Familie, Freundschaft, (Kirchen-) Gemeinden – Netzwerke der Sorge zwischen Tradition und Neuentdeckung

1. Zurück ins Gemeinwesen: Wir sind Nachbarn alle

Vor gut 20 Jahren hat der Sozialpsychiater Klaus Dörner die Einrichtungen und Verbände der Altenhilfe provoziert; er forderte – wie vorher schon für Psychiatrie und Behindertenhilfe – die Auflösung der Heime. „Ich will alt werden und sterben, wo ich gelebt habe“ – sein eingängiger Satz stand paradigmatisch für einen neuen Umgang mit Alter, Pflegebedürftigkeit und Sterben. Seitdem haben sich die Einrichtungen der Altenhilfe differenziert; mit betreutem Wohnen und Kurzzeitpflege, ambulanter Pflege und hauswirtschaftlichen Hilfen, aber auch mit Cafés und vielfältigen Kooperationen haben sie sich immer mehr ins Quartier geöffnet. Es gibt Pflegetelefone und Nachtcafés – und nicht zu unterschätzen Mehrgenerationenhäuser. Sozial- und gesellschaftspolitisch herrscht inzwischen Einigkeit über das Paradigma der Inklusion: die notwendigen Dienstleistungen sollen zu den Menschen kommen – und nicht länger umgekehrt. Niemand soll in ein Heim gehen müssen, nur weil er oder sie sich selbst nicht mehr versorgen kann; keiner soll isoliert sein, wenn er stirbt. Und auch Stadtplanung, Architekturbüros und Wohnungsbaugesellschaften machen inzwischen ernst damit, dass in den neuen Wohnquartieren Rollatoren wie Kinderwagen über die Schwelle kommen und Häuser so barrierefrei sein müssen, dass auch Rollstuhl oder Krankenbett Platz finden.

Die Quartiersbewegung will die Mauern durchlässig machen, die das Leben der Fitten und Leistungsstarken von dem der Hilfebedürftigen trennt. Doch die Refinanzierungsstrukturen in unseren Sozialsystemen machen eine integrierte Arbeit nach wie vor schwer. Es ist ein später Schritt in die richtige Richtung, dass im Pflegestrukturgesetz II nun Pflege, Hauswirtschaft und Betreuung gleichwertig sind – schließlich haben die Diakonischen Dienste seit langem angefangen, auch Hauswirtschaftsdienste und Pflegeberatung anzubieten. Aber je nachdem, ob jemand vor allem pflegebedürftig, behindert, akut krank oder demenzerkrankt ist, wird er oder sie von unterschiedlichen Diensten versorgt und unterschiedlich untergebracht. Auf dem Hintergrund der unterschiedlichen Refinanzierung von Krankenversicherung, Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe kommt es zu den bekannten „Verschiebebahnhöfen“ zwischen Kassen, Kommunen und Einrichtungen, in denen Hilfebedürftige einmal mehr zum Objekt der Hilfe werden. Dabei kann natürlich auch für einen älteren Menschen, der nach einem Schlaganfall aus der Klinik nach Hause zurückkommt, eine neue Eingliederung anstehen; eine Quartierskomponente ist also unverzichtbar, wenn die Dienste auch dazu dienen sollen, Netzwerke in die Nachbarschaft zu knüpfen. Initiativen wie das SONG–Netzwerk der Bertelsmann-Stiftung oder Wohnquartier hoch 4, getragen von Diakonie und Erwachsenenbildung in Rheinland- Westfalen- Lippe, geben seit einigen Jahren Anstöße, neue Netzwerke zu knüpfen, um Wohnen, Gesundheit, Bildung und Freizeit gut zu organisieren. Hier in Hamburg ist es nun Quartier hoch 8.

Es geht darum, das alte „Schubladendenken“ zu überwinden – dazu gehört auch die Zuordnung von Menschen in Kirche und Diakonie als Gemeindeglieder und als Klienten oder Kunden im Sozialsystemen in Frage zu stellen. Interessanterweise haben die Kirchen sich damals nicht provoziert gefühlt durch die Thesen von Klaus Dörner. Längst hatten sie hilfe- und pflegebedürftige Ältere an die Diakonie delegiert – nicht nur aus Gründen der Professionalität, sondern auch aus Refinanzierungsgründen – und sie damit oft exkludiert. Sich gemeinsam aufzumachen in Richtung Gemeinwesen bietet nun die Chance, die Sprachlosigkeit zu überwinden und endlich, alle – auch die Hilfebedürftigen – zuerst als Gemeindemitglieder wahrzunehmen. Darum geht es in der Gemeinwesendiakonie als Teil der Quartiersbewegung – sie führt vom Fall zum Feld, sie führt aber auch Gemeinden aus der Milieuverengung zurück in die Parochie, Diakonie aus der Spezialisierung zurück in die Zivilgesellschaft und Kirche und Diakonie mit Dritten zusammen. Projekte wie „Kirche findet Stadt“ oder „Wir sind Nachbarn. Alle.“ knüpfen diesen Faden weiter – und hier und da werden auch die guten Erfahrungen aus dem Community-Organizing aufgenommen.

