„Dranbleiben und neue Wege entdecken“

Chancen und Herausforderungen einer älter werdenden Mitarbeiterschaft

 

1. Arbeitest Du noch oder lebst Du schon?

„Arbeitest Du eigentlich noch?“ Als ich dieses „noch“ zum ersten Mal hörte – irgendwann mit 55 plus – wurde mir bewusst, dass ich über meinen Ruhestand noch gar nicht nachgedacht hatte. Arbeit – das ist für mich Freude am Gestalten, das sind neue Entdeckungen und inspirierende Begegnungen. Ich musst wohl erst 60 und dann auch krank werden, um zu begreifen: Der Wunsch nach „Entschleunigung“, den ich schon länger spürte, hatte offenbar auch mit meinem Alter zu tun. In den Briefen, die ich jetzt bekam, war vom „Unruhestand“ die Rede, von ganz außergewöhnlichen Projekten und alten Träumen – und auch davon, dass nun endlich Zeit sei, die Freiheit zu genießen. Ohne Stechuhr und Controlling, ohne Gremiensitzungen. Der Eintritt in die Rente ruft die unterschiedlichsten Bilder wach – Bilder von der Erwerbsarbeit, aber auch vom Alter.

„Arbeitest Du noch – oder lebst Du schon?“ Noch nie in der Geschichte sind Menschen so gesund alt geworden, noch nie war die Breite der Bevölkerung so gut ausgebildet, so kompetent und selbständig wie heute, noch nie gab es auch so viele Möglichkeiten, sich selbst zu vernetzen und gut zu organisieren. Jetzt geht die Nachkriegsgeneration in Rente – Gestalter und Weltverbesserer zumeist, und 73 Prozent der Befragten ab 60 Jahren fühlen sich jünger, als sie es vom chronologischen Alter her sind – und zwar im Durchschnitt 5,5 Jahre (so der letzte Alterssurvey). Von Power-Agern ist jetzt die Rede – und Autoren und Künstlerinnen wie Christine Westermann, Udo Lindenberg oder die Rolling Stones zeigen uns neue Bilder vom Alter. Viele starten noch einmal durch, machen sich selbstständig oder gehen mit einem Projekt ins Ausland. Und die Baby-Boomer, die „Generation Willy Brandt“, die schon auf der Schwelle stehen, schauen sich bereits um, wie sie ihre Engagementerfahrungen in der dritten Lebensphase umsetzen.

Zugleich aber empfinden die meisten Menschen wachsenden Druck. Wir erleben eine Ausweitung der Betriebs- und Ladenöffnungszeiten bis hin zum Rund-um-die-Uhr-Betrieb in Fabriken, in Büros oder Call-Centern und natürlich auch in Krankenhäusern und Altenheimen. Wachsende Fallzahlen, mehr gefahrene Kilometer, kürzere Liegezeiten, mehr Umsätze. Das gilt für die Industrie wie für die Sozialwirtschaft. Die elektronische Vernetzung verkürzt die Reaktionszeiten und „just in time“ wird zur Erwartungshaltung nicht nur in der Logistik, sondern auch bei Mails. Moderne Arbeitnehmer sollen flexibel, mobil und jederzeit verfügbar sein. Sie sollen komplexe Prozesse gestalten und mit Unsicherheit umgehen können. Wer jung ist und nur einen befristeten Arbeitsplatz hat, fühlt sich unter Leistungsdruck, weil er die Festanstellung erst erarbeiten muss. Wer Familie und Beruf vereinbaren will, hat in der Regel zu wenig Zeit für Kinder und Partnerschaft. Und der letzte Alterssurvey zeigt: Ältere reagieren besonders sensibel auf das Klima am Arbeitsplatz. Die Fehltage durch stressbedingte Krankheiten haben sich von 2001 auf 2010 verdoppelt – Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Rückenleiden, Burnout. Ältere halten dem Druck nicht mehr Stand – oder sind einfach nicht mehr bereit, sich auszusetzen. Der letzte Alterssurvey zeigt: Immer weniger Erwerbstätigen gelingt ein nahtloser Übergang in die Rente. Viel häufiger sind Übergänge aus der Arbeitslosigkeit oder aus der Altersteilzeit, während zugleich um eine Erhöhung des Renteneingangsalters debattiert wird. Tatsächlich wäre ein späterer Eintritt mit 67, 68 oder sogar 70 für viele kein Problem, wenn unsere Arbeitswelt besser auf die unterschiedlichen Lebensabschnitte reagieren könnte, statt Menschen in starre Konzepte von Zeitstrukturen und Lebensaltern zu zwingen.

