Predigt: 06.11.2016 in Kaiserswerth zum 15. Jubiläum der Kaiserswerther Schwesternschaft

Phil. 4,4 und 5

Freut Euch in dem Herrn alle Wege, und abermals sage ich: Freut Euch! Eure Güte und Lindigkeit lasst kund sein allen Menschen! Der Herr ist nahe.

Mir reicht‘s – so heißt das Buch der schwedischen Journalistin Elizabeth Gummesson,[1] die einen Burnout erlitt, weil sie in Arbeit und Liebe perfekt sein wollte. „Turbofrau, Turbokollegin, Turbotochter – und dabei blendend aussehen“ – bis sie nichts mehr fühlte und zusammenbrach. Das Buch ist ein internationaler Bestseller. Es hat viele Frauen angesprochen, denen es privat wie beruflich genauso geht. Pflegende, Flugbegleiterinnen, Erzieherinnen und Friseure kennen das Gefühl, sie müssten eigentlich ihr Herz verkaufen, damit der Betrieb funktioniert. Weil liebevolle Zuwendung zum Beruf gehört. Bei den Stewardessen und Hostessen – das zeigte vor Jahren eine Untersuchung -, hat die Firma das Lächeln gleich mitgekauft. So ist das in Dienstleistungsberufen – und in mancher Hinsicht auch in diakonischen Unternehmen. Viele in dieser Branche beenden ihre Berufskarrieren vorzeitig – nicht nur wegen der schlechten Bezahlung, oft auch wegen Erschöpfung und Erkrankungen. Sie können nicht mehr spüren, was sie einmal begeistert und motiviert hat. Sie können sich nicht mehr einfühlen in ihre Patienten und Bewohner, sich nicht mehr freuen an gelingenden Beziehungen.

„Dienet dem Herrn mit Freuden“, steht über der Tür des Mutterhauses in Magdeburg. Und „Eure Güte und Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen“, heißt es in unserem Schwesternschaftsmotto. „Unsere Lindigkeit – allen Menschen“? Ist das nicht eine totale Überforderung? Schließlich können wir doch nicht die ganze Welt retten, diese mobile und zunehmend chaotische Welt. Mit all ihrer Mobilität und Migration. Ich spüre geradezu körperlich, wie wir normalerweise aneinander vorbei laufen, uns kaum noch wirklich wahrnehmen. Wie die Zeit miteinander schwindet, die „Resonanzflächen“ geringer werden. Wie die Beziehungen selbst zu den nächsten Menschen zerfleddern oder reißen.[2] Viele haben schließlich das Gefühl, sich in diesen Zerreißproben selbst zu verlieren – vor lauter Investition ins Außen, vor lauter Anforderungen in Beruf, Familie, Nachbarschaft. Wir funktionieren, aber wir spüren uns nicht mehr. Wer kennt sie nicht, diese Momente der Leere, während das Hamsterrad sich zugleich immer schneller dreht.

Wie ein Powerpaket, ein Regenguss in der Wüste kommt da gleich zweimal dieses „Freut Euch“, der Wahlspruch der Schwesternschaft: „Freut Euch in dem Herrn alle Wege, und abermals sage ich: Freuet Euch“. Ein Tag ohne Lächeln, soll Charlie Chaplin gesagt haben, ist ein verlorener Tag. Lachen entspannt und bringt unsere Energie zum Fließen. Ganze Seminare leben davon. Kinder lachen übrigens im Schnitt etwa 400-mal täglich, Erwachsene nur noch 15-mal – vielleicht, weil wir uns immer ein bisschen albern vorkommen, wenn wir uns wie ein Kind über Kleinigkeiten freuen? Matthias Claudius hat das nichts ausgemacht – er dichtet: „Ich bin vergnügt und freue mich, wie’s Kind zur Weihnachtsgabe, dass ich bin, bin und dass ich Dich, schön menschlich Antlitz habe. Dass ich die Sonne, Berg und Meer, und Laub und Gras kann sehen. Und abends unterm Sternenheer und lieben Monde gehen…“.