 

2. Von der Gemeindeschwester zum Versorgungsnetzwerk

Vor einigen Monaten habe ich die Festrede zum 10-jährigen der Diakoniestation in Rotenburg/Fulda gehalten. Dort haben die Bürgerinnen und Bürger überall Bronzefiguren aufgestellt, die an die Geschichte der Stadt erinnern. Auf dem Marktplatz vor der Kirche steht eine Frau in der Tracht der alten Gemeindeschwestern. Sie erinnert daran, dass die Geschichte der Gemeindediakonie weit älter ist als die 10 Jahre der Diakoniestation – ja, dass ihre Tradition weit zurückreicht bis ins 19. Jahrhundert. Im Internet, wo sich das Team der heutigen Diakoniestation vorstellt, taucht, auf den älteren Bildern, nur noch eine Frau in Tracht auf: Schwester Elfriede aus dem Diakonissenmutterhaus in Kassel. Denn die Gemeindediakonie begann mit der Mutterhausdiakonie: die Mutterhäuser schickten ihre Diakonissen in die Gemeinden, wo sie im Team mit dem Pfarrer eine Netzwerkarbeit begannen: er für die Seele, sie fürs Soziale – er für das Wort, sie für den Leib, er für die Kirche, sie fürs Quartier.

In meiner Kindheit kam unsere damalige Gemeindeschwester, Schwester Helene, oft zu uns zum Frühstück – sie hatte dann ihre erste Schicht schon hinter sich und erzählte von ihren Patientinnen und Patienten; genauer: sie gab meinem Vater zu verstehen, wo er dringend einen Besuch machen sollte. Ich komme also aus einer Pfarrfamilie und habe von Anfang an beides erlebt: die Trennung und das Zusammenspiel von Kirche und Diakonie. Schwester Helene kannte die Familien im Viertel und wusste, wo es welche Probleme gab. Einer ihrer Lieblingssprüche ist mir in tiefer Erinnerung: „Ich mache so gerne Tote fertig“ – das klingt skurril, aber es erzählt vielleicht auch von der eigenen Sehnsucht nach Ruhe in einem turbulenten Alltag. Und von dem Bemühen um Würde, das ihre Arbeit durchzog – ein würdiger, ein versöhnter Abschied gehört dazu. In den letzten Jahren – unter den Rahmenbedingungen eines modernen Krankenhauses – habe ich keine der Pflegenden mehr einen solchen Satz sagen hören. Für viele Menschen war Schwester Helene eben nicht nur wegen ihrer praktischen Unterstützung hilfreich, sondern sie war, was man eine gute Seele nennt. Wie sie sich nicht fürchtete vor dem Umgang mit Krankheit, Tod und Sterben. Und weil sie immer wusste, was in den einzelnen Häusern los war, wer was brauchte und wer was hatte, konnte sie auch in Gemeinde und Nachbarschaft Hilfe vermitteln und das Netz weiter knüpfen. Sie war eine der letzten ihrer Tradition. Darin gab es – soweit ich es als Kind wahrgenommen habe – keine klaren Arbeitszeiten und auch keine genauen Bestimmungen darüber, welche Tätigkeiten sie ausüben sollte und welche nicht – und schon gar nicht war vorgeschrieben, wie lange sie etwa fürs Waschen oder Fingernägel schneiden brauchen durfte. Ob Schwester Helene so etwas wie Freizeit und ein Privatleben hatte – ich kann mich nicht erinnern.

Das Bild der „klassischen“ Gemeindeschwester erscheint den meisten Menschen nicht mehr zeitgemäß, angefangen vom Leben in einer christlichen Gemeinschaft mit der unklaren Trennung zwischen Arbeit und Freizeit bis hin zu der Tatsache, dass die Diakonissen unter ihnen nur Versorgung und ein Taschengeld bekamen. Gleichwohl verblasst dieses Bild nicht – im Gegenteil: das Diakonissendenkmal in Rotenburg wurde ja erst gesetzt, als es keine Pflegende mit Häubchen mehr gab. Was eigentlich macht die Attraktivität aus? Ganz offenbar hat das damit zu tun, dass die Herausforderungen, vor denen wir stehen, in manchem denen des 19. Jahrhunderts ähneln – auch wenn die Menschen im Durchschnitt deutlich wohlhabender sind als damals und Müllabfuhr, fließendes Wasser und Zentralheizungen selbstverständlich sind.

In der Zeit der Industrialisierung brachen für viele Menschen die sozialen Zusammenhänge, die sie getragen hatten, zusammen. Die Schattenseite der neuen Produktivität, des Anwachsens der Städte und des steigenden Wohlstandes waren Arbeitslosigkeit und Armut, Wohnungsnot und in der Folge oft Probleme mit Alkohol und Kriminalität, Schwangere und Mütter ohne Männer, die sie versorgt hätten. Christen wie Wichern oder die Fliedners fühlten sich in ihrem Glauben herausgefordert, sie sahen aber auch die Glaubwürdigkeit der Kirche herausgefordert und suchten neue, innovative Antworten. In Kaiserswerth wurden Frauen aus allen Schichten zu Krankenpflegerinnen oder Erzieherinnen und Lehrerinnen ausgebildet. Die Idee war, ledigen Frauen, eine Gemeinschaft zu bieten, in der sie Halt und Orientierung fanden, eine Wahlfamilie – und ihnen zugleich eine Aufgabe, ja eine Berufsausbildung zu bieten, die ihnen die Möglichkeit gab, an der gesellschaftlichen Entwicklung teilzuhaben – und gerade diese Koppelung war ein großer Erfolg. Von den sorgenden Gemeinschaften in Mutterhäusern und Bruderhäusern, die ihr christlicher Glaube, ihre Rituale und das gemeinsame Tun zusammenhielt, gingen neue Impulse in die Städte und Dörfer aus – mit Gemeindeschwestern und Diakonen, die ihrerseits für die Würde der anderen einstanden und Zusammenhalt stifteten.

