Ankommenden Heimat geben, Eingesessene zum Aufbruch ermutigen: was die Kirche für das Quartier tun kann.

1. Fremdenzimmer, Klöster und Hospize

CMB – Christus mansionem benedicat – steht jetzt wieder mit Kreide an vielen Häusern. In den Städten ziehen die Sternsinger über die Straßen, singen ihre Segenslieder und sammeln für Kinder in Not. Und schreiben die neue Jahreszahl über die Türen: CMB 2016. CMB, das gilt auch als Symbol für die drei Könige, die Weisen aus dem Morgenland: seit dem Mittelalter sind ihre Namen als Caspar, Melchior und Balthasar überliefert. Sie repräsentieren die damals bekannten Erdteile Europa, Asien und Afrika. Und noch immer – politisch ganz unkorrekt – ist einer der drei oft schwarz geschminkt. In diesen Tagen, in denen Caspar, Melchior und Balthasar aus der ganzen Welt zu uns kommen und Segen bringen, ist es noch nicht zu spät, auch Ihnen, Ihren Häusern und Ihrer Stadt ein gesegnetes 2016 zu wünschen.

„Friede den Kommenden, Freude den Bleibenden, Segen den Scheidenden“. Wer in meinem Elternhaus durch die Eingangstür kam, der fand in der Diele den alten Haussegen in Holz gebrannt. Seit ich lesen konnte, fasste die kleine Holztafel für mich in Worte, was ich erlebte. Das Pfarrhaus meiner Kindheit war ein Gemeinwesen in Bewegung. Die Pfarrfamilie, Vikar, Diakonisse und Erzieherinnen, ein altes Küsterehepaar – und immer wieder Gäste, für kurze oder längere Zeit. Gäste aus dem Ausland, Pflegekinder, Menschen in psychischer Not lebten eine Weile mit uns. Dafür gab es zwei kleine Einliegerwohnungen und ein großes Fremdenzimmer. Das hieß in meiner Kindheit noch so, bevor man dann von Gästezimmern sprach. Ich kann mich kaum erinnern, dass nicht Menschen mit ganz anderen Lebensgeschichten an unserem Mittagstisch saßen. Friede den Kommenden, Freude den Bleibenden. Friede, Freude, Eierkuchen war das nicht, eher schon: Frieden und Segen trotz mancher Reibungen und Konflikte. Manche unserer Gäste habe ich nie mehr wieder gesehen, andere gehörten später zu unserem Freundeskreis – sie blieben Teil der erweiterten Familie, als meine Eltern schon nicht mehr lebten. Rückblickend bin ich froh, dass der enge Kreis der Familie sich selten schloss.

Gelebte Gastfreundschaft gehört zum Markenkern der Kirche. In den Anfängen der neuzeitlichen Diakonie verstanden sich auch Krankenhäuser und Herbergen für Obdachlose als „Hospize“, als Orte der Gastfreundschaft, wo Menschen auf ihrem Lebensweg Station machen und auftanken konnten. Friedrich von Bodelschwingh hat es auf den Punkt gebracht: „Das ist aller Gastfreundschaft tiefster Sinn, dass wir einander Heimat geben auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause.“

Klöster waren Orte der Immunität, wo nicht nur Kranke, sondern auch Verfolgte sicher sein konnten, wie wir es in den letzten Jahrzehnten im Kirchenasyl wieder entdeckt haben. Dahinter steht die Überzeugung, dass wer an meine Tür klopft, in einem tieferen Sinne Bruder oder Schwester ist. Nicht nur das Objekt meiner Hilfe, auch nicht nur mein Kunde, – obwohl auch Klöster in ihrer Zeit Beherbergungsbetriebe waren – sondern ein Mensch mit einer Geschichte, der ein offenes Ohr und einen Ort zum Mitleben braucht – vielleicht aber auch nur einen Teller Suppe und ein Nachtlager, bis er mit neuer Kraft weiter ziehen kann. In den letzten Jahren habe ich manchmal befürchtet, diese Haltung könnte verloren gehen unter Zeitknappheit und ökonomischem Druck, unter der Abgrenzung von Einrichtungen, Abteilungen und Budgets, der Professionalisierung der Diakonie und der Privatisierung der Kirche. Unsere Pfarrwohnungen sind kleiner und enger geworden. Obdachlose und Pflegekinder werden dort weiter verwiesen an die entsprechenden diakonischen Fachstellen. Unsere Krankenhäuser trennen genau zwischen DRGs und Hilfemodulen auf der einen und Hotelkosten auf der anderen Seite. Aber immer gab es Einzelne und Gruppen – oft genug Ehrenamtliche – die uns den Wert der Gastfreundschaft nachdrücklich in Erinnerung riefen. Cecily Saunders und die Hospizbewegung machten deutlich, dass es nicht genügt, Sterbende so lange wie möglich zu therapieren und medizinisch zu versorgen, sondern dass es im Sterben auch um Begleitung, um Dasein, um wache Aufmerksamkeit geht. Streetworker traten dafür ein, dass auch diejenigen, die keine eigene Wohnung haben, einen Ort brauchen, an dem sie ihre Wäsche waschen, ihre Kontakte pflegen, einen gedeckten Tisch finden und vor allem einfach als Menschen unterwegs wahrgenommen werden – wie jeder von uns, wenn wir eine Autobahnraststätte aufsuchen.