 

2. Use it or loose it – die Potenziale der Älteren

Gleichwohl stieg die Beschäftigtenquote bei den Männern über 60 zwischen 2000 und 2013 von 37 auf 57 Prozent, bei den Frauen sogar von 12 auf 42 Prozent. Die Belegschaften in Deutschland altern. Wir beobachten das gerade da, wo viele Beamte und Festangestellte arbeiten – im Öffentlichen Dienst und auch in Kirche und Diakonie. Der Nachwuchs fehlt – nicht nur bei Pfarrerinnen und Pfarrern, sondern auch bei Erzieherinnen, Sozialarbeitern, Pflegekräften. Selbst wenn es gelingt, junge Zuwanderer in die Arbeitsprozesse zu integrieren: spätestens in fünf Jahren, wenn die Babyboomer in die Rente gehen, müssen sich die Verwaltungen und Unternehmen der Frage stellen, wie sie ältere Mitarbeitende gesund und motiviert im Arbeitsprozess halten. Die demografische Entwicklung und der Fachkräftemangel zwingen uns, die Schätze der Älteren zu heben. Als wir das Thema vor einigen Jahren bei „Arbeit plus“ in den Mittelpunkt stellen wollten, fanden wir wenig Offenheit in den Unternehmen. Zu lange haben „wir ältere Arbeitnehmer als nicht mehr voll leistungsfähig angesehen und entsprechend aus den Unternehmen heraus gedrängt oder nicht eingestellt – auch mittels politisch institutionalisierter Regelungen wie Vorruhestand oder Altersteilzeit“, heißt es in der Altersdenkschrift der EKD von 2014. Erst vor kurzem habe man die Potenziale der Älteren entdeckt. „Unterstützt durch gerontologische Erkenntnisse, die die große Entwicklungsfähigkeit von Menschen bis ins hohe Alter belegen, ist heute das Leitbild eines aktiven Alters breit verankert.“

Der Demografie-Forscher Axel Börsch-Supan hat die Produktivität junger und älterer Mitarbeiter bei Daimler/Chrysler und der BASF evaluiert. Indikatoren waren dabei die Anzahl und Tiefe der Fehler in der Produktion. Dabei zeigte sich: die Älteren machten tatsächlich mehr Fehler – aber ihre Fehler waren nicht so gravierend wie die der jüngeren. Wenn man die Folgekosten berücksichtigte, waren die Fehler der Jüngeren deutlich teurer. Oder umgekehrt: die Produktivität der Älteren war höher. Margret Heckel, die für ihr Buch „Aus Erfahrung gut“ verschiedene Firmen und Wissenschaftlicher besucht hat, fasst das Ergebnis so zusammen: Das Alter selbst führt nicht zu niedrigeren Produktivitätswerten, wohl aber die Alterskohorte. Digital Immigrants können nicht aufholen, was Digital Natives mitbringen. „Eine 50-jährige ist möglicherweise im technisch messbaren Sinn „weniger produktiv“ als eine 20-jährige. Aber nicht als die 20-jährige, die sie selbst einmal war.