Täglich zu singen“, heißt das Gedicht. Täglich lachen! Ich habe mir überlegt, woran ich mich hier in Kaiserswerth gefreut habe. Das Eichhörnchen in der Libanonzeder fiel mir gleich ein. Die Jugendmitarbeiterinnen und –mitarbeiter, die im Leitbildprozess plötzlich entdeckten, dass der Spaß im Leitbild fehlte. Die blühenden Magnolien vorm Mutterhaus. Und die japanischen Schülerinnen, die der Florence-Nightingale-Büste eine Blumenkette umhängten. Der Adventsgottesdienst, bei dem die Wünsche und Träume an Luftballons an die Kirchendecke schwebten. Die wilden Brombeerhecken an den Hingbenden. Und die Hebammen, die mir zum Abschied ein „Moseskörbchen“ schenkten – als Dank für den Palliative-Care- und Ethik-Prozess. Augenblicke, in denen uns alles antwortet: Natur und Schöpfung, aber auch die Begegnung mit anderen. Wo wir einander wahrnehmen und aufeinander hören mitten im Stress – als spielten wir in einem Orchester. Als tanzte das Leben nach einer unhörbaren Melodie. Freude ist wie ein Trampolin, das uns wieder in die Höhe wirft, wenn wir am Boden sind. Wir fallen nicht – wir fliegen. Freude ist die Lebenskraft in diesem Auf-und Ab.

Freut Euch nicht zu spät“, heißt das Buch von Janice Jakait, das mir kürzlich in die Hände fiel. Sie ist erste Frau, die mit einem Ruderboot den Atlantik überquert hat, weil sie sich endlich spüren wollte – und sie schreibt: Hört auf, das Leben zu verschieben, denn Ihr habt kein anderes. Hört auf, immer schneller durch Euren Alltag zu rennen – bleibt einfach mal stehen und seht, wie wunderbar die Welt ist.

Ja, das ist sie – wunderbar, aber auch schrecklich. Sollen wir die denn Tränen heimlich weinen, die Wut mit der geballten Faust in der Tasche verstecken? Lächeln, wenn uns zum Heulen ist? Alle Wege lächeln? Und allen Menschen mit Lindigkeit begegnen? Wie soll das gehen? Es stimmt ja – wer Verletzungen wahrnimmt und Wunden heilen will, der weiß, wie gut es tut, wenn andere gütig sind. Und Lindigkeit – was für ein wunderbares Wort! Wie eine heilende Salbe, ein kühlender Wind in der Sommerhitze. Leicht wie der Duft von Magnolien im Mai. Wer möchte anderen nicht so begegnen – mit einem Lächeln das Leben leichter machen? Aber gelingen kann das wohl nur, wenn ich mir selbst mit Güte begegne. Gegen die eigenen Traurigkeiten anzukämpfen, die eigene Enttäuschung herunter zu schlucken, hilft dabei nicht.

Vor 15 Jahren hat mich die Kraft beeindruckt, die in der Trauer der Hebammen lag – über ein tot geborenes Kind und auch über eine Spätabtreibung. Das Moseskörbchen wurde mit Liebe gestaltet, ein Sternenfriedhof angelegt, Gebete und Bilder gesammelt und schließlich setzte sich eine Ethikkommission mit den Rahmenbedingungen von Spätabtreibungen auseinander. Aber ohne die Schwester, die eines Tages in einer Gruppe ihren Tränen freien Lauf ließ, hätte es den Palliative-Care-Prozess wohl nicht gegeben. Wohl denen, die den Mut haben, ihre Tränen zu zeigen. Mit ihnen beginnt etwas Neues.

Und wohl denen, die, noch wütend werden können. Sie sehen schärfer als die immer Freundlichen. Eine Pflegedienstleitung sagte mir, sie merke es an ihrer Wut, wenn die diakonische Identität auf dem Spiel stehe. Sie könnte schreien, wenn auch in Diakonie und Caritas von menschlichen Lebensprozessen in wirtschaftlicher Sprache gesprochen würde: wenn „Patienten durchgeschleust“ würden, „Mindestmengen geleistet“, wenn „hundert Prozent Belegung in der Altenhilfe“ erreicht werden müssten, wenn Geburten und Todesfälle geplant würden wie Produkte. An Wut und Tränen spüren wir, dass etwas nicht stimmt. Und an Menschen wie diesen wird mir klar: Freude und Klage gehören zusammen. „Die mit Tränen säen werden mit Freuden ernten“, sagt die Bibel.