Und jetzt stehen Ehrenamtliche entlang der Balkanroute, geben Lebensmittel, Schuhe und warme Kleidung aus und organisieren Laptop-Stationen für Flüchtlinge. Und auch hier bei uns rücken ganz normale Familien zusammen und geben Flüchtlingen ein Quartier auf Zeit. Ältere, die selbst als Kinder Fluchterfahrungen gemacht haben und junge Leute, für die es normal geworden ist, in der Welt unterwegs und auf Tour zu sein. Bei einer Befragung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD haben kürzlich immerhin 10 Prozent gesagt, sie wären dazu bereit. Und auch Kirchengemeinden richten Kleiderkammern und Mittagstische ein, sie nutzen ihre vielfältigen Erfahrungen mit Schulaufgabenhilfen und Tafeln und schauen, wo gemeindeeigene Häuser und Wohnungen nutzbar sind. Vor kurzem wurde die erste Flüchtlingskirche geöffnet.

In einer Welt, in der das Unterwegssein für viele zur Selbstverständlichkeit geworden ist, könnten Kirchengemeinden wie Karawansereien sein, wo Menschen einander begegnen, ihre Geschichten teilen, sich füreinander einsetzen und einander auf diese Weise ein Stück Heimat geben. Gemeinde als Herberge. Der holländische Theologe Jan Hendriks[1] hat dieses Modell in den 1980er Jahren entwickelt. Wo diese Art von offener Begegnung stattfinde, würden nicht nur die individuellen Lebensgeschichten, sondern auch die gesellschaftlichen Zerreißproben spürbar – zugleich aber etwas von der Nähe Gottes, Segen eben. Die offenen Stadtkirchen, die Stadtteilläden und Vesperkirchen, die Diakonieläden in den Quartieren wollen genau das sein: Herbergen am Weg. Um dort anzukommen, muss man nicht schon immer am Ort zu Hause sein – man kann kommen und auch wieder gehen. Heimat und Zugehörigkeit wachsen über Begegnungen, Beziehungen und Engagement. „Ich bin ja selbst eine Ankommerin“, sagte kürzlich eine der Frauen, die eine Nähwerkstatt im Quartiersladen aufgemacht hatte und nun Flüchtlingsfrauen half, sich schnell neu einzurichten. Mit der Nähmaschine, Stoffen und Designvorschlägen, vor allem aber mit Gesprächen. Man konnte ihr anhören, wieviel Freude das macht. Ich denke aber auch an Margarete Bellmer, eine Frau aus meinem Dorf, eine Einheimische, die nach ihrer Lebensreise im Alter zurückgekommen ist. Als Kind sah sie die Hungerzüge aus dem KZ durchs Dorf ziehen und was sie sah, blieb ihr Lebensauftrag. Heute engagiert sie sich für die internationalen Gärten, wie Migranten auf einem eigenen Steifen Land Obst und Gemüse anbauen. Einmal in der Woche gibt es nun dort ein gemeinsames Essen – mit Gerichten aus Europa, Nahost und Afrika.

 

2. Regeln und Grenzen der Gastfreundschaft

Solche Gastfreundschaft ist immer auch ein Abenteuer. Man braucht den Mut, im Eigenen dem Anderen zu begegnen – dem Bruder eben, der Schwester, Menschen, die ganz andere Erfahrungen gemacht haben, anders denken, sich selbst, die Gesellschaft und auch Gott anders verstehen. Gastfreundschaft ist auch ein Risiko, denn es geht ja darum, den Fremden wie einen Freund aufzunehmen, ihm einen Vertrauensvorschuss entgegen zu bringen: Friede den Kommenden! Diese Überlegung hat mich dazu gebracht, noch einmal tiefer zu graben und nach den Regeln und Grenzen der Gastfreundschaft in der Antike zu fragen. Denn natürlich ist Gastfreundschaft nicht nur eine christliche Kulturleistung – sie reicht weit dahinter zurück in die Geschichte und weit darüber hinaus in andere Religionen. Homers Odyssee erinnert in ihren Erzählungen an die Regeln der Xenia, der Gastfreundschaft bei den alten Griechen – einem strikten Verhaltenskodex zwischen Gastgeber und Gast, Fremdem, Schutzflehenden. Sie zu verletzten, bedeutete Frevel gegenüber den Göttern. Schließlich könnten sich die Fremden ja selbst als verkleidete Götter erweisen. Fremde aufzunehmen war deshalb ein Akt der Frömmigkeit. Eine Vorstellung, die auch der Hebräerbrief aufnimmt; dort heißt es: „Gastfrei zu sein, vergesst nicht – haben doch einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt“.[2] Meine Mutter erinnerte mich gelegentlich an diesen Spruch, wenn es mir schwer fiel, zu teilen – mein Spielzeug, das Zimmer oder die Zeit der Eltern.