Trotzdem hält sich der Mythos, Ältere seien weniger leistungsstark. Das führt dazu, dass sie weniger Wertschätzung erfahren, weniger Fortbildungsangebote bekommen – und weniger sanktioniert werden, wenn sie dann tatsächlich geringere Leistung erbringen. Der Schutz durch Tarifverträge und Verabredungen mit Personalrat oder der MAV kann paradoxerweise dazu führen, dass die Anstrengungen auf beiden Seiten ausbleiben. Ich erinnere mich an eine solche Verabredung über IT-Programme, die Älteren ermöglichte, sich von neuen Programmen und Trainings abzukoppeln – damit aber auch Kommunikationsmöglichkeiten in der Abteilung lahmlegte. So geraten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die innere Kündigung. Betriebskulturen, die Kompetenz über den Status Positionsinhaber bzw. Positionsinhaberin definieren und aus Berufsjahren automatisch Beförderung und Kündigungsschutz ableiten, sind tendenziell innovationsfeindlich, sagt Margret Heckel; sie verhindern das selbstmotivierte Lernen auf allen Ebenen. Und umgekehrt: Nur eine Unternehmenskultur, in der über Hierarchieebenen und Altersgruppen hinweg kritisches Nachfragen erlaubt ist, bietet die Chance, am Puls der Zeit zu bleiben und die eigenen Kompetenzen „aktiv weiter zu entwickeln“. Studien über Arbeitszufriedenheit zeigen: Wenn Unternehmen Älteren keine Innovation mehr zutrauen, trauen die sich das auch selbst nicht zu. Es kommt darauf an, den Prozess zu drehen und langjährige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu einem neuen Commitment zu führen.

CLARA – Clever und Aktiv in Richtung Alter. So heißt ein Projekt, das die Deutsche Bahn zusammen mit dem Gerontologen Andreas Kruse aus Heidelberg ausgearbeitet hat. Wie wir altern, das sei in hohem Masse von der Arbeitswelt abhängig, sagt Kruse, der auch Vorsitzender der Kommission zum 7. Altenbericht der Bundesregierung wie der EKD-Alterskommission war. CLARA vermittelt Grundwissen zur geistigen und körperlichen Fitness und auch zur Wertschätzung Älterer im Unternehmen und schult Mentorinnen und Mentoren als Treiber des Veränderungsprozesses. Monotone Tätigkeiten, sagt Kruse, trügen dazu bei, dass die geistige Flexibilität zurückgeht. Da gelte die Regel „ use it or loose it“. Wer komplexes Wissen nicht mehr abruft, verliert es. Dabei haben die Älteren sehr viel einzubringen: Schneller als die jüngeren Kolleginnen und Kollegen erkennen sie Ursachen und Gesetzmäßigkeiten bei der Entwicklung von Handlungsstrategien. Auch Urteilsvermögen und Verantwortungsbewusstsein nehmen mit dem Alter zu – genauso wie konzeptionelles Denken, Kooperations- und Teamfähigkeit. Ältere sind geübt, ihr Wissen zu teilen, Mitarbeitende zu informieren und zu motivieren und Modellfunktion für andere zu übernehmen. Das sind Fähigkeiten, die man in Leitungspositionen braucht – die aber auch beim Mentoring oder für Trainer und Trainerinnen wichtig sind.

Für die Zukunft ist übrigens mit wachsenden Bildungsressourcen im Alter zu rechnen. Während unter den heute über 60- jährigen Menschen nur knapp zehn Prozent Abitur oder Fachhochschulreife haben, liegt der entsprechende Anteil in der Altersgruppe der heute 50–59-Jährigen bereits bei fast 18 Prozent. Von den über 60-Jährigen haben 32 Prozent keine berufliche Ausbildung abgeschlossen, in der Altersgruppe der heute 50–59-Jährigen sind dies nur noch 16,5 Prozent.

 

3. Noch einmal aufbrechen: Die zweite Karriere

Wenn Mitarbeitende wählen, was ihnen am wichtigsten ist – Geld, Aufstieg, eine erfüllende Aufgabe, Teamarbeit oder die Weitergabe von Wissen – dann zeigt sich: die Bedeutung von Autonomie nimmt mit dem Alter zu, Ältere wünschen sich eine Würdigung ihrer Kompetenzen. Außerdem wird es mit höherem Alter wichtiger, etwas Bleibendes zu schaffen und Erfahrungen weiterzugeben. Der Verlust an Organisationswissen ist übrigens auch für die Unternehmen ein großes Thema – vor allem, wenn viele Mitarbeitende zugleich in die Rente gehen. Wo auf der einen Seite die Beschäftigungszeiten kürzer werden, wo immer mehr Mitarbeitende in Teilzeit arbeiten und die Elektronik zugleich die Art zu dokumentieren, grundlegend verändert, kann es in wenigen Jahren zu erheblichen Einbrüchen kommen. Wie es gelingen kann, ihr Organisationsgedächtnis zu bewahren, das oft nur mündlich tradierte Wissen, wird zurzeit an verschiedenen Stellen erprobt. In Betrieben werden Wissenslandkarten erstellt. Anderswo werden Generationenbrücken gebaut, wo sich Azubis mit Rentnern treffen wie bei Ferrero. Dabei zeigt sich, dass auch vielen Älteren selbst gar nicht bewusst ist, welches Wissen sie im Lauf ihrer Berufskarriere angesammelt haben.