Nichts ist schlimmer als Gleichgültigkeit – Gleichgültigkeit tötet. Ja, wir brauchen einen kühlen Kopf. Strategie, Prozessplanung, Zeitmanagement. Und dabei lassen wir uns nicht gern von Gefühlen überwältigen – schon gar nicht, wenn wir die Emotionen anderer managen müssen. Vor einer OP, im Sterbeprozess, bei schwierigen ethischen Entscheidungen. Und trotzdem wissen wir: In den Gefühlen steckt eine Wahrheit, die wir nicht einfach übergehen können. Unsere Werte zeigen sich in Gefühlen. Unsere Empathie versteht den anderen, bevor wir seine Situation analysieren können.

Deshalb ist es wichtig, Enttäuschungen, Wut und Klage beim Namen zu nennen. Unser Gottesdienst fängt ja sogar damit an. Erst nach dem Kyrie kommt das Gloria. Naja – ganz stimmt das nicht. Genau genommen steht am Anfang die Einstimmung auf Gottes Liebe. Am Anfang steht das Wissen, dass ich mit allem, mit Wut und Traurigkeit, mit Freude und Glück hierher kommen kann. Vielleicht ist ja das gemeint, wenn Paulus schreibt: Freut Euch in dem Herrn! Gott selbst ist die Kraft, die uns noch im Fallen zum Himmel fliegen lässt – wie die Kinder auf dem Trampolin. Die Lebensfreude, die alle Traurigkeiten übersteht. Die mich anlächelt wenn alles in mir tot ist. Dass ich mich darauf verlassen kann, das ist meine Freude.

Vielleicht ist es Ihnen am Anfang nicht aufgefallen. Das Pauluswort endet mit einer Zusage: „Der Herr ist nahe!“ Am Ende wird alles gut: Gott macht das Leben neu – und zwar schon bald. Der Satz richtet sich ganz offenbar an Menschen, die davon gerade so gar nichts spüren. Er ermuntert sie und uns, einfach einmal so zu leben – in diesem Wissen, dass alles gut wird. Dass Wunden heilen werden. Und Tränen getrocknet. Wer sich darauf verlassen kann, der kann auch weinen und streiten und wütend sein. Und einfach tun, was jetzt möglich ist – nicht mehr und nicht weniger. Ohne Krampf und ohne Kampf. Denn er kann sich auch selbst mit Güte begegnen.

„Freut Euch in dem Herrn alle Wege…“. Uns die Lust am Leben zu erhalten – darauf kommt es an. Die Diakonissen, die den Wahlspruch gewählt haben, wussten sicher, dass das nicht leicht ist. Und dass es manchmal einfach reicht- wie Elisabeth Gummesson. Dass wir ab und an Zeit brauchen, um aufzutanken. „Einkehrtage“ nannte man das früher. Das ist an diesem Wochenende dran. Eine festliche Tafel, schöne Musik. Wahrnehmen, wie der Herbst die Farben verändert. Zeit füreinander haben. Am Ende finden wir aus Belastungssituationen heraus, wenn wir uns auf das Miteinander verlassen können. Bis wir wieder spüren, dass wir Lust und Kraft haben, uns selbst und unsere Umwelt zu verändern.

Denn da steht ja nicht: Freu Dich für Dich allein – und lächle Deinem Spiegelbild zu. Sondern freut Euch – und lächelt einander an. Aber freut Euch nicht zu spät.

Amen.

 

 

[1] Elizabeth Gummesson, Mir reicht’s. So befreist du dich aus Perfektionismus und Burnout, aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps, Weinheim 2012.
[2] Vgl. die Überlegungen von Hartmut Rosa zu „Beschleunigung. Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Berlin 2005 – und seitdem vielfältige Aufsätze und Texte zu Resonanz und Beschleunigung vom gleichen Autor