Alternde Gesellschaft

Pfarrkonvent Moenchengladbach-Neuss im Kloster Langwaden, 07.11.2016

Deutschland ist ein Land des langen Lebens. Neugeborene Mädchen haben zurzeit eine Lebenserwartung von 83 Jahren, Jungen von 78 Jahren. Wer heute um die 40 ist, hat im Schnitt noch vier Jahrzehnte in der zweiten Lebenshälfte vor sich.

Natürlich sind damit aber auch neue Fragen auf der Tagesordnung. Wie wohnen Menschen im Alter? Wie entwickeln sich die familiären und partnerschaftlichen Beziehungen? Wie entwickelt sich unsere Gesundheit? Wie finden wir im Alter die notwendige Unterstützung – bzw. wie geben wir Älteren diese Unterstützung? Und wie planen wir für die Zukunft Erwerbstätigkeit?

Seit 1996 wurden alle sechs Jahre Menschen zwischen 40 und 85 in einem repräsentativen Querschnitt zu diesen Themen befragt – Menschen also in der sogenannten zweiten Lebenshälfte – im Deutschen Alterssurvey der Bundesregierung. Einige dieser Daten werde ich im Vortrag referieren. Zugleich hat die Bundesregierung in diesem Jahr wiederum einen Altenbericht herausgegeben. Es ist der Versuch, politische Konsequenzen aus unserem Wissen zu ziehen. Der Siebte Altenbericht konzentriert sich auf die Situation der Kommunen und Wohnquartiere und enthält damit auch ganz direkte Hinweise auch für Kirche und Gemeinden.

 

1. Alter und Erwerbstätigkeit – Arbeit anders denken

„Wie lange arbeitest du noch?“ Als ich zum ersten Mal mit diesem Satz konfrontiert war, wurde mir bewusst, dass ich über meinen Ruhestand noch gar nicht nachgedacht hatte. Arbeit gehört für mich einfach dazu – sie hat für mich mit Energie und Lebenslust, mit interessanten Begegnungen und neuen Entdeckungen zu tun. Immerhin: Bei der Planung meines 60. Geburtstags war mir klar geworden, dass in dem neuen Jahrzehnt das Ende der Erwerbsarbeit anstand. Mehr als ein Berufswechsel, jedenfalls kein „weiter so“. Aber nach amtlicher Rechnung lagen ja noch fünfeinhalb Jahre vor mir. Kurz darauf wurde ich krank – zu lange hatte ich übersehen, dass der Wunsch nach Entschleunigung, den ich schon länger spürte, vielleicht auch mit meinem Alter zu tun hatte – mit diesen 60 plus.

Als ich dann früher als geplant aus dem Amt ausschied und in die Freiberuflichkeit wechselte, holte sie mich wieder ein, die Frage, ob ich „noch arbeite“. „Oder sind Sie schon im Ruhestand“? Die Briefe, Anrufe, Mails, die ich rund um diesen Wechsel bekam, haben mich bei aller Freude nachdenklich gemacht. Freunde und Bekannte schrieben von ihren Erfahrungen: Vom „Unruhestand“ habe ich gelesen, aber auch von ganz außergewöhnlichen Projekten und alten Träumen – und auch davon, dass Zeit sei, endlich die Freiheit zu genießen. Ohne Stechuhr, Mails und Gremiensitzungen. Aber anscheinend müsse man heute ja noch im Alter aktiv bleiben, schrieben andere – warum aber nicht einfach alt sein, lesen und Orgel spielen und das Leben feiern? Der Schritt aus dem Dienst, der Eintritt in die Rente ruft ganz offenbar die unterschiedlichsten Bilder in uns wach, von der Erwerbsarbeit, aber auch vom Alter.

Zunächst zum Wandel des Alters: Statistisch gesehen haben wir in den letzten hundert Jahren zehn gesunde Jahre dazu gewonnen. Gesunde 70-jährige sind heute kaum weniger leistungsfähig als gesunde 55-jährige. Bei einer Tagung zum Deutschen Alterssurvey wurde kürzlich gefragt, ob 60 die neue 40 ist. Jedenfalls 73 Prozent der Befragten ab 60 Jahren fühlen sich jünger, als sie es vom kalendarischen Alter her sind, und zwar im Durchschnitt 5,5 Jahre. Mehr als ein Drittel der 55- bis 69-jährigen hat keine oder höchstens eine Erkrankung und noch die Hälfte der 70- bis 85-jährigen fühlen sich trotz der einen oder anderen Krankheit funktional gesund. Das hat nicht zuletzt mit einem veränderten Lebensstil zu tun: mit höherer Bildung, mehr sportlicher Betätigung, mit körperlich weniger strapazierender Arbeit. Umgekehrt hat es Konsequenzen für die Gestaltung unseres persönlichen Lebens, aber auch für die Sicherungssysteme und unsere Vorstellung vom Arbeiten. Schon ist mit Blick auf die 68er-Generation, die jetzt in Rente geht, von Power-Agern die Rede. Und die Vorstellung, die nächsten 20 Jahre mit Freizeitgestaltung zu verbringen, finde ich nicht nur persönlich schwierig – sie ist auch gesellschaftspolitisch fragwürdig. Das lässt sich nicht allein mit der Rentenmathematik fassen. Aber die spielt natürlich auch eine Rolle.

Regelmäßig wird uns vorgerechnet, dass immer weniger aktive Arbeitnehmer immer mehr Rentner „finanzieren“ müssen. Deswegen gibt es nicht nur in Deutschland heftige Debatten über das Renteneintrittsalter. Insbesondere von Seiten der Gewerkschaften wird immer wieder Protest gegen die Rente mit 67 eingelegt mit dem Argument, dass kaum jemand diese Altersgrenze faktisch erreicht, so dass es sich im Ergebnis um eine Rentenkürzung handele. Das stimmt. Aber vielleicht stimmt etwas nicht mit den Arbeitsplätzen, auf denen Menschen so früh aussortiert werden? Wer wahrnimmt, wie viele Ältere es genießen, weiterhin in Aufgaben eingebunden zu sein, muss sich fragen, wie unsere Arbeitswelt besser auf die unterschiedlichen Lebensabschnitte reagieren kann, statt Menschen weiterhin in starre Konzepte von Zeitstrukturen und Lebensaltern zu zwingen. Noch nie in der Geschichte sind Menschen so gesund alt geworden, noch nie war die Breite der Bevölkerung so gut ausgebildet, so kompetent und selbständig wie heute, noch nie gab es auch so viele Möglichkeiten, sich zu vernetzen und gut zu organisieren. Ich hoffe auf eine Arbeitsgesellschaft, die diese Veränderungen ernst nimmt.