Wenn Routinen uns ersticken und wir das Gefühl haben, nichts Neues mehr zu entdecken; wenn der Leistungsdruck uns im Hamsterrad festhält, wenn uns Inspiration und Strategie fehlen – bei uns selbst oder auch beim Anstellungsträge, dann wird es Zeit für neue Aufbrüche. Rainer Thiehoff vom Demographie-Netzwerk betont, wie wesentlich es ist, dass Arbeitsverläufe immer neue Herausforderungen bieten. Viele sind der Meinung, ein Wechsel jenseits der 45 oder 50 sei viel zu riskant. Ingrid Blumenthal, heute Geschäftsführerin einer Pharma-Firma, wagte den Absprung und merkte, dass ihre Netze trugen. „Durchhalten manchmal, ausharren nie“, sagte sie sich und gibt ihr Motto heute an Jüngere weiter. Aber vor allem große Arbeitgeber wie die Kirchen haben auch die Möglichkeit, ihren Mitarbeitenden selbst neue Chancen zu eröffnen. Rainer Thiehoff schlägt Praktika in anderen Betrieben oder Bereichen des Unternehmens vor, um auch neue Fähigkeiten bei sich selbst zu entdecken. Einen Gastmonat in einem anderen Feld, einen im Ausland. In der Wirtschaft vielleicht organisiert über die Handwerkskammer – in der Kirche über Kirchenkreise, den VKI oder Unternehmensverbände wie den VDDD. So kann die Jugendmitarbeiterin in der Freiwilligenagentur mitarbeiten, der Verwaltungsmitarbeiter im Management der Flüchtlingsarbeit, die Erzieherin in der Schulsozialarbeit. Die Diakonie Michaelshoven hat gute Erfahrungen mit solcher Jobrotation gemacht und Diakonissenkarrieren funktionierten vor langer Zeit ganz selbstverständlich so – im Inland wie im Ausland. Kirche und Diakonie sind reich an den unterschiedlichsten Aufgaben und solche Seitenwechsel könnten gebündelt angeboten werden wie in der internen Jobbörse. Denn natürlich kann daraus auch ein Wechsel auf Dauer werden.

Im amerikanischen Community-Colleges werden solche „zweiten Karrieren“ gefördert und „Encore-Projekte“ angestoßen. Encore – das meint so etwas wie eine berufliche Zugabe. Für die, die in der Lebensmitte noch einmal studieren, kommt es nicht auf Einkommen und Karriere an – sie wollen ihre Erfahrungen einbringen, etwas zurück geben an die, die Unterstützung brauchen, sich einmischen in gesellschaftliche Veränderungsprozesse. An der Universität Standford gibt es viertätige Workshops für die, die beruflich umsteigen wollen. Dabei geht es vor allem darum, die Freude an der Arbeit wieder zu finden, Frust und Enttäuschungen zu reflektieren und sich über die eigenen Werte klar zu werden. Wer sich verändern will, muss bereit sein, in die Tiefe zu gehen und auch Gefühle zulassen. Viele entdecken ihre Berufung neu – und nicht wenige gehen danach in Arbeitsfelder wie Erziehung, Umwelt, Soziales und Gesundheit. Sie wollen sich mit ihren gesammelten Kompetenzen um gesellschaftliche Herausforderungen kümmern. Und auch bei uns setzen Menschen im mittleren Alter neue Hoffnung auf Kirche oder Soziales. Bei der Sozialholding Mönchengladbach, die mehrere Preise bei Arbeitsplus bekommen hat, wurde ein Ausbildungsprogramm für Ältere aufgelegt. Der Geschäftsführer Helmut Wallrafen-Dreisow warb mit dem Slogan „Wir sind älter als 50 – na und?“ „Wir machen das, weil wir an die Gleichheit der Menschen glauben“, sagt er. „Wir wollen Menschen so motivieren, dass sie ihre Stärken einsetzen können.“ Solche Senior-Azubis gibt es inzwischen auch bei der Ing-DiBA. Und vor kurzem lief im Fernsehen ein Film über einen älteren Praktikanten, der der jungen Geschäftsführerin eines Start-Up ganz nebenbei mit seiner Erfahrung den Rücken stärkte.

