Gott neu denken und neu sprechen – 7 Thesen mir kurzen Erläuterungen

Kaiserswerth Frauenmahl, 04.11.2016

Gott denken, von Gott sprechen – das ist meine Leidenschaft und mein Beruf. Und manchmal kommt sich beides in die Quere. Beruflich bemühen wir uns um Leistung und Meisterschaft, wir organisieren und schaffen Routinen – beruflich wird die Rede von Gott funktional. Und wenn das nicht funktioniert? Verstummen wir dann?

Manchmal ist das nicht das Schlechteste. Ich bin den Augenblicken nachgegangen, in denen ich Neues gelernt habe über Gott – im Gespräch mit Gott und den Menschen.

  1. Runter von der Kanzel, raus ins Freie: Ohne Schutzraum Neues wagen!
    Wie wichtig das ist, wurde mir in der Gemeindepraxis klar. Denn der Kontext der Rede von Gott ist nicht die Kirche, sondern der Alltag und besonders die Räume, in denen dem „unbekannten Gott“ gehuldigt wird: Wellnesshotel und Sportstudio, Sternerestaurants und Tafeln, Reproduktionsberatung und Palliativstation, Kreuzfahrtschiffe und Quartiersbüros, Notariate und Bankschalter, Schulen, Büros und Parlamente. Über das, was unbedingt wichtig, zentral und „heilig“ ist, wird in sehr verschiedenen Sprachen gesprochen, gestritten und geschwiegen. Wer sich auf das Unbekannte einlassen und den Unbekannten entdecken will, muss die alte Heimat Kirche verlassen und damit rechnen, dass Gott im Offenen wartet. In der Vielfalt der Milieus, Erfahrungen, Werte sind Konflikte – auch in der Kirche – unvermeidlich. Die abgeschliffene Rede trifft niemanden neu, das Immer-richtige hat sein Geheimnis verloren.
  1. Gott kann auch Allah heißen: Andere Gotteserfahrungen ernst nehmen
    Gott hat viele Namen – in unterschiedlichen Sprachen, in unterschiedlichen Kontexten. Das gilt schon in der Bibel selbst: Gott ist Adler und Henne, Töpfer und Hausfrau, Allmächtiger und Verachteter, Bauherr und Eckstein. Und es gilt auch in den verschiedenen Kulturen: Christen im Nahen Osten nennen Gott Allah wie die Musliminnen und Muslime, die der Tradition nach 99 Namen Gottes kennen. Das habe ich in meiner Nahostarbeit gelernt. Das Judentum spricht den Gottesnamen nicht aus. Globalisierung und Migration bieten die große Chance, mit Menschen aus anderen Kulturen und Religionen über Gott ins Gespräch zu kommen. Das gelingt nur, wenn wir Fremdes zunächst einmal aushalten und damit rechnen, dass unser eigenes Gottesbild im Austausch reicher und klarer wird. Das wir dem näher kommen, der uns im Wandel voraus ist und sich selbst wandelt („Ich werde sein, der ich sein werde“.)
  1. Woher wissen Sie, was Gott will? Wir müssen Ungewissheit aushalten
    Das habe ich in der Rundfunkarbeit gelernt. Meine Erfahrung mit Rundfunk-Hörerinnen und Hörern zeigt: Steile Thesen werden auf persönliche Erfahrungen abgeklopft. Weiß ich „aus der Bibel“, was Gott will – oder weiß ich es auch aus meinem eigenen Leben? Es ist die Situation, die den Text auslegt – so ging es mir in Kaiserswerth mit den Immobilien und Arbeitstexten, so ging es anderen in der Flüchtlingskrise mit der Weihnachtsgeschichte. Grundsätzlich gilt: Manches habe ich selbst erfahren, mit manchem kann ich (noch) nichts anfangen, anderes glaube ich oder ich hoffe darauf, ohne es noch erlebt zu haben, und hier und da ist mir ein Licht aufgegangen, weil ein Versprechen sich erfüllte oder weil meine Erfahrung einen alten Text neu auslegte. Wenn ich von Gott spreche, möchte ich diese Perspektiven deutlich unterscheiden. Nur so bleibt meine Rede von Gott befragbar und bezweifelbar. Denn „die Worte, die Leben spenden“ wie Gnade oder Erlösung begegnen uns in einer fremden Sprache, die schwer zu übersetzen ist (Bruno Latour). Wir geben Hilfe beim Über-setzen, indem wir von eigenen „Überfahrten“ erzählen.