Denn Arbeit tut dem Selbstbewusstsein gut, sie schenkt Kontakte und Verantwortung und lässt uns an unseren Aufgaben wachsen. In einer Studie des Wiesbadener Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung haben immerhin 47 Prozent der Befragten angegeben, sie würden nach Erreichen des Rentenalters gern weiterarbeiten – natürlich bei deutlich reduzierter Arbeitszeit. Und der Alterssurvey zeigt für 2014 bereits 11 Prozent Rentner, die weiter erwerbstätig sind – und zwar über alle Schichten und keinesfalls nur aus finanziellen Gründen. Die Zahl derer, die mit 60 aufhören wollen, zu arbeiten, geht seit 1996 kontinuierlich zurück. Wie gut es Menschen tut, im Arbeitsprozess zu bleiben, zeigt Caitrin Lynchs Buch über die Nadelfabrik „Vita Needle“, das im Mai 2016 unter dem Titel Geht’s noch? – Die Rentner-GmbH erschien. Vita Needle stellt seit einigen Jahren gezielt ältere Arbeitnehmer ein. Das Geschäftsmodell basiert darauf, dass der Staat die Anteile der Renten- und Krankenversicherung für die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer übernimmt, während das Unternehmen lediglich die anteiligen Lohnkosten nach dem Mindestlohn zahlt. Zum allgemeinen Erstaunen stellte sich heraus, dass die Produktivität des Unternehmens mit dem Alter seiner Mitarbeitenden nicht fiel, sondern stieg. Die Älteren liefern hochwertige Arbeit, haben Spaß am Job und sind motiviert – und zudem besonders loyal ihrem Arbeitgeber gegenüber. Arbeit ist für sie ganz offenbar keine Last, sondern verbunden mit dem guten Gefühl, gebraucht zu werden. Das Unternehmen achtet darauf, dass die jeweiligen Arbeitsplätze den gesundheitlichen und zeitlichen Möglichkeiten der Mitarbeitenden flexibel angepasst werden. In diesem Buch findet sich ein Interview mit Alen Lewis, einem 84-jährigen Amerikaner, der bei Vita Needle arbeitet und sich weigert, in ein Altenzentrum zu gehen. Er könnte sich anstecken, meint er. Und auf die Frage, womit denn, ist die Antwort: „Mit dem Alter.“ Denn Alter, sagt er, werde einem beigebracht. Ganz so, wie einem Mädchen das Puppenspielen beigebracht werde. „Man ist umgeben von alten Leuten und so lernt man, dass man so werden wird. Das muss man aber gar nicht.“ Auf den Hinweis, dass er doch auch bei Vita Needle mit alten Leuten zusammenarbeitet, sagt er: „Die sind nicht alt, die sind anders.“

Alen Lewis hat Recht: Alter ist auch eine soziale Konstruktion, ganz ähnlich wie das Geschlecht. Konsequenterweise reden Soziologen von „Doing Aging“ – so wie von „Doing Gender“ oder „Family“. Nicht nur das Alter hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert; auch die Alternsbilder müssen sich ändern. Man könnte sagen: Das Alter veraltet! Bis in die 60er Jahre hat man den Ruhestand ja tatsächlich als Feierabend begriffen, er war Erholung von einem aktiven Arbeitsleben. In den 70ern dann, der großen Zeit des Wohlfahrtsstaats, wurde die Rente zur Belohnung für ein aktives Leben – mit Freizeit und Reisen. Heute aber ist die nachberufliche Phase länger geworden und bietet damit viel mehr Chancen, den eigenen Interessen und Motiven nachzugehen, eigene Aufgaben souverän zu gestalten. Während übrigens der Alterssurvey ganz bewusst von der ersten und zweiten Lebensphase spricht – also von den unter und den über 40-jährigen –, wird sonst oft von nachberuflichen Zeit als einer neuen, dritten Lebensphase gesprochen. Mir gefällt besonders der paradoxe Ausdruck „dritte Lebenshälfte“. Er macht deutlich, dass es um eine historisch ganz neue Zeit geht – eine geschenkte Zeit.

Den Umgang mit dem eigenen Alter zu gestalten, ist eine große Aufgabe für den Einzelnen, aber Age-Management ist auch eine zentrale Herausforderung für Arbeitgeber wie für die Politik. Denn tatsächlich ist zwar das Renteneintrittsalter gestiegen, aber immer weniger Erwerbstätigen gelingt ein nahtloser Übergang in die Rente: Seit 1996 ist ihr Anteil von 62 auf 46 Prozent zurückgegangen. Viel häufiger sind Übergänge aus der Arbeitslosigkeit oder aus der Altersteilzeit. Und das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die beruflichen Belastungen – die zeitlichen wie die gesundheitlichen – in den letzten Jahren wieder zugenommen haben. Es ist deshalb zu wenig, über das Renteneintrittsalter zu diskutieren. Es geht um eine neue Flexibilität in den Erwerbsbiografien, um Raum für Bildung, für Familien- und Sabbatzeiten und auch um allmähliche Übergänge.