Bei Wallraffen-Dreisow gibt es übrigens eine Reihe Benefits für ältere Mitarbeitende: Sie erhalten innerhalb von zwei Wochen einen psychologischen Beratungstermin. Bei anderen Unternehmen sind Beratungszentren für soziale Fragen entstanden – zum Beispiel für die Pflege von Familienangehörigen.[1] Nimmt man hinzu, dass andere Unternehmen angesichts des kommenden Fachkräftemangels wieder Wohnungen für Mitarbeitende bauen oder Plätze in Tageseinrichtungen zur Verfügung stellen, dann wird klar: das kirchlich-diakonische Angebotsnetz von den Beratungsstellen bis zu den Wohnungsbaugesellschaften hätte hier viel zu bieten, um die Erwerbsfähigkeit von Älteren zu erhalten. Das gehört zu der Vielfalt der Maßnahmen, die nötig sind, um gegen Altersdiskriminierung in den Teams vorzugehen – von der Beteiligung Älterer bei Bewerbungsgesprächen bis hin zu einer guten Work-Life-Balance. (Chart)

 

4. Dranbleiben und Neues entdecken: Erwerbsfähigkeit erhalten

Jedes zweite Mädchen, das heute geboren wird, wird seinen 100 Geburtstag erleben. Wie viele Jahre davon wird sie erwerbstätig sein – und in wieviel Berufen? Heute beträgt die Lebenserwartung einer gut ausgebildeten Frau durchschnittlich 85 Jahre. Rechnet man Ausbildung und Studium bis zum 25zigsten Lebensjahr und den Eintritt ins Rentenalter noch mit 63 Jahren, so bleiben insgesamt 47 Jahre erwerbsfrei. Aber nicht arbeitsfrei. Sie hat Kinder erzogen, hat den Haushalt geführt und Angehörige gepflegt. Das statistische Bundesamt geht schon heute davon aus, dass die Zahl der informellen Arbeitsstunden die der Erwerbsarbeitsstunden bei weitem übersteigt. Was lange Zeit nur für Frauen galt, das gilt inzwischen auch für Männer. Arbeitsbiografien werden diskontinuierlicher. Ausbildungszeiten, Praktika, Arbeitslosigkeit, Erziehungs- und Pflegezeiten unterbrechen die kontinuierlichen Erwerbsverläufe; das alte, männlich geprägte Schema Ausbildung- Erwerbstätigkeit -Rente wird in Zukunft nicht mehr tragen. Und das ist gut so – denn der Druck der auf dem mittleren Lebensabschnitt lastet, kann sich lösen. Die Rushhour zwischen Mitte 20 und 40 mit den Doppel- und Dreifachbelastungen ist angesichts der schieren Länge unseres Lebens überhaupt nicht mehr nötig. Länger, aber flexibler ist die Devise. Übrigens ist Erwerbsarbeit noch immer für 54 Prozent der Männer das Wichtigste im Leben; bei Frauen liegt der Anteil bei nur 28 Prozent. (Markus Väth). Aber das gleicht sich an. Wir gehen auf eine Tätigkeitsgesellschaft zu: Auch die Sorgetätigkeiten und das bürgerschaftliche Engagement erfahren wieder mehr Wertschätzung. Das Konzept vom stetigen Aufstieg ist überholt – neue Karrieremodelle sehen mehr Projektarbeit vor, aber auch einen Wechsel zwischen Fach- und Führungsebene, durchaus auch in der letzten Berufsphase.