Auch die gesellschaftliche Transformation, die wir gerade erleben, führt dazu, dass Menschen sich abgehängt und übersehen fühlen, dass sie den Eindruck haben, auf sie käme es nicht mehr an – Hartz IV-Empfänger, Menschen mit kleinen Renten, Migrantinnen und Migranten. Die Abgehängten sind keine Minderheit – manche reden von einem Drittel – und das Anwachsen dieser Gruppe bedroht den gesellschaftlichen Zusammenhalt, das Gefühl gerechter Teilhabe. Viele sind haltlos oder überfordert aus den verschiedensten Gründen – Jugendliche ohne Abschluss und Berufsausbildung; junge Erwachsene in der Rush-Hour zwischen Karriere und Familiengründung, aber immer in befristeten Arbeitsverhältnissen; Alleinerziehende, die neben der Erwerbsarbeit noch Kinder und alte Eltern zu versorgen haben; und auch allein lebende Ältere, die hilfebedürftige werden und mit dem täglichen Alltag überfordert sind. Dissozialität ist ein wachsendes Problem, weil Familie und Nachbarschaft in schnellem Wandel sind. Beschleunigung und dauernde Verfügbarkeit in der Erwerbsarbeit, hohe Mobilitätsanforderungen und Erwartungen an Flexibilität gehören zum Design unserer Gesellschaft genauso wie die Schattenseiten: mangelnde Vereinbarkeit, eine niedrige Geburtenrate, die multilokale Mehrgenerationenfamilie. Angesichts der wachsenden Zahl Älterer und Pflegebedürftiger werden in den Nachbarschaften und Gemeinden also Menschen wie Schwester Helene gebraucht – Menschen, die zupacken, Netzwerke knüpfen, Plattformen gründen und Räume öffnen, damit Bürgerinnen und Bürger einander gegenseitig helfen können. Das erklärt den neuen Aufbruch in Richtung „Sorgende Gemeinschaften“.

Es gibt inzwischen zahlreiche Konzepte, innovative Netzwerke im Quartier zu entwickeln. Von frühen Hilfen über Inklusionsnetzwerke bis zu Demenznetzwerken. Bürgerkommunen, Alternsgerechte Kommunen, Familienfreundliche Städte. Voraussetzung ist, dass Kommunen, die sozialen Dienste, die Wohnungswirtschaft, aber auch Verkehrsbetriebe und Einkaufszentren, Ärzte oder Nachbarschaftscafés bereit sind, sich in solchen integrativen Projekten zu engagieren und zu vernetzen. In der Regel ist dazu professionelle Unterstützung erforderlich – z.B. im Quartiersmanagement oder in einem Familienzentrum oder Mehrgenerationenhaus. Hier sind die Kommunen, aber auch Kirche, Diakonie und die anderen Träger der Freien Wohlfahrtspflege besonders gefragt. Dabei geht es immer häufiger auch darum, überhaupt die Eckpfeiler des öffentlichen Raums und des nachbarschaftlichen Lebens aufrecht zu halten: einen Laden am Ort, die Praxis des Hausarztes, eine Kneipe oder ein Café, wo man sich ungezwungen treffen kann, regelmäßigen Nahverkehr. Über 650 ehrenamtliche Bürgerbusse sind inzwischen in Deutschland unterwegs, damit auch ältere Menschen mobil bleiben können. An immer mehr Orten entstehen gemeinsame Mittagstische, Pfarrgärten öffnen als Cafés und durch das gemeinsame Engagement für die Nachbarschaft entstehen starke Bindungen zwischen dem Beteiligten, oft über die Grenzen traditioneller kulturellen oder ethnischen Milieu hinweg.

Die gelingenden Projekte und Netzwerke zeigen, wohin die Reise gehen kann – notwendig sind eine integrative Gesundheitsversorgung mit einer guten Beratung, eine Infrastruktur vor Ort mit der notwendigen Versorgung, öffentlichem Nahverkehr und Räumen der Begegnung, aber auch: eine aktive Bürgerschaft und die Beteiligung von Zugehörigen und Nachbarn. Das erinnert in manchem an die sorgenden Gemeinschaften des 19. Jahrhunderts: damals entwickelte Wichern auch Ideen für die Quartiersgestaltung in St. Georg, die neu gegründeten Mutter- oder Brüderhäuser gingen in die Kirchengemeinden, um gemeinsam neue Initiativen zu starten und Menschen, denen man bis dahin nicht viel zutraute, bekamen eine neuen Aufgabe. Aber natürlich hatte diese Entwicklung auch ihre Schattenseiten – und wenn wir die übersehen, kann der neue Aufbruch nicht gelingen.

 