Einige Unternehmen bieten inzwischen CSR-Programme und Corporate Volunteering oder Senior-Expert-Service-Programme an, die den Übergang von der Erwerbstätigkeit in das bürgerschaftliche Engagement gestalten helfen. Es geht eben nicht mehr um eine Schwelle, sondern um einen Prozess, um einen Brückenschlag in die Tätigkeitsgesellschaft. Auch Psychologie heute hat im August 2016 eine Untersuchung zu diesem Thema vorgelegt. Im Ergebnis zeigen sich drei Wege für den Übergang in die sogenannte dritte Lebensphase. Es gibt die „Weitermacher“, die als Seniorberater, Freiberufliche oder Honorarkräfte oder auch ehrenamtlich weiter in ihrem Arbeitsfeld unterwegs sind. Mit ihrer Erfahrung sind sie gefragt, solange sie nah genug dran bleiben an den innovativen Entwicklungen im Feld. Daneben gibt es die „Anknüpfer“, die aus ihren bisherigen Kompetenzen etwas Neues entwickeln. Wir kennen das von Sportlerkarrieren: vom Spieler zum Manager oder zum Sportartikelhersteller. Und schließlich die „Befreiten“, die froh sind, endlich raus zu kommen aus einem Job, den sie als entfremdet erlebt haben. Sie finden ihr Glück vielleicht auf einer Reise, beim Lesen oder bei der Gartenarbeit oder auch in einem Ehrenamt, im Sportverein oder in der Hospizarbeit.

 

2. Ein neuer Aufbruch: Die dritte Lebensphase

Die dritte von Psychologie heute identifizierte Form des Übergangs, das Sich-befreit-Fühlen, kann auch dazu führen, dass man sich ganz neue Räume erschließt. Ich kenne eine Ärztin, die mit Mitte 50 nach Afrika ging. Sie wollte dort ausbauen, was sie früher in Ferieneinsätzen bei Ärzte ohne Grenzen erlebt hatte. In Ostafrika half sie, ein Krankenhaus nach westlichen Standards aufzubauen, was Labor und Operationstechnik angeht. Zugleich arbeitete sie viel mit den Frauen der Basisgesundheitsdienste zusammen. Und sie blieb verschont von diagnosebezogenen Berechnungsmodulen und Rationalisierung im Gesundheitswesen. Sie lernte ein ganz anderes Verständnis von Krankheit und Heilung kennen. In charismatischen Gemeinden erlebte sie die Kraft der Gebete. Sie schrieb mir einen ermutigenden Satz: „Alter ist eine einmalige und neue Form der Freiheit, die verstanden und gelebt werden will.“ Ein Kollege wurde im Ruhestand zusammen mit seiner Frau Pflegevater eines syrischen Flüchtlingsjungen und erlebte Familie noch einmal ganz neu.

„Viel, allzu viel Leben, das auch hätte gelebt werden können, bleibt vielleicht in den Rumpelkammern verstaubter Erinnerungen liegen, manchmal sind es glühende Kohlen unter der Asche“, hat der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung geschrieben. Denn das Erreichen eines Ziels, des beruflichen Aufstiegs zum Beispiel, erfolgt eben immer auch auf Kosten der Totalität der Persönlichkeit: Wir funktionieren, passen uns an, übernehmen eine Rolle. Wenn die Kinder erwachsen sind, ein weiterer Aufstieg nicht möglich ist, wenn wir gesundheitlich in einer Sackgasse gelandet sind, können wir endlich den sozialen Panzer ablegen und andere Aspekte der eigenen Person zum Zuge kommen lassen. Älterwerden hält noch einmal neue Entwicklungs- und Veränderungschancen bereit. Jetzt kommt es nicht mehr darauf an, sich mit den Rollen zu identifizieren, die uns andere aufdrücken, jetzt können wir wirklich Person werden, wir selbst werden.

Noch einmal ist alles offen. Was will ich fortführen, was noch einmal anders machen? Gibt es vielleicht noch unerledigte Geschäfte? Oder habe ich den Mut, noch einmal in unbekanntes Gelände aufzubrechen, wie damals, als ich erwachsen wurde? Ein zweites „Coming of Age“ sei das Älterwerden, habe ich neulich gelesen. Wie die Forschung zeigt, die meisten Menschen assoziieren mit der dritten Lebensphase weniger ein Ende als einen Neubeginn. Was man früher mit dem Alter verband, Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit, das verschieben wir gedanklich in die letzte, die vierte Lebensphase, die statistisch gesehen erst um die 80 beginnt. Auch eine Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD zeigt: Nicht Sterblichkeit, sondern „Gebürtlichkeit“, wie die Philosophin Hannah Arendt es nennt, ist das vorherrschende Gefühl der dritten Lebensphase – , auch wenn das der Thema Endlichkeit wie eine gegenläufige Unterströmung spürbar ist. Dies hat häufig jedoch eine sehr konkrete und auch produktive Dimension, denn Ältere wissen: Wenn ich wirklich etwas Neues beginnen will, dann muss ich mein Leben so einrichten, dass ich den Traum auch verwirklichen kann. Der französische Soziologe Roland Barthes hat sich entschieden, einen Roman zu schreiben, als seine Mutter gestorben war. Ihm wurde klar: Wenn das gelingen soll, dann muss er wirklich ein neues Leben beginnen, seine Zeit neu einteilen. Dafür gibt es seiner Auffassung nach ein paar grundlegende Voraussetzungen: Es braucht einen bewussten Entschluss. Man muss den Alltagstrott verlassen, die eigenen Routinen und Prioritäten überprüfen, Überflüssiges sein lassen. „Wesentlich werden“, nennt eine Freundin das. Und „Durchziehen, was mir wirklich wichtig ist“.

Der Philosoph Thomas Rentsch spricht vom Altern als einem „Werden zu sich selbst“. „Ich kann als Philosoph nicht unmittelbar an positive theologische Redeweisen anknüpfen“, schreibt er, „ich sage jedoch: Viel wäre vom Sinn dieser Reden schon bewahrt, wenn wir das Alter als eine Lebenszeit verstehen, in der die innige Verschränktheit von Endlichkeit und Sinn, Begrenztheit und Erfüllung erkennbar und einsichtig werden kann.“

Es ist kein Zufall, dass viele beim Übergang in diesen neuen Lebensabschnitt eine Reise unternehmen. Das ist eine Möglichkeit, die innere Bewegung im Außen sichtbar und greifbar zu machen. In der ersten Lebenshälfte, sagt Carl Gustav Jung, geht es noch darum, ein Heim und eine Familie aufzubauen, ein sicheres Fundament für das Leben. Dann aber besteht die Herausforderung darin, das alles loszulassen und noch einmal frei zu werden. Wer jetzt noch einmal neu startet, will eine andere Produktivität entdecken. Ein neues Lebenstempo, eine andere Kultur, eine Kunst vielleicht, die er bisher nicht beherrscht hat. Margarete von Trottas Film über Hildegard von Bingen erzählt, dass die bekannte Klostergründerin gegen Ende ihres Lebens eine ungewöhnliche Entscheidung trifft. Sie verlässt das Kloster, in dessen Aufbau sie ihr ganzes Leben investiert hat, verlässt den Konvent und ihre Rolle als Äbtissin und bricht zu Pferd auf eine Predigt- und Seelsorgereise auf. Allein, nur von wenigen Freunden begleitet. „Wir sind hier, um das, was uns gegeben wurde, vollständig und freiwillig zurück zu geben“, sagt der Franziskanerpater Richard Rohr, der ein Buch über die spirituelle Reise der zweiten Lebenshälfte geschrieben hat.