Das sind gute Aussichten. Zurzeit allerdings müssen immer mehr Bürgerinnen und Bürger Beruf und Sorgetätigkeiten vereinbaren. Das gilt vor allem für Frauen, die zunächst die Haus- und Erziehungsarbeit und später die Betreuung der Enkelkinder und die Unterstützung ihrer betagten Eltern übernehmen. Der Anteil der 55- 65 Frauen, die Beruf und Familie vereinbaren müssen, hat sich zwischen 1996 und 2014 vervierfacht. Entspannter, sinnvoller und dem schnellen Wandel angemessen wäre eine Mosaik-artige Erwerbsbiographie – mit Familien- und Pflegezeiten, aber auch mit verschiedenen Aus- und Weiterbildungsphasen. Was die IGM kürzlich gefördert hat, wird in einigen Firmen schon umgesetzt – zum Beispiel bei Trumpf, einem der Pioniere bei den lebensphasenorientierten Arbeitszeitmodellen. Es geht um Zeitsouveränität. Hier kommt uns der digitale Wandel entgegen. Immer mehr Firmen ermöglichen inzwischen Homeoffice, immer öfter gibt es weder feste Bürozeiten noch Stechuhr. Prinzipiell gilt: bei einer guten Passung zwischen beruflichen Anforderungen und persönlichen Interessen sind Ältere genauso motiviert wie jüngere.

 

5. Unterwegs in die Tätigkeitsgesellschaft: Den Übergang gestalten

Unsere Arbeitsgesellschaft baut heute darauf, dass jeder und jede Erwerbsfähige auch erwerbstätig ist. Davon hängen Steuern wie Sozialversicherungen ab. Auch wenn wir noch nicht wissen, wie viele Arbeitsplätze der digitale Wandel kosten wird – oder wieviel neue entstehen. Auch wenn wir über Robotersteuern und das bedingungslose Grundeinkommen diskutieren – der Verlust von Arbeitsplätzen macht Angst. Arbeit ist Selbstverwirklichung, kann Anerkennung bringen und sie verbindet uns mit anderen Menschen. Ziel muss sein, die Erwerbsfähigkeit möglichst lange zu erhalten. Deshalb hat z.B. die IGBCE schon 2012 die Arbeitszeiten gelockert und einen Demographie-Korridor zwischen 35 und 40 Stunden geschaffen. Und der Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demographie“ sieht vor, dass alle Unternehmen der Branche eine Altersstrukturanalyse machen müssen. Daran könnte sich Kirche und Diakonie durchaus ein Beispiel nehmen. Denn wir wissen viel über Pfarrpersonen und andere Beamte, aber die Zahlen über Erzieherinnen zum Beispiel sind lückenhaft.

In einer Studie des Wiesbadener Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung haben 47 Prozent der Befragten angegeben, sie würden nach Erreichen des Rentenalters gern weiterarbeiten – bei deutlich reduzierter Arbeitszeit natürlich. Die Zahl derer, die mit 60 aufhören wollen, zu arbeiten, geht seit 1996 kontinuierlich zurück. Der Alterssurvey der Bundesregierung zeigt für 2014 bereits 11 Prozent Rentner, die weiter erwerbstätig sind – und zwar über alle Schichten und keinesfalls nur aus finanziellen Gründen. In keiner Altersgruppe steigt die Beschäftigung derzeit so stark an wie bei den Rentnern – unmittelbar gefolgt von der Gruppe der 60-65-jährigen mit einem Beschäftigungsplus von 12 Prozent im Jahr.

Wie gut es Menschen tut, im Arbeitsprozess zu bleiben, zeigt Caitrin Lynchs Buch über die Nadelfabrik „Vita Needle“, das 2016 unter dem Titel „Geht’s noch? – Die Rentner-GmbH“ erschien. Vita Needle stellt seit einigen Jahren gezielt ältere Arbeitnehmer ein. Das Geschäftsmodell basiert darauf, dass der Staat die Anteile der Renten- und Krankenversicherung für die älteren Arbeitnehmer übernimmt, während das Unternehmen lediglich die anteiligen Lohnkosten nach dem Mindestlohn zahlt. Zum allgemeinen Erstaunen stellte sich auch hier heraus, dass die Produktivität des Unternehmens mit dem Alter seiner Mitarbeiter nicht fiel, sondern stieg. Die Älteren hatten Spaß am Job und waren motiviert – und zudem besonders loyal ihrem Arbeitgeber gegenüber. Und das Unternehmen achtet darauf, dass die jeweiligen Arbeitsplätze den gesundheitlichen Möglichkeiten der Mitarbeitenden flexibel angepasst werden. In diesem Buch findet sich ein Interview mit Alen Lewis, einem 84-jährigen Amerikaner, der bei Vita Needle arbeitet und sich weigert, in einen Altenclub zu gehen. Er könnte sich anstecken, meint er – „mit dem Alter“. Denn Alter werde einem beigebracht. Und er hat Recht: Alter ist auch eine soziale Konstruktion.

