angeboten gefährdet die Freiheit des Glaubens: der Gottesdienstzwang für muslimische Kinder in einem christlichen Kindergarten, nur weil die Erzieherinnen sich keine Gedanken um Alternativen machen, der christliche Schulgottesdienst „für alle“ mit interreligiösem Touch, in denen auch den Muslimen ihr Zeugnis ausgeteilt wird. So wichtig es ist, die eigenen Traditionen weiter zu tragen – ein gedankenloser Umgang mit Tradition, der die plurale Situation der Schüler, Klienten, Mitarbeitenden nicht mitreflektiert, gefährdet am Ende die Tradition selbst. Gerade bei der Neugestaltung diakonischer Kultur wird es darauf ankommen, die Differenz zwischen Glaube und Kultur zu achten, zwischen dem, was Menschen gemeinsam gestalten und was sie – jeder auf eigene Weise – vor Gott tun.

Ohne Mission in der Mitarbeiterschaft werden die christlichen Einrichtungen sehr bald ihre besondere Prägung verlieren. Diese Mission wird aber nur gelingen, wenn sie die Freiheit unterschiedlicher Zugänge und Lebenswege achtet, für kritische Diskurse offen bleibt, den Zusammenhang von Glauben und Lebensführung im Blick behält und wenn sie Räume anbietet, in denen Lebens- und Glaubensgemeinschaften wachsen können, jenes WIR, das die Institution prägt, ihr Profil gibt und ihre Grenzen markiert. Das schließt Offenheit für andere und Toleranz nicht aus – es bedeutet aber, dass Unterschiede etwa im Gottes- und Menschenbild, in den Werthaltungen oder im Umgang mit ethischen Fragen nicht verwischt werden, sondern gerade in den Diskurs gebracht werden. Zum evangelischen Profil einer Einrichtung gehört deshalb die theologische Reflexion des christlichen Glaubens im Gegenüber zur säkularisierten Wissenschaft, zum herrschenden Zeitgeist , aber auch zu anderen Religionen. Ohne religiöse Bildung kann es keine interkulturelle Kompetenz geben, ohne theologische Reflexion keine Bildung in einer pluralen Gesellschaft mit unterschiedlichen Lebens- und Weltentwürfen. Friedrich Schweitzer hat Recht, wenn er in einem Artikel über interkulturelle Kompetenz schreibt, dass diakonische Arbeit in einer multireligiösen Gesellschaft ohne theologische Klärungen nicht möglich ist:[7] „ Pluralitätsfähige Diakonie setzt den Abschied vom Monokulturalismus voraus, nicht aber den Abschied von der Theologie.“

 

Institution, Gehorsam und der Geist der Freiheit

An dieser Stelle gibt es nach meiner Einschätzung Nachholbedarf. Und das nicht nur, weil die Diakonie als das subsidiäre Werk der evangelischen Kirche bis in die 70er Jahre hinein mit solcher Selbstverständlichkeit das kirchliche Milieu bediente, dass Diskussionen um das theologische Profil der Arbeit kaum an die Substanz gingen, sondern vor allem, weil die Werke der Freien Wohlfahrtspflege bereits seit der Weimarer Republik so stark in die staatliche Sozialgesetzgebung eingebunden waren, dass in den entsprechenden Provinzialausschüssen der Inneren Mission immer neu um das Verhältnis von theologischer Ethik einerseits und politischer und wirtschaftlicher Handlungslogik andererseits gerungen werden musste. Die damit einhergehenden Versuchungen und die taktische Anpassung vieler diakonischen Einrichtungen an die Gesundheits- und Rassepolitik des Dritten Reiches wurde inzwischen vielfach historisch aufgearbeitet, was Euthanasie und Zwangssterilisationen, Judenmorde und Zwangsarbeit betrifft, doch gibt es nur wenige Arbeiten über die Verbindung zwischen Bekennender Kirche und Diakonie in dieser Zeit oder über die theologische Ausrichtung der Leitungen. [8] Zu welchen innerem Druck es in den Einrichtungen selbst führte, wenn Mitarbeitende sich eher der Bekennenden Kirche verpflichtet fühlten, während ihre theologischen Leitungen erhebliche Kompromisse für den Erhalt von Pflege- und Arbeitsplätzen eingingen , ist bis heute den persönlichen Berichten alter Diakonissen anzumerken.