3. Wo drückt der Schuh? Vor der Behandlung die Diagnose

Warum eigentlich klappt es bis heute nicht mit dem Grundsatz – ambulant vor stationär? Wir sehen doch seit langem, wohin es mit der ambulanten Pflege gehen müsste – die ambulanten Hospizdienste in der Krankenversorgung sind Vorreiter. Da gibt es nämlich integrative Teams aus Pflegenden und Ärzten, mit Sozialarbeitern, Seelsorgerinnen und Ehrenamtlichen Hospizhelfern – immer in Kontakt mit den Krankenhäusern. Aber hier geht es um die Pflegeversicherung, die eben keine Vollkasko-Versicherung ist, wie man so schön sagt. Im Zusammenhang der Woche für das Leben hat der Ratsvorsitzende der EKD übrigens gerade gefordert, diese Deckelung aufzuheben – das rührt an den Ursprungsstreit über die Finanzierung und Verortung der Pflegeversicherung. Die Einführung der Pflegeversicherung war ja zunächst durchaus ein Fortschritt – und dazu gehörte auch, dass Schwester Helene und andere nicht mehr allein auf weiter Flur arbeiten mussten, sondern in ein Team eingebunden wurden, in dem sie Vertretung und fachlichen Austausch fanden. Wie kommt es also, dass sich noch immer Menschen nach der alten Gemeindeschwester zurück sehnen? Es gibt ja sogar schon Gemeinden, die neue Modelle einer professionellen, nebenamtlichen diakonischen Mitarbeiterin, einer Gemeindeschwester neuer Form, entwickelt haben, um die Netzwerkarbeit wieder zu stärken. Leider allerdings oft im Rahmen eines 450 Euro Nebenjobs. Mit der Professionalisierung, die das Berufsbild der generalistischen Gemeindeschwester zur Pflegekraft vorantrieb, wurde Pflege schließlich Teil des Gesundheitssystems – abhängig nicht nur von den fachlichen, sondern auch von den ökonomischen Standards, die dort gesetzt werden. Dementsprechend leidet sie unter dem Druck von Effektivierung und Effizienz, von Modularisierung und Dienstleistungsketten – und, angesichts der knapp gewordenen Zeit, unter der Entfremdung, die mit den Beschleunigungsprozessen einhergeht.

Dass Pflege zudem im Verhältnis schlecht bezahlt wird – Heinz Bude spricht inzwischen von dem neuen Dienstleistungsproletariat – hat aber nicht nur mit einem durch demografischen Wandel und dem durch den medizinischen Fortschritt überforderten Gesundheitssystem zu tun, sondern auch mit dem unguten Erbe der Mutterhäuser und Schwesternschaften. An der Wurzel der diakonischen Pflegegeschichte steht die Überzeugung, dass Frauen zur Nächstenliebe geboren seien – und dass die Pflegeberufe eine Art Ersatz für die Arbeit der Ehefrau in der Familie sind. Nicht zuletzt unter dem Druck der Frauenbewegung wurde im Laufe der Jahrzehnte berufliche Professionalität entwickelt – die Geschichte zeigt aber, dass Professionalität und Ökonomie immer wieder, nicht erst heute, in Spannung zueinander gerieten – im Streit um den 8-Stunden-Tag, die Länge der Ausbildungszeiten, um fachlich überzeugende Curricula[1]. Gleichwohl: über lange Zeit hatten Diakonissen und Gemeindeschwestern gesellschaftlich einen hohen Status.

Heute fehlt der Care-Arbeit die Anerkennung – beruflich wie privat. Das zeigt sich auch bei der Polarisierung sozialer Lebenslagen – insbesondere zwischen Ein- und Zwei-Verdiener Haushalten, vor allem aber zwischen denen, die für Kinder oder Pflegebedürftige sorgen und denen, die sich auf die eigene Erwerbstätigkeit konzentrieren können. Mit der Verantwortung für die Erziehung von Kindern oder die Pflege von Kranken und Sterbenden in der Familie steigt das Armutsrisiko von Frauen. Die Wohlfahrtsökonomie verlöre an Strahlkraft, hat der Soziologe Thomas Klie neulich gesagt – unsere Gesellschaft ist eine Erwerbsgesellschaft: Aufstiegschancen, Armutsvermeidung und Konsummöglichkeiten für den Einzelnen wie eben auch die soziale Sicherung hängen von der Erwerbstätigkeit ab. Das bedeutet auch, dass wenig Platz bleibt für diejenigen, die auf Zuwendung und Hilfe anderer angewiesen sind – allen politischen Konzepten von Inklusion zum Trotz. Der Siebte Familienbericht hat bereits von einem kommenden Care-Defizit gesprochen. Wenn Frauen wie Männer erwerbstätig sein sollen – und nicht nur, wie zur Zeit nach dem Ehegattensplitting-Modell mit einem Vollzeit- und einem Halbtagsjob, dann braucht es eine qualitativ hochwertige und gut ausgebaute Infrastruktur in Erziehung, Bildung, Pflege und auch eine bessere finanzielle Absicherung der Zeiten, die Männer wie Frauen in der Familie mit Erziehung und Pflege verbringen. Noch sind wir weit davon entfernt: die meisten denken noch immer nur an Kindererziehung, wenn von Vereinbarkeit die Rede ist, Pflegeversicherung wie Pflegezeit sind beide Teilkasko-Modelle, denn sie lassen das größte Risiko bei den Betroffenen, und das Ehegattensplitting berücksichtigt längst nicht mehr alle Familien. Letztlich geht es um einen Mentalitätswandel: es geht darum, Care- und Fürsorgearbeit in den Familien, aber auch in der Zivilgesellschaft – in gleicher Weise anzuerkennen wie Erwerbsarbeit. Denn nur in einem guten Zusammenspiel von Familien und Dienstleistern, Arbeitgebern und Nachbarschaft können die zukünftigen Herausforderungen gemeistert werden.