Dabei geht es auch um Spiritualität. Lars Tornstam, der in Schweden Untersuchungen zur Spiritualität älterer Menschen durchgeführt hat, spricht von Ego-Transzendenz oder auch von Gero-, also Alters-Transzendenz. Er meint: Das Alter bietet die Chance, sich selbst zu überschreiten. Transzendenz hat es nicht nur mit dem Jenseits zu tun; vielmehr geht es darum, mich grundsätzlich offen zu halten für ganz neue Möglichkeiten. Wesentlich werden – aber nicht einfach auf den bekannten Kern schrumpfen, sondern einem neuen Samen Raum zum Leben geben.

 

3. Familie, Freundschaft, Nachbarschaft – Beziehungsnetze

Die meisten von uns bleiben, was ihr biologisches Alter angeht, lange jünger, körperlich leistungsfähiger und sozial aktiv. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass es auch eine große Gruppe gibt, die auf die Sorge anderer angewiesen ist. Denn natürlich wächst mit der Zahl der Hochaltrigen auch die der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland weiter. Und wer in der nachfolgenden Generation keine Angehörigen oder Freunde hat, wird möglicherweise einsam alt. Schon heute leben mehr als 40 Prozent der 70- bis 85-jährigen allein und nicht alle können auf tragfähige Freundschaften und Nachbarschaftsnetze zurückgreifen. Und schon jetzt wird die häusliche Pflege in hohem Maße von privaten Haushaltshilfen und Pflegekräften aus Osteuropa gestützt. Wir müssen darauf achten, dass angesichts eines neuen, aktivitäts- und entwicklungsorientierten Bildes vom Alter die Ärmeren, Kranken und Gebrechlichen nicht diskriminiert werden.

Die Zahl der Leistungsempfänger in der Sozialen Pflegeversicherung wird bis 2040 auf mindestens 2,98 Mio. steigen – gegenüber dem Jahr 2000, als es 1,86 Mio. waren, um 61 Prozent. Das führt zu praktischen Herausforderungen. Meinhard Miegel hat vor einigen Jahren vorgerechnet, dass sich der Anteil der Pflegekräfte in den kommenden 30 Jahren verdoppeln müsste. Zurzeit sieht es nicht so aus, als sei das leicht zu stemmen – angesichts von Schichtarbeit, Zeitdruck und schlechter Bezahlung. Das Pflegesetting der Zukunft muss also aus einer guten Kooperation zwischen Pflegefachkräften, Angehörigen und Freiwilligen bestehen; die notwendigen haushaltsnahen Dienstleistungen und Pflegedienste müssen quartiernah vorgehalten und professionelle und lebensweltliche Hilfen verschränkt werden. Genauso wichtig ist aber die Entwicklung von Wohnungen und Infrastruktur, von Quartieren und Stadtteilen, von Verkehr und Läden am Ort. Wo nicht mehr regelmäßig Busse fahren, wo man sich ohne Auto nicht mehr selbst versorgen kann, entscheiden sich auch Menschen, die ansonsten gut zu Hause bleiben könnten, für das Pflegeheim. Ich komme gleich noch einmal darauf zurück. Doch es geht um weit mehr als diese praktischen Fragen.

In ihrem Buch Vita activa betont Hannah Arendt, wie wichtig es für jeden Menschen ist, sich mit anderen auszutauschen und am Leben teilzuhaben. Das gilt natürlich auch für pflegebedürftige Menschen. Das wichtigste ist der Zugang zum öffentlichen Raum. In Kaiserswerth leben viele der älteren Diakonissen in sogenannten Feierabendhäusern. Das Konzept gleicht dem der heutigen Mehrgenerationenhäuser: offene Wohngemeinschaften mit der Möglichkeit, sich selbst zu versorgen und ambulante Pflege zu bekommen. Schön zu sehen, wie viele Jüngere aus der Gemeinschaft, aber auch aus der Mitarbeiterschaft, dorthin zu Besuch kamen und sich Rat und Unterstützung holten. „Wenn ich selbst nicht zum Einkaufen komme“, sagte gestern eine jüngere, berufstätige Schwester „kaufen meine Feierabendschwestern für mich ein. Denn gerade am Leben der Jüngeren Anteil zu nehmen, ist für die allermeisten alten und auch sehr alten Menschen ein zentraler Lebensinhalt. Die Hochaltrigenstudie der Universität Heidelberg von 2013 zeigt: 76 Prozent der befragten 80- bis 99-jährigen empfinden Freude und Erfüllung in emotional tieferen Begegnungen mit anderen Menschen, 61 Prozent im Engagement für andere Menschen und 60 Prozent haben das Bedürfnis, – vor allem von den jüngeren Generationen – auch weiterhin gebraucht und geachtet zu werden. Diese Ergebnisse sprechen eine ganz andere Sprache als unsere Ängste und Vorurteile. Während die meisten von uns das Thema Hochaltrigkeit weit weg schieben und eine Pflegesituation als „Anfang vom Ende“ verstehen, zeigen sich in den Antworten der Befragten Lebendigkeit, Teilhabe und Engagement. Und ein großes Interesse an der Zukunft. Und bei mehr als Dreivierteln der Befragten zwischen 80 und 99 steht die Todesnähe nicht im Vordergrund. Die meisten freuen sich, wenn sie sich noch für andere Menschen engagieren können, und 85 Prozent der Befragten beschäftigen sich intensiv mit den Lebenswegen der nachfolgenden Generation – der Enkel und Urenkel zum Beispiel.