Das schlimmste daran scheint mir die Indienstnahme theologischen Denkens für wirtschaftliche oder politische Ziele, die Verwirrung der Gewissen und die innere Erosion der Glaubens- und Dienstgemeinschaft, die damit einherging. Das Wirken Friedrich v. Bodelschwinghs in Bethel, der die Bedrohung durch die nationalsozisalistische Wohlfahrts-bzw. „ Volksgemeinschafts“-Ideologie sehr bewusst wahrnahm und den Missionsgedanken dagegen setzte, bleibt leider eher eine positive Ausnahme. [9] Die theologische Aufarbeitung dieser Situation, die nach 45 einsetzte [10], wurde schon bald durch das Wachstum des Sozialstaats wie der freien Wohlfahrtspflege und die Renaissance der Volkskirche überholt. Aber selbst der seit Ende der 60er Jahre beginnende Zerfall der fest gefügten konfessionellen Milieus änderte nichts an dieser theologischen Selbstvergessenheit : mit Beginn der zivilgesellschaftlichen Bewegungen wurde zunächst gesellschaftliche Offenheit und Teilhabe wichtiger als die Wiedergewinnung der christlichen Identität in der Diakonie.

Heute wissen wir, das beides kein Gegensatz sein muss. Die Broschüre „Lebenswege“, die ich zu Beginn vorgestellt habe, überzeugt durch Offenheit, Freiheit und Toleranz und zeigt zugleich, wie Menschen sich in der eigenen Tradition neu verwurzeln können. Unterschiedliche Wege werden aufgezeigt, aber immer geht es darum, wie Menschen in ihrer Religion Hilfe finden können, um Lebenskrisen wahrzunehmen und sich neu zu verorten. Wie selbstverständlich entstehen dabei Beziehungen zwischen unterschiedlichen Traditionen, religiöse Verwandtschaft wird sichtbar. Kaum noch jemand wird beim Lesen erkennen, wie lange gerungen wurde, ehe die Broschüre entstand – um das Miteinander, aber auch um die tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten und Freiräume für Hospizarbeit, Aufbahrungsräume und Kindergräber. Die beschriebenen Rituale sind das Ergebnis eines gelungenen Prozesses, der manchen Konflikt riskierte. In anderen Handlungsfeldern war und ist es schwerer, Lösungen zu finden – zum Beispiel im Konflikt um Fruchtbarkeitsbehandlung und Pränatalmedizin.

Die verbreitete Praxis der Spätabtreibungen bei vermuteten Missbildungen und diagnostizierten Behinderungen stellt eine furchtbare Herausforderung für Träger wie Mitarbeiterschaft von Krankenhäusern dar –für Ärzte, Hebammen und Krankenschwestern, für christliche und muslimische Gläubige, für jeden, dem der Respekt vor dem Leben, auch vor dem ungeborenen Leben, heilig ist. Hier zeigt sich wie in einem Brennglas die Konfliktlinie zwischen Schöpferglaube und Machbarkeitswahn, die eben nicht entlang der interreligiösen Grenzen verläuft, sondern diese gerade überschreitet. Der Markt kennt keine religiösen Autoritäten – nur Kundenorientierung und Service, nur Ehrgeiz und Machbarkeit. Als Schriftautorität gelten ihm allein Verträge und Gesetze. Wo aber religiöse Gebote dagegen stehen, schützt unser Staat in christlicher Tradition die Freiheit der Gewissen – vor allem da, wo es um Leben und Tod, um Abtreibung und Sterbehilfe geht. Je liberaler an dieser hier der Umgang mit den gesetzlichen Grundlagen wird, desto wichtiger erscheint es mir, dass christliche Einrichtungen Orte für eine alternative Praxis bleiben und – auch im Widerspruch zur Mehrheitsmeinung – die Gewissen aller Gläubigen schützen. Vielleicht ist es diese Orientierung an der Heiligkeit des Lebens zusammen mit der Offenheit für gesellschaftliche Entwicklungen, die muslimische Klienten, Angehörige und Mitarbeitende heute Heimat suchen lässt in christlichen Einrichtungen.

Um solcher Konflikte willen ist es heute nötig, die weltanschaulich gebundene Rolle der Diakonie gegenüber dem Staat wie gegenüber Mitarbeitern und Klienten neu zu definieren – und zwar nicht nur aufgrund von festgeschriebenen Normen und Satzungen, sondern auch aus der Glaubensorientierung selbst heraus. Dazu gehört die theologische Reflexion der eigenen Identität im Blick die Gefahren der Vereinnahmung durch politische und gesellschaftliche Ideologien, theologische Bildungsarbeit und eine Gemeinschaft, in der jeder sich mit seinem eigenen Glauben , mit seiner Lebenshaltung einbringen kann. Das schließt die Auseinandersetzung mit anderen religiösen Überzeugungen ebenso ein wie die Zusammenarbeit in der Weltgestaltung, wo es um die Heiligkeit des Lebens und den Respekt vor Gott und den Menschen geht.