Noch aber gilt: auch Ehrenamt muss man sich leisten können. Die meisten Engagierten sind gut situiert – familiär, finanziell und auch, was ihre Bildungsvoraussetzungen angeht. Sie verfügen über gute Kontakte und viele von ihnen haben auch einen offenen Blick für neue Herausforderungen. Sie setzen sich ein, um Notlagen zu mindern, anderen auf die Beine zu helfen und sich dabei selbst auch weiter zu entwickeln. Der Trend geht weg von der Geselligkeitsorientierung hin zur Gemeinwohlorientierung, Tafelarbeit, Flüchtlingsinitiativen, Nachbarschaftshilfen sind wichtige ehrenamtliche Arbeitsfelder – für die, die es sich leisten können. Wer finanziell nicht gut abgesichert ist oder wenig Beziehungen hat, bleibt auch in der Kirche oft außen vor. Inzwischen gibt es allerdings eine Grauzone zwischen dem klassischen Ehrenamt und prekären Beschäftigungsverhältnissen – mit Übungsleiterpauschale, Bürgerarbeit und Minijobs. Es gibt die Langzeitarbeitslosen, die den Bundesfreiwilligendienst für sich entdeckt haben, und die Rentnerinnen, die ihre ehrenamtliche Aufgabe als Zusatzjob verstehen. Weil eben ihre Rente allein nicht reicht. Wer genau hinschaut entdeckt, dass gerade das soziale Ehrenamt in Deutschland in hohem Maße von Frauen, in der Regel von Familienfrauen und eben auch von den jungen Alten getragen wird. Dieses Potenzial erodiert mit veränderten Erwerbsverläufen – wenn wir nicht für eine bessere Vereinbarkeit, für eine finanzielle Anerkennung von Care-Arbeit und Engagement und für eine auskömmliche Grundrente sorgen. Das ist vielleicht die größte Herausforderung des Konzepts von den Sorgenden Gemeinschaften.

Und das kreuzt sich mit dem Befund, dass mit der Professionalisierung der Pflege und ihrer Einbindung ins Gesundheitswesen diejenigen Aspekte der Gemeindeschwesternarbeit weggefallen sind, die eher Sozialarbeit waren oder auch Beratungscharakter oder Seelsorgecharakter hatten. Auch deshalb, weil es dafür keine Refinanzierung aus dem Gesundheitssystem mehr gab und weder Kommunen noch Kirchen die Notwendigkeit oder die Möglichkeit sahen, hier Ersatz zu schaffen. Inzwischen unterhält z.B. die Stadt Hannover Koordinationsstellen für Besuchsdienste, für Nachbarschaftshilfen und finanziert Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter die sich um Dissozialität kümmern. Aber die Frage, wie es gelingen kann, die professionelle Pflege nicht nur mit Hauswirtschaft und Betreuung, sondern auch mit anderen Dienstleistungen im Quartier und mit bürgerschaftlichem Engagement zu verknüpfen, geht Kirche und Diakonie noch einmal in besonderer Weise an. Zum einen, weil das nur mit einem Zusammenspiel gelingen kann – wie schon das Gemeindeschwesternmodell aus einer Kooperation von Gemeinden und Mutterhäusern hervorging. In der Quartierspflege und in Netzwerken einer altengerechten Stadt geht es um Gemeinwesendiakonie. Zum anderen, weil hier die Kirche auch mit ihren Räumen und ihren hauptamtlich Mitarbeitenden – und das heißt mit ihren eigenen Ressourcen gefragt ist – es geht um die Aufgabenbeschreibungen von Gemeindepädagogen, Diakoninnen, Sozialpädagogen, aber auch mit Küstern oder Musikern, es geht aber auch um den Umbau von Gemeindehäusern zu Gemeinwesenzentren. Die so verehrte Gemeindediakonisse hat aber den Kirchengemeinden bis in die 60er Jahre hinein nichts gekostet – es waren die Mutterhäuser, die Spenderinnen und Spender und eben die Schwestern selbst, die bis auf ein Taschengeld auf Einkommen verzichteten. Und deshalb der dritte Grund, warum nun die Kirche gefragt ist: Sorgenetzwerken und Sorgende Gemeinschaften speisen sich aus den spirituellen Energien, die Zuwendung und Zusammenarbeit überhaupt erst möglich machen: Nächstenliebe, Einfühlung, Dankbarkeit, Verbundenheit und Verantwortung. Damit ist aber auch die Erfahrung berührt, dass diese Energien – insbesondere die Empathie von Frauen – lange Zeit als selbstverständlich vorausgesetzt und oft genug auch religiös ausgebeutet worden sind. Heute spielen die Kompetenzen, die Zeit und die Erfahrungen der jungen Alten eine wichtige Rolle, wenn es um den Aufbau von Sorgenden Gemeinschaften geht. Und tatsächlich sind sie es, die sich in besonderer Weise ehrenamtlich für das Gemeinwesen engagieren und dafür auch Kompetenzen und Zeit mitbringen. Sie leben meist schon länger am Ort, haben Kontakte geknüpft und zudem – statistisch gesehen – deutlich an Lebenszeit hinzugewonnen. Aber – wie gesagt – sie müssen sich das Ehrenamt auch leisten können. Und sie brauchen und wollen Raum, es eigenständig und eigensinnig zu gestalten. Wenn die Geschichte des Sorge-Engagements noch einmal neu beginnen soll, ist auf diese Herausforderungen zu achten.