  1. Wir dürfen keine Angst vor Zumutungen haben: Biblische Erfahrungen ernst nehmen
    Wir lesen biblische Texte auf dem Hintergrund der eigenen Erfahrung und blenden dabei Fremdes aus oder schleifen es bis zur Unkenntlichkeit ein. Das habe in der Debatte um die Familienschrift der EKD gelernt. Wir konzipieren Gottesdienste so, dass sie zum hermeneutischen Schlüssel werden – und konzentrieren uns auf das für uns gerade Wesentliche – genau wie vorige Generationen auch. Meine Erfahrungen mit der „Familienschrift“ zeigen aber: Fremdheit, Widersprüchlichkeit, Buntheit biblischer Erfahrungen und Texte und deren verschiedenen, jeweils zeitgemäßen (oder eben auch unzeitgemäßen) Interpretationen lassen sich nicht auf Dauer ausblenden. Pure Legitimation greift zu kurz. Kritik ist nötig, um Vielfalt zu erschließen und die eigene Position zu verorten.
  1. Bitte keine Floskeln: Zweifel nicht verstecken, Schweigen aushalten
    Das habe ich in der Arbeit mit Kammer und Kommissionen und Synodalausschüssen gelernt. Kritiker haben Recht: es gibt zu viele Worte, zu viele Stellungnahmen, zu wenig Glaubwürdigkeit im kirchlichen Handeln. Besonders problematisch: die Verkürzung komplexer Zusammenhänge auf anschlussfähige Floskeln. In den letzten Jahren wurde immer wieder einmal ein „Kirchenschweigen“ vorgeschlagen. Wichtiger scheint mir: runter vom „Allgemeingültigkeitsanspruch“, rein in die immer widersprüchlichen Kontexte, Transparenz und Selbstkritik im kirchlichen Handeln wagen. Und wo es (noch) nichts zu sagen gibt: Schweigen aushalten und Zweifel nicht verstecken. Der Dienst von Notfallseelsorger/innen oder Hospizmitarbeiterinnen, die das können, wird selten kritisiert!
  1. Gott ist per Du – Wir müssen Unmittelbarkeit wagen
    Das habe ich in der Arbeit mit Ehrenamtlichen gelernt. Erik Flügge („Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt“) spricht von der Per-Sie-Kirche (Institution, Amt und Struktur) und der Per-Du-Kirche (Freundschaft und Netzwerk). Mit Gott wollen wir per Du sein. Von ihm/ihr sprechen, heißt deshalb, Unmittelbarkeit wagen und die eigene Sprache finden. Persönlich, freundschaftlich, ungeschützt und unvollkommen. Auch die Bibel selbst ist existenzielle Rede. Auslegung ist Vergegenwärtigung – immer konkret, niemals harmlos. Darum eignen sich Geschichten und Gleichnisse so gut für Coaching und Gruppenprozesse. Alte Worte, die trotzdem unmittelbar wirken.
  1. Körper, Zeichen, Gesten: Alles spricht
    Von Gott reden nicht nur Worte, sondern auch Kinderzeichnungen und Habit, eine gedeckte Tafel und ein frisch gemachtes Bett oder ein Segenszeichen. Das Diakonissendenkmal auf dem Markt in Rotenburg. Die Grünhelme von Rupert Neudeck, die Besatzungen der Rettungsschiffe im Mittelmeer. Deutlicher als Worte spricht oft eine Lebensgeschichte, am deutlichsten die Geschichte Jesu. Deutlicher als Predigten spricht diakonisches Handeln, der Einsatz für Menschenrechte. Selbst die, die nicht an ihn glauben, reden vielleicht auf diese Weise von Gott. Das weiß ich aus meiner diakonischen Arbeit, nicht zuletzt in Kaiserswerth. Das bedeutet: das Wort gehört uns nicht. Es hat eine Geschichte, kommt auf uns zu. Und es braucht uns.
    Alles fängt damit an, dass wir uns darauf einlassen. Persönlich und ungeschützt.