„ Er ist es wert, denn er hat unser Volk lieb, und die Synagoge hat er uns erbaut“, sagen die Jünger Jesu, als sie ihn bitten, den Knecht des Hauptmanns von Kapernaum zu heilen. Und tatsächlich stößt Jesus, wie Lukas in Kap. 7 erzählt, auf einen Mann, der seine eigene Erfahrung mit Macht und Ohnmacht, mit Befehl und Gehorsam reflektiert hat und alles von Jesus erwartet: „ Sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund.“ „ Solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden“, sagt Jesus – und macht damit deutlich, dass Gottes Wort, Gottes Liebe und Gottes Geist tatsächlich Religionen und Kulturen überschreitet. Er knüpft an an die Offenheit des römischen Hauptmanns für sein Volk , an die Erwartung in die Macht seines Wortes, die Sehnsucht nach Heil und Heilung – und er macht zugleich im Widerspruch zu seiner eigenen religiösen Tradition deutlich, dass die Traditionen und Erfahrungen , an die der Glaube anknüpfen kann, nur eine Mittlerrolle spielen. Letztlich kommt es auf Gottes Macht an, der Zerbrochene zu heilen – das ist die Kraft, die Kulturen und Menschen verändern kann. Darauf dürfen wir vertrauen, wo wir in der Diakonie mit Menschen anderer Religionen zusammen arbeiten. Davon habe ich mich aber auch oft beschämen lassen müssen, wenn Muslime von uns mehr Glauben erwarteten, als wir tatsächlich lebten; für mich eine Herausforderung, die größer ist als die der Säkularität, möglicherweise die entscheidende kulturelle Herausforderung, vor der unser westliches Gesundheits- und Sozialsystem steht. Denn wenn wir nicht mehr an die heilende Kraft und die entscheidende Macht Gottes glauben, wenn die Seele des Sozialen verloren geht, verfallen wir , wie Benedikt XVI zu Recht in seiner Rede beim Weltjugendtag 2006 gesagt hat, einem Aktivismus und einer Ökonomisierung, die unsere Sozialkultur zerstört. Die Broschüre „ Lebenswege“ ist ein hilfreiches Beispiel dafür, wie Mitarbeitende auf der Suche nach Halt und Mitte die heilenden Kräfte in Glaube und Religion wahrgenommen und in den Krankenhausbetrieb zurückgetragen haben. In diesem Prozess des Austauschs, auch mit anderen Religionen, wurde die eigene Tradition lebendig – die Tradition, aus der das christliche Krankenhaus einmal erwachsen war. Vielleicht brauchen wir die Auseinandersetzung mit dem Fremden, um uns an die eigenen Wurzeln zu erinnern. Ich jedenfalls hoffe, dass dies auch an anderen Orten unserer Gesellschaft gelingt und dass die christliche Theologie dabei kritische Begleitung und Ermutigung sein kann.

 

[1] Herausgeber: Kaiserswerther Diakonie/ M.Dargel, 2006

[2] Andreas Feldtkeller, “ Warum denn Religion? Eine Begründung“, Gütersloh 2006.

[3] a.a.O. S. 12

[4] Lebenswege, S. 45

[5] vgl. zum Beispiel Silvia Käppeli: Spiritualität in der Pflege ( vollständige Angabe folgt

[6] a.a.O. S. 33

[7] Christoph Schneider-Harpprecht / Friedrich Schweitzer: „Interkulturelles Lernen in Theologie und Diakoniewissenschaft“ in Michael Schibilsky/ Renate Zitt:“ Theologie und Diakonie, Gütersloh 2004

[8] z.B. Gustav Freytags Arbeit über den Kaiserswerther Verband

[9] Jasper, „ Das Werden der Bethel-Mission“, S. 142: „ Das Ringen um das Verständnis für die Mission bietet die erwünschte Hilfe zur Wachhaltung und Stärkung des inneren Lebens. Sie hilft die Gefahr bannen, in eine säkularisierte Wohlfahrtsgesinnung zu versinken, die nur die Fürsorge für den Leib kennt und nicht mehr für die Seele des Menschen sich verantwortlich weiß.“

[10] so z.B. durch Robert Frick in Kaiserswerth, der 1949 aus Bethel in die Leitung der Kaiseswerther Diakonissenanstalt wechselte.