Generationenbeziehungen stellen überhaupt eine wichtige Ressource für Autonomie und Lebensqualität dar und sind eine bedeutsame Stütze zur Überwindung von Lebensrisiken. Für die Mehrheit der Älteren ist die Großelternschaft eine Sinn gebende Altersrolle, sie verbinden damit ein hohes Maß an Wohlbefinden, Erfüllung und Zufriedenheit. Zugleich sind sie in diesen Bezügen selbst auch Lernende. Aus dem Deutschen Alterssurveys von 2010 geht hervor, dass der Generationenvertrag in den Familien nach wie vor wirkt: Die privaten, innerfamiliären Geld- und Sachleistungen fließen ganz überwiegend in entgegengesetzter Richtung zu den öffentlichen Transferströmen: von alt nach jung. Rund 36 Prozent der 70- bis 85-jährigen bedachten ihre Kinder und Enkel mit Geld- und Sachleistungen, jährlich 3,5 Milliarden Arbeitsstunden investierten die 60- bis 85-jährigen darüber hinaus für die Hilfe in der Familie und die Betreuung der Enkel. Dabei hat sich die Häufigkeit direkter materieller Transfers an Enkelkinder zwischen 1996 und 2014 fast verdoppelt. Das DZA geht davon aus, dass sich die Unterstützungsbeziehungen zu heranwachsenden Enkeln ähnlich der zu den erwachsenen Kindern entwickeln.

Und die praktische Unterstützung beruht durchaus auf Gegenseitigkeit: Ältere erhalten, wenn sie hilfsbedürftig werden, vielfältige Hilfen zur Bewältigung des Alltags, bei Einkauf, Behördengängen, Arztbesuchen und Instandhaltung der Wohnung bis hin zur Pflege. Allerdings hat die Wohnentfernung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern ständig zugenommen. Nur noch etwa ein Viertel der Befragten geben an, dass ihre erwachsenen Kinder noch am selben Ort wohnen und bei einem weiteren Viertel sind die Wohnungen mehr als zwei Stunden voneinander entfernt. An der Verbundenheit hat das nichts geändert. Immer noch haben 80 Prozent wöchentlich Kontakt zueinander – aber im Vergleich der letzten Jahre erhalten die über 70-jährigen immer seltener praktische Hilfe; die Quote sank um 8 Prozentpunkte von 19,5 Prozent 1996 auf 11,7 Prozent 2014. Zwar werden auch noch immer die meisten Pflegebedürftigen in den Familien gepflegt – von Töchtern, Schwiegertöchtern, Ehefrauen, aber inzwischen auch zu einem Drittel von Männern. Die selbstverständliche Teilnahme von Frauen an der Erwerbsgesellschaft, die zunehmende Mobilität wie auch der demografische Wandel führen dazu, dass das sogenannte Töchter- und Schwiegertöchter-Pflegepotenzial schrumpft – nicht zuletzt, weil die, die die Carearbeit leisten, finanziell benachteiligt werden und zeitlich in Zerreißproben stehen. Denn trotz der gestiegenen Erwerbsbeteiligung von Frauen übernehmen sie weiterhin die Hauptverantwortung in der Haus- und Pflegearbeit. Und das Vereinbarkeitsproblem, das wir meist im Kontext von Erziehungsaufgaben denken, gilt inzwischen für die Altersgruppe der 40- bis 65-jährigen Frauen in gleicher Weise, wenn es um die Betreuung der Enkel, die Unterstützung der betagten Eltern oder um häusliche Pflege geht. Das bedeutet: Durch den längeren Verbleib im Erwerbsleben und die steigende Zahl pflegebedürftiger Hochaltriger wird der Anteil derer, die Berufs- und Sorgetätigkeiten vereinbaren müssen, zunehmen. Auch deswegen ist eine neue Flexibilität in der Arbeitswelt, eine Veränderung der Rollenerwartungen sowie Unterstützung durch Pflege- und Erziehungszeiten so wesentlich. Genauso wichtig, gerade für die Frauen: Mehr Anerkennung für die Carearbeit. Denn nur in einem guten Zusammenspiel von Familien und Dienstleistern, Arbeitgebern und Nachbarschaft, Kirche und Diakonie können die zukünftigen Herausforderungen gemeistert werden.

Angesichts des wachsenden Drucks, der im Zusammenhang von Vereinbarkeitsproblemen auf den Jüngeren lastet, setzt man auf die so genannten jungen Alten, die ihre Erfahrung und ihre Freiheit einbringen, um den fragilen Zusammenhalt einer mobilen Gesellschaft zu stärken. Der ehemalige Chefredakteur von Psychologie heute, Heiko Ernst, spricht in diesem Zusammenhang von Generativität. Dabei geht es nicht nur um die eigenen Kinder, sondern um die Zukunft der nächsten Generationen. Um die Zukunft unserer Städte und Dörfer. „Generativität“, sagt Heiko Ernst, „ist unser Zukunftssinn. Wir richten das Denken über die eigene Existenz hinaus. Generativität ist die Fähigkeit, von sich selbst abzusehen, für andere da zu sein, sein Wissen und seine Erfahrungen in die Gesellschaft einzubringen und etwas weiter zu geben. Generativität gibt Antwort auf zwei Fragen: Wie geht es mit mir weiter? Und: wie geht es mit meinem Umfeld weiter?“ Und sie könnte die Schlüsseltugend für das 21. Jahrhundert werden. In diesem Sinne braucht die Gesellschaft die jungen Alten – und sie bringen ihre Erfahrungen gern ein. Aber sie brauchen dann auch selbst die notwendigen sozialen und ökonomischen Ressourcen, was Rente und was Infrastruktur angeht.

