1. Worum es mir geht
Heimat ist zum Symbol für Identität geworden. Romantischer Sehnsuchtsort im Zeitalter der Industrialisierung, politisch instrumentalisiert im Dritten Reich, dann lange mit Sissi und Heidi identifiziert, liegt Heimat heute wieder im Trend – mit lokalen Brauereien, Landgasthöfen und regionaler Ernährung. Je mobiler die Gesellschaft wird, je mehr Optionen und Lebensstile zur Auswahl stehen, desto wichtiger wird der Lebensraum, in dem wir uns selbstverständlich und ungezwungen bewegen können, weil wir dazugehören. Nicht zufällig sind es ganz häufig die Kirchen und Dome, die das Heimatgefühl stärken – auch für die, die die Kirche selbst kaum noch besuchen. Ich denke an die Kirchenkuratoren und -kuratorinnen, die heute dafür sorgen, dass alte Dorfkirchen in Brandenburg oder in Mitteldeutschland saniert werden, die Kirchen offenhalten, auch wenn sie selbst gar nicht Mitglied sind. Aber auch an die wütenden Briefe, die ich schon vor zwanzig Jahren im rheinischen Landeskirchenamt erhielt, als in Duisburg der Streit um den Lärmschutz beim lautsprecherverstärkten islamischen Gebetsruf losbrach.
Das alles zeigt, wie verunsichernd der Transformationsprozess ist, der uns gerade herausfordert. Junge Leute ziehen in die prosperierenden Regionen; zurück bleiben die Älteren, weniger Beweglichen, die häufig Wohneigentum haben. Väter pendeln von Ost nach West zur Arbeit: Wo bereits Kinder in der Familie leben, sind es dann häufig die Mütter, die bleiben. Immerhin jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren pendelt. Wer häufig umzieht, verliert die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft. Familien mit kleinen Kindern, alte oder kranke Menschen geraten bei der Bewältigung des Alltags enorm unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen zurückgreifen können. Denn auch die Nachbarschaften verändern sich, weil Menschen von anderswoher zuziehen – als Arbeitssuchende, Migranten oder Flüchtlinge.
Kein Wunder, dass das Quartier in den letzten Jahren wiederentdeckt wurde – als ein Raum, in dem neue Formen der Kooperation zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich, zwischen zivilgesellschaftlichen Initiativen, Kommune, Sozialversicherungen und Trägern sozialer Dienste Antwort geben auf die drängendsten Bedürfnisse. Wo neue Chancen der Begegnung und der Teilhabe entstehen. Im Quartier, wo Menschen einkaufen, ihre Kinder zur Tageseinrichtung bringen, wo Schulen und Sportvereine Anknüpfungspunkte bieten und Ärzte für die Versorgung bereit stehen, begegnen sich unterschiedliche Menschen noch immer ganz selbstverständlich. Hier anzuknüpfen bedeutet, nicht nur fall-, sondern eben auch feldorientiert zu arbeiten und beispielsweise entsprechende Einrichtungen der Begegnung und Beratung zu fördern.
Ein instruktives Beispiel ist die Pflege älterer Menschen: 43 Prozent der Älteren leben inzwischen in Einpersonenhaushalten. Und wir wissen, dass viele alte Menschen nur deshalb in ein Altenheim gehen, weil sie ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen können. Gehen sie in eine stationäre Einrichtung, so verlieren sie damit nicht nur weitgehend ihre Autonomie und damit ein wesentliches Stück Lebensqualität. Diese „Lösung“ ist zudem extrem teuer, entweder für die Betroffenen selbst oder auch für die Kommunen. Auf der anderen Seite sind im Fall der familiären Pflege bei zunehmender Erwerbsarbeit der Frauen alle Beteiligten überfordert. Was gebraucht wird, ist ein ambulantes Setting mit Unterstützung beim Erledigen der Hausarbeit und beim Einkaufen. Eine quartiersbezogene Komponente, eine regelhafte Planung sowie Beratungsangebote in den Kommunen stehen deshalb in Altenhilfe und Pflegeversicherung genauso an wie zuvor in der Jugendhilfe und der Behindertenhilfe.
Auch wenn die Aufbrüche der Inneren Mission im 19. Jahrhundert vom Quartier ausgingen und ins Quartier zurückführten – die Entwicklung des Sozial- und Wohlfahrtsstaats führte über die Anstaltsdiakonie zur fallbezogenen Dienstleistung. Heute steht Diakonie institutionell und von ihren Kompetenzen her zwischen der Einzelfalllogik des Sozialstaates und der Quartiersbezogenheit der Kirche. Sie kann ergänzen, was Kirchengemeinden oft fehlt: professionelle Dienstleistungen, Unternehmensgeist, politisches Know-how. Dabei geht es auch um die gesellschaftliche Anschlussfähigkeit von Kirchengemeinden. Das Gelingen von Quartiersprojekten hängt davon ab, beides zusammenzubringen: Kirche und Diakonie, Lebensweltorientierung und Professionalität, Sozialraum und Dienstleistung.
2. Beispiele für Vortragsthemen
- Pflegeentwicklung in Quartier, Gemeinde und Nachbarschaft
- „Leben und sterben, wo ich dazugehöre“: Nachbarschaft, Quartier und Dritter Sozialraum als Grundlagen einer sorgenden Gesellschaft
- Was wir als Kirche mit dem Quartier zu tun haben – Zur Theologie der Gemeinwesenarbeit
- Sozialräume gestalten – Gemeinwesendiakonie als Teil des kirchlichen Reformprozesses
3. Mein Erfahrungshintergrund
Gründung des Wickrather Gemeinde- und Quartiersladens 1986, Diakoniepfarrerin im Evangelischen Kirchenkreis Gladbach-Neuss, Erforschung der traditionellen Gemeindeschwesternarbeit in Projekten der Kaiserswerther Diakonie, Begleitung von Projekten der Gemeinwesendiakonie in der EKD (u. a. Steuerungsgruppe „Kirche findet Stadt“).
4. Mein Buch zum Thema und weitere Publikationen
„Aufbrüche in Umbrüchen. Christsein und Kirche in der Transformation“, Göttingen 2016
„Transforming society from a diaconical perspective“ für GETI ’17 Reader der Evangelischen Missionsakademie, 2017
„Haltepunkt und Zusammenhalt – neue Aufgaben für Kirche und Diakonie im Gemeinwesen“ in: Sebastian Borck, Astrid Giebel, Anke Homann (Hg.): Wechselwirkungen im Gemeinwesen, Kirchlich-diakonische Diskurse in Norddeutschland, Berlin 2016
„Sozialräume gestalten. Gemeinwesendiakonie als Teil des kirchlichen Reformprozesses“ in: Klaus-Dieter Kaiser (Hg.): Lebendiger ländlicher Raum. Herausforderungen, Akteure, Perspektiven, Schwalbach 2014
„Diakonie und Gesellschaft“, Orientierungskurs Diakonie, Teil 11, in: Die Kirche 18.1.2015