„Früher war klar: Kinder lernen, Erwachsene arbeiten, und die Alten ruhen sich aus. Das ist passe“, sagt Ursula Staudinger, die Alternsforscherin aus New York. „Wer sich aktiv bemüht, Veränderungen in der Welt mitzukriegen, wird den Anschluss nicht verlieren. Wir wissen aus der Forschung, dass es wichtig ist, im Leben mehrere Dinge zu haben, für die man sich interessiert.“ Mehr und mehr Unternehmen bieten mit Corporate Volunteering oder Senior Expert Service Programme an, die den Übergang von der Erwerbstätigkeit in das bürgerschaftliche Engagement der dritten Lebensphase gestalten helfen. Es geht eben nicht um eine Schwelle, sondern um einen Prozess, um einen Brückenschlag in die Tätigkeitsgesellschaft. Leider wird die Altersteilzeit, die ursprünglich gedacht war, um den Übergang flexibel zu gestalten, heute überwiegend im sogenannten Blockmodell genutzt.

In Psychologie heute erschien im August 2016 eine Untersuchung über den Übergang aus der Erwerbsarbeit. Da zeigen sich drei Wege: Es gibt die „Weitermacher“, die als Seniorberater, Freiberufliche oder Honorarkräfte oder auch ehrenamtlich weiter in ihrem Arbeitsfeld unterwegs sind. Und dann die Anknüpfer, die aus ihren bisherigen Kompetenzen etwas Neues entwickeln. Wir kennen das von Sportlerkarrieren: vom Spieler zum Trainer, zum Manager oder zum Sportartikelhersteller. Und schließlich die Befreiten, die froh sind, endlich raus zu kommen aus einem Job, den sie als entfremdet erlebt haben. Die waren schon weg, bevor sie verabschiedet wurden. Mit meiner Selbständigkeit gehöre ich selbst zu den „Anknüpfern“. Es macht Freude, Erfahrung weiterzugeben – und es braucht Zeit, eine neue Rolle und einen neuen entschleunigten Rhythmus zu finden. „Slow work“ – wie könnte das aussehen? Ich denke an die Plattform „Calm“ die Tipps und Hinweise gibt, gute und kreative Pausen zu. Nicht nur für Ältere, sondern für alle. Für den Alterssurvey beginnt die zweite Lebenshälfte übrigens mit 40. Altern ist ein lebenslanger Prozess. Das betont auch die Orientierungshilfe „Im Alter neu werden können“, an der ich mitarbeiten durfte. Im Rückblick ist mir klar geworden: Im Text geht es um kirchliche Angebote für Ältere, um Sorgenetze in der Nachbarschaft. Das Thema ältere Mitarbeitende – vor allem in der Kirche – kommt aber so gut wie gar nicht vor.

Alles fängt damit an, dass wir wahrnehmen, wie wir selbst von diesem Thema betroffen sind. Als Organisation, aber auch als Einzelne. In diesem Sinne: Wie geht es Ihnen? Arbeiten Sie noch, oder leben Sie schon? Oder haben Sie einen guten Weg gefunden, Arbeit und Freiheit zu verknüpfen – für Sie selbst und für Ihre Mitarbeitenden?

Cornelia Coenen-Marx, Mainz KVI 2018

 

[1] US-Psychologen haben übrigens berechnet, dass jeder Euro, der in das betriebliche Gesundheitsmanagement investiert wird, eine Rendite von fast 19 Euro bringt (S. 98)