Aktiv sind die Älteren und Alten auch, wo es um ihre Sorge um ihre eigenen Partnerschaften sowie Freundschaften geht. Im Zuge eines strukturellen Wandels sinkt zwar der Anteil der Verheirateten auch unter den Älteren, während der Anteil Geschiedener bzw. Getrenntlebender steigt, und auch das hat Auswirkungen auf die Rente, insbesondere bei Frauen. Insgesamt zeichnet sich eine Verlagerung der ehelichen zu den nichtehelichen Paarbeziehungen ab. Andererseits ermöglicht die steigende Lebenserwartung ein längeres Zusammenleben der Paare im Alter; die Verwitwung verschiebt sich in ein höheres Alter. (So waren bei der Untersuchung 2014 nur 24 Prozent verwitwet – im Gegensatz zu 39 Prozent 1996.) Auch wenn also traditionelle Formen der Partnerschaft abnehmen, teilen doch die meisten Menschen ihr Leben bis ins hohe Alter mit einer Partnerin oder einem Partner. Und auch Freudinnen und Freunde spielen eine immer größere Rolle. Entgegen häufigen Befürchtungen, dass die Mehrzahl der Älteren einsamer würden, leben die allermeisten in stabilen Bezugsnetzen, auch in ihrer Nachbarschaft und immer häufiger auch in Wohnprojekten.

Thomas Klie verweist auf Ergebnisse der interdisziplinären Forschung in der Gerontologie. Dazu gehöre „die Erkenntnis, dass die Prädiktoren für die fernere Lebenserwartung nicht vorrangig im Blutdruck und Cholesterinspiegel zu suchen sind, sondern in der Qualität sozialer Netzwerke. Für sich zu sorgen heißt auch für andere Sorge zu tragen. Der Begriff der Mitverantwortung von Hannah Arendt stellt die Bezüge her: Die Daseinsthemen von älteren Menschen beziehen sich nicht primär auf die Gesundheit, sondern auf das Wohlergehen anderer.“

Die Vorstellung, Alter bedeute vor allem Verlust, stimmt also nicht. Tatsächlich gibt es auch viel zu gewinnen. „Was wird im Alter mehr“, hat Lothar Stiegler auf seiner Internetplattform seniors4success gefragt. 1600 Antworten gingen ein. 1600 Antworten, die bestätigen, dass die meisten älteren Menschen zufrieden sind. Befragte über 60 bezeichnen sich in der absoluten Mehrheit als sehr zufrieden: Sie erreichen mehr als 7,5 von 10 Punkten auf einer entsprechenden Skala. Und ihre Antworten machen in jeder Hinsicht Mut. Was wird also im Alter mehr? „Wissen, worauf es im Leben wirklich ankommt. Gesundheitsbewusstsein. Erfahrung. Weisheit. Unabhängigkeit. Das Zeitbudget.“

 

4. Sorgende Gemeinschaften – zurück ins Gemeinwesen

Ich will hier von Margarete Bellmer erzählen, die in unserem Dorf aufgewachsen ist und als junge Frau nach Frankfurt ging und Buchhändlerin wurde. Nach der Erwerbstätigkeit kehrte sie auf den elterlichen Hof zurück, wo sie noch immer ein paar Schafe und Hühner hält. Und natürlich den großen Hofhund. Mittwochs nachmittags lädt sie ihre Freundinnen zu einer großen Kaffeetafel in der Diele ein, Sonntags engagiert sie sich im Gottesdienst. Aber ihr wichtigster Beitrag im Ehrenamt sind die internationalen Gärten. Margarete hat als junges Mädchen erlebt, wie die Hungermärsche von KZ-Häftlingen aus Bergen-Belsen durchs Dorf kamen, und sie hat daraus ihre Schlüsse gezogen. Flüchtlingen helfen, Unterschiede anerkennen, sich an der Vielfalt freuen – das steht für sie ganz oben. Heute pflanzt sie diese Werte ein in die Vielfalt der Gärten. Und freut sich an den unterschiedlichen Gerichten, die reihum dort gekocht werden. So hat Margarete den Kreis ihrer Freundinnen erweitert – und hält mit den Veränderungen in unserem Dorf nicht nur Schritt, sondern gestaltet sie mit.

Die Älteren tragen entscheidend dazu bei, dass die Wohnquartiere wirklich lebendig und lebenswert bleiben. Ältere Menschen sind stärker ortsgebunden; sie engagieren sich in Vereinen und Verbänden, wo junge Leute immer schwerer Anschluss finden, aber zunehmend auch in Bürgerinitiativen und Genossenschaften oder in der Kommunalpolitik Als Freiwillige in Sozial- und Diakoniestationen leisten sie Nachbarschaftshilfe, bei „Rent a Grant“ arbeiten sie als Leihomas, in Mehrgenerationenhäusern geben sie den Kindern ein Stück Kontinuität in wechselnden Alltagsmustern. Sie unterstützen Flüchtlingsfamilien beim Ankommen, werden für Schulabgänger zu Mentoren auf dem Berufsweg, tragen Gemeindebriefe aus.

Übrigens engagieren sich Freiwillige über 65 stärker als in anderen Bereichen in Kirche und Religion – genau sind es 22 Prozent dort gegenüber 13 Prozent in allen anderen Bereichen. Vielleicht ist noch zu spüren, dass die Rolle der „Ältesten“ in der Kirche eine lange Tradition hat. Früher wurden Kirchenvorsteher so genannt. Heute kehrt die Rolle wieder in den vielen Mentorenaufgaben, die in unserer Gesellschaft immer wichtiger werden. Ausbildungsmentoren, Lesepaten, ehrenamtliche Betreuer, Kulturpaten und Stadtteilmütter. Die Liste ist lang, es gibt unglaublich viele spannende Projekte in Kirche und Diakonie. Die Pflegebegleiter, die für hauswirtschaftliche und nachbarschaftliche Dienste sorgen. Oder die Jobpaten, die schwer vermittelbaren Jugendlichen durch die Ausbildung bis in ein festes Arbeitsverhältnis begleiten. Oder die Kindertafel „Brotzeit für Kinder“, die auch Hausaufgabenhilfe und Elterncoaching anbietet.