 

4. Familien, Freundschaften, Wahlverwandtschaften

Heute dauert die nachberufliche Phase nicht selten 20 bis 30 Jahre. Für die Mehrheit der Älteren ist die Großelternschaft eine Sinn gebende Altersrolle, sie verbinden damit ein hohes Maß an Wohlbefinden, Erfüllung und Zufriedenheit. Zugleich sind sie in diesen Bezügen selbst auch Lernende. Aus dem letzten Deutschen Alterssurveys (2010) geht hervor, dass der Generationenvertrag in den Familien nach wie vor wirkt: Rund 36 Prozent der 70 bis 85-Jährigen bedenken ihre Kinder und Enkel mit Geld- und Sachleistungen, jährlich 3,5 Milliarden Arbeitsstunden investieren die 60 – 85–jährigen darüber hinaus für die Hilfe in der Familie und die Betreuung der Enkel. Umgekehrt erhalten Ältere, wenn sie hilfsbedürftig werden, vielfältige praktische Hilfen zur Bewältigung des Alltags – bei Einkauf, Behördengängen, Arztbesuchen und Instandhaltung der Wohnung bis hin zur Pflege. Und tatsächlich werden noch immer die meisten Pflegebedürftigen in den Familien gepflegt – von Töchtern, Schwiegertöchtern, Ehefrauen, aber auch inzwischen auch zu einem Drittel von Männern. Die selbstverständliche Teilnahme von Frauen an der Erwerbsgesellschaft, die zunehmende Mobilität wie auch der demographische Wandel führen allerdings dazu, dass das sogenannte Töchter- und Schwiegertöchter Pflegepotenzial schrumpft – nicht zuletzt, weil die, die für die Care-Arbeit sorgen, finanziell benachteiligt und zeitlich in Zerreißproben stehen. Ehe wir allerdings die goldenen 50er verklären, sollten wir uns daran erinnern, dass dieser Prozess bereits im 19. Jahrhundert begann; gerade deswegen entstand ja die neuzeitliche Diakonie mit Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern und Kindergärten und mit den diakonischen Gemeinschaften. Sie waren Wahlfamilien für ihre Mitglieder und zugleich Familienergänzung und –unterstützung für große Teile der Bevölkerung.

Heute ist unsere Gesellschaft wieder im Aufbruch in Richtung Wahlfamilien. Immerhin lebt inzwischen fast die Hälfte der älteren Menschen als Singles. Sie können – wie die ganz Jungen – Pioniere der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um ein gutes Leben und nachhaltiges Wirtschaften sein. Auf Schloss Blumenthal in Bayern haben sich Menschen zusammengetan, um miteinander anders zu leben. Eine bunte Mischung von Individualisten vom Parkettpfleger über den Mediziner, von der Hotelkauffrau bis zur Steuerfachangestellten oder zur Yogalehrerin. Ihre Zukunftsvision ist ein Grundeinkommen für jedes Mitglied aus den Gewinnen der Betriebe und eine gemeinsame Altersversorgung. Schloss Blumenthal ist eine GmbH und Co. KG; die Basis bildet ein Hotel mit 80 Betten in einem alten Herrenhaus, ein Gasthaus sowie Gärten und Parks. „Wir stehen hier immer vor der Frage, wie sieht unsere Balance zwischen Ökonomie und Gemeinschaft aus“, sagt der Geschäftsführer, Martin Horack, der hier einst mit 8 Familien begann und inzwischen in einem kleinen Dorf lebt – mit Kindern und Älteren und Menschen aus allen Berufsgruppen. Für Menschen, die alleinerziehend mit Kindern leben, die in die dritte Lebensphase eintreten und damit rechnen, mehr Hilfe zu brauchen, für Menschen mit einer Behinderung oder für Singles, die einen Ort der Zugehörigkeit suchen, wird es wichtiger, darüber nachzudenken, wo und wie sie leben. Und viele haben das Gefühl, dass Ökonomie und soziale Nachhaltigkeit aus der Balance geraten sind.

Die Idee : starke Nachbarschaften, in denen man einander wechselseitig hilft. Es geht eben nicht nur darum, Dienstleister hineinzubringen. Es geht vielmehr darum, dass die Generationen mit wechselseitiger Unterstützung füreinander einstehen. In der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung hat sich ja längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Funktionsfähigkeit des bisherigen wie gegenwärtigen Sozialstaats zum größeren Teil auf der informellen Wohlfahrtsproduktion beruht. Erziehung und Pflege in den Familien, Engagement in Nachbarschaft, Vereinen und Gemeinden, überhaupt jede Form sozialer Hilfeleistung und gesellschaftlicher Solidarität, bilden die eigentliche und unverzichtbare Grundlage und Voraussetzung unseres gesellschaftlichen Reichtums.

Dabei spielen die Unterstützungsleistungen bei Haushalt, Wäsche, Einkäufen eine zentrale Rolle – sie erfordern und ermöglichen Austausch und Kommunikation. Familien- und Hausarbeit, bis in die Nachkriegszeit ganz selbstverständlich von Frauen erwartet, wird heute zunehmend unterbewertet. Auch wenn wir vieles davon kaufen oder delegieren können – heute an Dienstleister, früher an Dienstmädchen – im Kern geht es um Beziehungen, die sich nicht delegieren lassen. Im Kochen, Pflegen, Schulaufgaben begleiten kann sich auch etwas anderes ausdrücken: Da-sein und Zeit haben, ein Sich-Kümmern um das Wohlergehen eines/r anderen, seine Heilung, seine Zukunft. Darum stößt das ökonomische Denken hier an eine Grenze – es geht um die Grundbedingungen‚ guten Lebens, um die Weitergabe von Kultur und den gesellschaftlichen Zusammenhalt – die Einsparung von Zeit, das Schielen nach Effizienz passt nicht.