Diese Verbundenheit mit dem Quartier sollte nicht aufhören, nur weil man nicht mehr gut gehen kann. Vor gut 20 Jahren hat der Sozialpsychiater Klaus Dörner die Einrichtungen und Verbände der Altenhilfe provoziert; er forderte – wie vorher schon für Psychiatrie und Behindertenhilfe – die Auflösung der Heime. „Ich will alt werden und sterben, wo ich gelebt habe“ – sein eingängiger Satz stand damals paradigmatisch für einen neuen Umgang mit Alter, Pflegebedürftigkeit und Sterben. Seitdem haben sich die Einrichtungen der Altenhilfe differenziert; mit betreutem Wohnen und Kurzzeitpflege, ambulanter Pflege und hauswirtschaftlichen Hilfen, aber auch mit Cafés und vielfältigen Kooperationen immer mehr ins Quartier geöffnet. Heute sollen die notwendigen Dienstleistungen zu den Menschen kommen – und nicht länger umgekehrt. Ja, es sind durchaus viele praktische Fragen, die es zu lösen gilt, damit die Mauern durchlässig werden, die das Leben der Fitten und Leistungsstarken von dem der Hilfebedürftigen trennen. Damit niemand in ein Heim gehen muss, nur weil er oder sie sich selbst nicht mehr versorgen kann. Damit keiner isoliert ist, wenn er stirbt. Deswegen ist es gut, dass im PSG II Pflege, Hauswirtschaft und Betreuung gleichwertig sind – schließlich haben die Diakonischen Dienste seit langem angefangen, auch Hauswirtschaftsdienste und Pflegeberatung anzubieten. Es gibt Pflegetelefone und Nachtcafés und – nicht zu unterschätzen – Mehrgenerationenhäuser. Und auch Stadtplanung, Architekturbüros und Wohnungsbaugesellschaften machen inzwischen ernst damit, dass in den neuen Wohnquartieren Rollatoren wie Kinderwagen über die Schwelle kommen und Häuser so barrierefrei sein müssen, dass auch Rollstuhl oder Krankenbett Platz finden. Aber nach wie vor leben die wenigsten älteren Menschen in barrierearmen Wohnungen. Die Refinanzierungsstrukturen in unseren Sozialsystemen machen eine integrierte Arbeit schwer. Je nachdem, ob jemand vor allem behindert oder pflegebedürftig, alt oder krank ist, wird er oder sie von unterschiedlichen Diensten versorgt, unterschiedlich untergebracht. So kommt es zu den bekannten „Verschiebebahnhöfen“ zwischen Kassen, Kommunen und Einrichtungen, in denen Hilfebedürftige einmal mehr zum Objekt der Hilfe werden. Initiativen wie das SONG-Netzwerk der Bertelsmann-Stiftung oder Wohnquartier hoch 4 hier in Rheinland-Westfalen-Lippe geben seit einigen Jahren Anstöße, neue Netzwerke zu knüpfen, um die entscheidenden Lebensbereiche Wohnen, Gesundheit, Bildung und Freizeit gut zu organisieren.

Es geht – in einem sehr tiefen Sinne – darum, das alte Schubladendenken zu überwinden. Dazu gehört es auch, die Zuordnung von Menschen in Kirche und Diakonie als Gemeindeglieder und als Klienten oder Kunden im Sozialsystem in Frage zu stellen. Interessanterweise haben die Kirchen sich damals nicht provoziert gefühlt durch die Thesen von Klaus Dörner. Längst hatten sie hilfe- und pflegebedürftige Ältere an die Diakonie delegiert – nicht nur aus Gründen der Professionalität, sondern auch aus Refinanzierungsgründen – und sie damit oft exkludiert. Sich gemeinsam aufzumachen in Richtung Gemeinwesen bietet nun die Chance, die Sprachlosigkeit zu überwinden und endlich alle – auch die Hilfebedürftigen – zuerst als Gemeindemitglieder wahrzunehmen. Genau das will die Gemeinwesendiakonie als Teil der Quartiersbewegung: Sie führt vom Fall zum Feld, sie führt aber auch Gemeinden aus der Milieuverengung zurück in die Parochie, Diakonie aus der Spezialisierung zurück in die Zivilgesellschaft und Kirche und Diakonie mit Dritten zusammen.

Es gibt inzwischen zahlreiche Projekte, in denen mit innovativen Konzepten hilfreiche Angebote im Quartier geschaffen werden. Von frühen Hilfen über Inklusionsnetzwerke bis zu Demenznetzwerken. Bürgerkommunen, Alternsgerechte Kommunen, Familienfreundliche Städte. Voraussetzung ist, dass die Kommunen, die sozialen Dienste, die Wohnungswirtschaft, aber auch Verkehrsbetriebe und Einkaufszentren sowie Ärzte bereit sind, sich in solchen integrativen Projekten zu engagieren und zu vernetzen. In der Regel ist für die Vernetzung selbst auch professionelle Unterstützung erforderlich – etwa im Quartiersmanagement oder in einem Familienzentrum oder Mehrgenerationenhaus. Hier sind die Kommunen, aber auch Kirche, Diakonie und die anderen Träger der Freien Wohlfahrtspflege besonders gefragt. Dabei geht es immer häufiger auch darum, überhaupt die Eckpfeiler des öffentlichen Raums und des nachbarschaftlichen Lebens aufrecht zu halten: eine Grundschule, einen Laden am Ort, die Praxis des Hausarztes, eine Kneipe oder ein Café, wo man sich ungezwungen treffen kann, regelmäßigen Nahverkehr. Über 650 ehrenamtliche Bürgerbusse sind inzwischen in Deutschland unterwegs, damit auch ältere Menschen mobil bleiben können. An immer mehr Orten entstehen gemeinsame Mittagstische, Pfarrgärten öffnen als Cafés und durch das gemeinsame Engagement für die Nachbarschaft entstehen die vielfältig propagierten „Sorgende Gemeinschaften“ mit starken Bindungen zwischen den Beteiligten, oft über die Grenzen traditioneller kultureller oder ethnischer Milieus hinweg. Damit das nachhaltig gelingt, damit Bürgerinnen und Bürger einander gegenseitig helfen können- Gemeindehäuser bieten sich dafür geradezu an.

Viele Diakoniestationen sind schon längst Teil dieses Netzwerks – sie arbeiten mit Krankenhäusern, Pflegeberatung, Kommunen zusammen. In Zukunft werden sie, so hoffe ich, eine weitergehende Funktion in einem integrativen Gesundheitsnetzwerk haben. Wenn wir wollen, dass wir alle auch im Alter möglichst lange in ihrem Umfeld bleiben können, dann muss die selbstverständliche Zusammenarbeit zwischen ambulanter Pflege, Kurzzeitpflege bis hin zum Betreuten Wohnen im Quartier auch von den Fördertöpfen her leicht umsetzbar sein. Dann braucht es gute Pflegeberatungsangebote in jedem Kreis mit Pools von Haushaltshilfen und der Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen in der Nachbarschaft. Mehrgenerationenhäuser, aber auch integrative Versorgungsnetze zeigen, wohin die Reise gehen kann. Dabei ist klar: Was hier zu tun ist, geht über die Möglichkeiten der Träger hinaus, es betrifft die Arbeit der Spitzenverbände und reicht weit hinein in die Gesundheits- und Sozialpolitik. Eine quartiersbezogene Finanzierungskomponente, eine regelhafte Planung sowie Angebote der Beratung.

 

5. Energien und Potenziale der Kirche und für die Kirche

Klaus Dörner wirbt mit seinem Konzept vom dritten Sozialraum für eine neue Wertschätzung der Kirchengemeinden und für die Wiedervereinigung von diakonischer Professionalität und kirchengemeindlichem Bürgerengagement. Kirchengemeinden, das ist die Hoffnung, könnten Caring Communitys im praktischen wie im seelisch sorgenden Sinne werden. Schon jetzt wird vielen Gemeinden neu bewusst, dass das diakonische Engagement substantiell zu ihrem Auftrag gehört. In Kirche und Diakonie werden deshalb gemeinsam Konzepte entwickelt für die Resozialisierung und Revitalisierung von Kirchengemeinden, damit sie eben nicht erst auf soziale Notlagen reagieren, sondern aktiv daran mitarbeiten, funktionierende Sozialräume zu gestalten und Notlagen präventiv zu verhindern.

Kirche? Da sind doch nur noch alte Menschen, sagen manche. Oder schlimmer: nur noch alte Frauen! Nun, gerade darin liegt auch eine besondere Stärke der Kirche. Fast 40 Prozent der evangelischen Bürgerinnen und Bürger über 60 nehmen nach eigener Aussage in irgendeiner Weise am Gemeindeleben teil – damit liegt die Kirche weit vor anderen Organisationen. Was diese Menschen einbringen können, ist nicht nur praktische Hilfe, sondern auch das kulturelle, geistige und geistliche Erbe, aus dem auch die nächsten Generationen noch leben. Ich denke an Kirchenkuratorinnen und ehrenamtliche Kirchenpädagogen, an Menschen, die Friedhöfe erhalten und Ortsgeschichte schreiben, an ehrenamtliche Prädikantinnen und Prädikanten in schrumpfenden Städten und Regionen, Stifterinnen und Stifter – materiell wie immateriell gibt es ein reiches Erbe weiterzugeben. Diese Menschen ärgern sich deshalb zu Recht, wenn sie das Gefühl bekommen, von der Kirche vor allem als potenzielle Hilfebedürftige wahrgenommen zu werden. Gerade diejenigen, die der Kirche nahe stehen, blicken nämlich, wie Untersuchungen zeigen, mit Zuversicht auf ihr weiteres Leben und können sich vorstellen, noch etwas Neues zu beginnen.

Ein enormes Potenzial. Kirche lebt von den Energien, die Zuwendung und Zusammenarbeit überhaupt möglich machen. Und sie hat zugleich die Erfahrung gemacht, dass diese Energien – insbesondere die Empathie von Frauen – lange Zeit als selbstverständlich vorausgesetzt und oft genug auch religiös ausgebeutet worden sind. Heute sind es die jungen Alten, die für den Aufbau von Sorgenden Gemeinschaften gebraucht werden. Und tatsächlich sind sie es, die sich in besonderer Weise ehrenamtlich für das Gemeinwesen engagieren und dafür auch Kompetenzen und Zeit mitbringen. Sie leben meist schon länger am Ort, haben Kontakte geknüpft und zudem – statistisch gesehen – deutlich an Lebenszeit hinzugewonnen. Allerdings können sie es sich wegen niedriger Renten zum Teil gar nicht leisten, für die Ehre zu arbeiten, und bewegen sich stattdessen mit Übungsleiterpauschalen, 450-Euro-Jobs und Bundesfreiwilligendienst in der Grauzone zwischen Erwerbsarbeit und Ehrenamt. Es wird viel davon abhängen, wie wir mit diesem Problem umgehen. Anders als zur Zeit der Gemeindeschwestern kostet Quartiersarbeit heute. Zudem ist das Quartier wie die Pflege selbst durchaus säkular und kulturell bunt. Werden die Gemeinden gleichwohl bereit sein, wahrzunehmen, dass Sorgearbeit eine spirituelle Dimension hat? Dass deswegen eine Zusammenarbeit über die verschieden Organisationen hinaus sinnvoll ist? In einen Netzwerk der Sorge, das am Ende auch die Gemeinde wachsen lässt – innerlich, und vielleicht auch äußerlich?

In den neutestamentlichen Texten begegnen wir Christinnen und Christen, die sich mit ihrer Taufe aus den Herkunftsfamilien gelöst haben und nun in den Gemeinden eine neue Familiaritas fanden: als Brüder und Schwestern, Patinnen und Paten. Ich denke dabei an die Tischgemeinschaft der ersten Christinnen und Christen in Jerusalem. Diese Gemeinde war wahrhaftig eine „Caring and enabling community“, auch, was die einfachen Sorgetätigkeiten anging. Güter wurden geteilt, Kranke besucht, für alle gemeinsam wurde der Tisch gedeckt. Jeder sollte satt werden – auch die griechischen Witwen, die ganz unten am Tisch saßen. Diese sorgende Gemeinschaft hatte hohe Anziehungskraft für Menschen aus ganz unterschiedlichen Herkünften und Milieus. Schon bald entwickelte sich eine neue, grenzüberschreitende Gemeinde, die wuchs, in dem sie Teilhabe ermöglichte.

Zum dowlnloaden: power-point-kloster-langwaden-2016-11-07