Auch professionelles soziales Handeln ist immer Beziehungshandeln. Ob in der Pflege oder der Stadtteilarbeit, in der Frühförderung oder vielleicht gerade in der Sterbebegleitung: immer geht es darum, eine tragfähige Beziehung zwischen Hilfebedürftigen und Helfern zu erhalten oder aufzubauen. Gesundheit lässt sich nicht einkaufen wie ein Medikament, Erziehung nicht überstülpen, eine Therapie hängt von der Bereitschaft der Betroffenen ab, sich mit sich selbst auseinander zu setzen. Mehr als in anderen Arbeitsfeldern basiert der Erfolg auf einer gelungenen Kooperation. Natürlich sind eine achtsame Haltung und die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen, über alles Expertenwissen und Handwerk hinaus Teil der Professionalität in sozialen, Gesundheits- und Bildungsberufen – zugleich aber kommt diese Fähigkeit gerade da an ihre Grenzen, wo diese Branchen denselben Beschleunigungs­ und Ökonomisierungsmechanismen unterliegen wie andere auch. Professionalisierung bedeute immer auch Vereisung, wie Andreas Heller sagt.

„Wir brauchen Freunde und Freundinnen, eine Kultur der Freundschaft. Freundschaft begründet sich in dem Wissen, dass wir wohl immer mehr empfangen, als wir zu geben in der Lage sind.“[2], schreibt Andreas Heller. „Die Sorge füreinander kann uns helfen, reicher, lebendiger und sinnvoller zu leben – Resonanz zu erfahren. Freundschaft geht über die berufliche Arbeit hinaus – sie lässt sich nicht bezahlen, nicht organisieren und professionalisieren…“. „Ein guter Freund ist jemand, der einen an einen selbst erinnert, wenn man sich aus den Augen verloren hat“, schreibt Ariadne von Schirach in ihrem Buch „Du sollst nicht funktionieren“: „Dieser Blick ist unersetzlich, vor allem, weil es manchmal leichter ist, sich selbst zu täuschen als einen Menschen, der einem nahe steht. Eine Zeit, die ihre soziale Energie auf die Fragen nach Nützlichkeit oder sexueller Attraktivität beziehungsweise Verfügbarkeit reduziert, ist nicht nur widerwärtig, sondern beraubt die ihr unbedacht Folgenden auch aller Erfahrungen von Fürsorge, Loyalität und Großzügigkeit“[3].

Wie wichtig es ist, die Gemeinschaft, aus der ein Mensch kommt, im Blick zu haben und die Beziehungen nicht einfach abzubrechen, sondern einzubeziehen und zu ergänzen, das hat die soziale Arbeit in vielen Arbeitsfeldern durchdekliniert: in der Adoptions- und Pflegekinderarbeit, in der Hospizarbeit, in der ambulanten Suchtkrankenhilfe, der Betriebs-Sozialarbeit und nun in dem Bemühen um ein gutes Versorgungsnetz im Stadtteil. Was würde es nutzen, zu Hause alt zu werden und zu sterben, wenn dieses zu Hause nichts weiter ist als eine Wohnung ohne Geschichte? Wenn ich die Nachbarn kaum kenne, immer neue Dienstleister kommen, die Unterstützung im Alltag fehlt? 33 Menschen heißt es, müssten wir kennen, um uns an einem Ort zu Hause zu fühlen – 33 Menschen vom Arzt bis zu Bäcker, von der Nachbarin bis zur alten oder neuen Freundin.

Angesichts des wachsenden Drucks, der in der Phase von Berufseinstieg, Karriere und Familiengründung auf den Jüngeren lastet, bringen viele Ältere heute ihre Zeit und ihre Erfahrung ein, um den fragilen Zusammenhalt einer mobilen Gesellschaft zu stärken. Generationenübergreifend mit sozialen Patenschaften oder im Mentoring für Kinder und Jugendliche, aber auch als so genannte junge Alte in sozialen Netzen für Hochaltrige. Mir ist dabei wichtig, dass sich zum einen nicht unter der Hand eine Vorstellung von Für-Sorge einschleicht, die ja durchaus auch zu unserem Erbe gehört: es muss im Blick bleiben und vielleicht erst neu entdeckt werden, wie viele Sorgekräfte gerade die Hochaltrigen haben. Zum anderen ist politisch darauf zu achten, dass Nachbarschaftspflege nicht zum Ersatz für professionelle Pflege wird. Schließlich braucht das Engagement auch Ressourcen – neben den Finanziellen eben Räume und Koordination. Und last but noch least geht es um eine gute Zusammenarbeit zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen.

Wenn die Spannung zwischen Haupt- und Ehrenamt in Kirche und Diakonie zugenommen hat, dann liegt das nicht nur an knapper werdenden Ressourcen, sondern daran, das Haupt- und Ehrenamtliche sich das gleiche wünschen: sie wollen Menschen begleiten. Unter dem wachsenden Zeit- und Finanzdruck brauchen sie einander mehr denn je – zugleich aber wollen sich die einen nicht auf ihre Professionalität und Funktion reduzieren lassen und die anderen fühlen sich unterschätzt, wenn man ihnen ihre Kompetenzen abspricht. Die einen wollen nicht nur managen, die anderen nicht nur umsetzen und ausführen. Beiden geht es um mehr: um Sinnerfahrung und um Gemeinschaft.

 

5. Die Schätze der Kirche – Potenzial und Herausforderung

Fast vierzig Prozent der evangelischen Bürgerinnen und Bürger über sechzig nehmen nach eigener Aussage in irgendeiner Weise am Gemeindeleben teil – damit liegt die Kirche weit vor anderen Organisationen. Ein enormes Potenzial. Mit seinem Konzept vom dritten Sozialraum hat sich Klaus Dörner für eine neue Wertschätzung der Kirchengemeinden und für die Wiedervereinigung von diakonischer Professionalität und kirchengemeindlichem Bürgerengagement eingesetzt. Kirchengemeinden, das ist die Hoffnung, könnten Caring Communities werden. Und tatsächlich wird heute vielen Gemeinden neu bewusst, dass das diakonische Engagement substantiell zu ihrem Auftrag gehört. „In Kirche und Diakonie werden gemeinsam Konzepte entwickelt für die Re-Sozialisierung und Revitalisierung von Kirchengemeinden, damit sie eben nicht erst auf soziale Notlagen reagieren, sondern aktiv daran mitarbeitet, funktionierende Sozialräume zu gestalten und Notlagen präventiv zu verhindern“, heißt es in der EKD-Orientierungshilfe „Im Alter neu werden können.“

Zugleich ist die Kirche allerdings selbst sehr stark vom demographischen Wandel und der Veränderung der Nachbarschaften betroffen. Taufen und Trauungen gehen zurück – oft durch zwei oder drei Generationen. Kinderlose erleben nicht die Phase, in der sie ihre Kinder taufen, mit den eigenen Kindern noch einmal neu über die Bedeutung des Glaubens nachdenken, Rituale einüben und damit wieder mehr Bindung zur Kirche entwickeln. Und Bestattungen, die lange als kirchliche Bastion galten, verändern sich – weil viele Ältere ohne Kinder und weitere Angehörige sterben, weil die Erinnerung nicht mehr an Familiengräbern weitergegeben wird, das Geld für eine Erdbestattung und eine Feier fehlt . An den Bestattungen spüren es die Kirchengemeinden vielleicht am deutlichsten: auch Kirche ist im Umbruch – und sie ist gerade in diesem Umbruch gefragt.

Kirche? Da sind doch nur noch alte Menschen, höre ich oft. Oder schlimmer: nur noch alte Frauen! Vielleicht liegt da aber auch eine besondere Stärke der Kirche. Was diese Menschen einbringen können, ist nicht nur praktische Hilfe, sondern auch das kulturelle, geistige und geistliche Erbe, aus dem auch die nächsten Generationen noch leben. Ich denke an Kirchenkuratorinnen und ehrenamtliche Kirchenpädagogen, an Menschen, die Friedhöfe erhalten und Ortsgeschichte schreiben, an soziale Patenschaften, Gründerinnen von Tafeln und Kleiderkammern für Flüchtlinge, an Mittagstische mit Großmutters Essen und an Stifterinnen und Stifter – materiell wie immateriell gibt es ein reiches Erbe weiterzugeben. Diese Menschen ärgern sich zu Recht, wenn sie das Gefühl bekommen, von der Kirche vor allem als potenzielle Hilfebedürftige wahrgenommen zu werden. Gerade diejenigen, die der Kirche nahe stehen, können sich nämlich, wie Untersuchungen zeigen,[4] durchaus vorstellen, noch etwas Neues zu beginnen.

In den neutestamentlichen Texten begegnen wir Christinnen und Christen, die sich mit ihrer Taufe aus den Herkunftsfamilien gelöst haben und nun in den Gemeinden eine neue Familiaritas fanden – als Brüder und Schwestern, Patinnen und Paten. Ich denke dabei an die Gemeinschaft der ersten Christinnen und Christen in Jerusalem; diese Gemeinde war eine wahrhaftig eine „Caring and enabling community“, auch, was die einfachen Sorgetätigkeiten anging. Güter wurden geteilt, Kranke besucht, für alle gemeinsam wurde der Tisch gedeckt. Jeder sollte satt werden – auch die griechischen Witwen, die ganz unten am Tisch saßen und leider entsprechend oft zu kurz kamen. Diese sorgende Gemeinschaft hatte hohe Anziehungskraft für Menschen aus ganz unterschiedlichen Herkünften und Milieus, vielleicht auch deshalb, weil sie mit solchen Problemen offen umging und ihre eigene Zerrissenheit wahrnahm. Die Apostelgeschichte zeigt modellhaft: die Gemeinde wächst, wenn sie Teilhabe ermöglicht – kultur- und generationenüberschreitend.

Sorgearbeit hat eine spirituelle Dimension – und es wird viel davon abhängen, wie wir als Kirche damit umgehen. Die alte Gemeindeschwester, von der am Anfang die Rede war, hatte Rückhalt in der Gemeinde – aber sie kostete die Gemeinde nichts. Heute ist das anders: Quartiersarbeit kostet. Es geht um Zeit für Koordination und Begleitung, die Unterstützung Freiwilliger, um Räume. Kirche ist noch immer in jedem Quartier verwurzelt und sie ist öffentlich. In der pluralen Gesellschaft muss sie es nicht sein, die steuert – manchmal ist es besser, zu Gast zu sein an den runden Tischen. Aber der Grundgedanke der Inneren Mission – dass nämlich die Glaubwürdigkeit von Kirche mit der Bereitschaft einhergeht, Verantwortung für das Quartier und seine Menschen zu übernehmen, der ist noch nicht zu Ende gelebt. Heute geht es darum, Kirche mit anderen zu sein – in einer Gesellschaft der Vielfalt. Die Idee der Sorgenden Gemeinschaften ist eine Chance, die nächsten Schritte auf diesem Weg zu tun.

Cornelia Coenen-Marx

[1] So der Streit mit der Kommune in Magdeburg, den Ulrike Gaida schildert.

[2] Andreas Heller, Reimer Gronemeyer

In Ruhe sterben – Was wir uns wünschen und was die moderne Medizin nicht leisten kann, München 2014

[3] Ariadne von Schirach, Du sollst nicht funktionieren, Für eine neue Lebenskunst, München 2014, S. 148

[4] Petra-Angela Ahrens, „Uns geht’s gut“ Generation 60 plus, Religiosität und kirchliche Bindung, Münster 2011.