Zur Xenia gehörte im alten Griechenland, dass ein guter Gastgeber seinem Gast ein Bad bereitet, er stellt ihm frische Kleider zur Verfügung und bereitet ihm ein Mahl, das dem Reichtum seines Hauses angemessen ist. Außerdem wird von ihm erwartet, dass er dem Fremden die Möglichkeit gibt, ein Opfer für seine sichere Weiterreise darzubringen. Und schließlich endet die Beziehung nicht mit der Abreise: Gast und Gastgeber, ja, sogar ihre Nachkommen, sind einander nun lebenslang in einer Beziehung der Gastfreundschaft verbunden. Sie verpflichten sich, sich gegenseitig so zu behandeln, als seien sie verwandt. Dazu gehörte auch, keine der Frauen des Hauses zu verführen und sich in Konflikten und Kämpfen auf die Seite des Gastfreundes zu schlagen. Dass die Emotionen so hochschlagen nach dem, was in Köln und in Hamburg geschehen ist, ist deshalb nicht verwunderlich – das rührt an das uralte Tabu der Gastfreundschaft. Kriege wie der trojanische Krieg sind ausgebrochen, weil genau diese Regeln nicht eingehalten wurden.[3]

Insofern geht es dann doch um mehr als eine Willkommenskultur, um mehr als um das Sammeln von Kleidung, Lebensmitteln und Matratzen, auch um mehr als neue Wohnbauprogramme und Integrationsklassen: es geht darum, eine verwandtschaftliche Beziehung zu Menschen zu entwickeln, die uns fremd sind, und sie als „unsere Leute“ zu verstehen, als die neuen Deutschen eben. Die Verschiedenheit zu würdigen und uns dabei als gleiche zu entdecken. In diesem Prozess kommen wir nicht umhin, die Grenzen zu erkunden, die mit unseren Werten und unseren Vorstellungen von Würde gegeben sind. Vor kurzem habe ich ein Interview mit einem Berliner Studenten gehört, der einen illegalen Flüchtling in seiner Wohnung aufgenommen hatte. Er erzählte vom gemeinsamen Leben und Essen, von der Angst vor Abschiebung, die inzwischen beide spürten, aber auch von den Gesprächen darüber, welche Regeln in den alltäglichen Lebensgewohnheiten gelten sollten. Gespräche wie in jeder Wohngemeinschaft – bis auf eine Kleinigkeit, die mich besonders berührt hat: der junge Mann erzählte, dass sein Gast öfter ganz selbstverständlich seine Schuhe getragen hatte, obwohl er inzwischen gute eigene besaß. Eine Grenzüberschreitung? Jedenfalls eine Irritation, und damit die Notwendigkeit, zu klären, wie jeder von beiden Privates und Gemeinsames verstand und kulturelle Unterschiede auszuloten. Nur, wenn uns das gelingt, bannen wir die uralten Ängste vor sexuellen Übergriffen von Fremden oder vor dem Eindringen feindlicher politischen Ideologien, die den Stoff für die rechte Agitation liefern. „Der Fremde entsteht, wenn in mir das Bewusstsein meiner Differenz auftaucht“ (wenn also das Gefühl, dass wir eigentlich gleiche sind, irritiert wird), „und er hört auf zu bestehen, wenn wir uns alle als Fremde erkennen“, schreibt die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva in ihrem Buch „Fremde sind wir uns selbst“.[4]

 

3. Gottes Hausgenossen

Wie lange bleiben die Gäste? Wie lange bleiben sie die Fremden, selbst dann, wenn wir in besonderer Weise mit ihnen verbunden sind? Die jungen christlichen Gemeinden gingen weit über das hinaus, was Gastfreundschaft in der Antike bedeutete: „So seid Ihr nun nicht mehr Gäste und Fremde, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“, heißt im Epheserbrief.[5] Mitten im Völkergemisch der ausgehenden Antike, finden wir Gemeinden aus den unterschiedlichsten ethnischen Gruppen und ökonomischen Schichten einander auf Augenhöhe begegnen wollten. Als Brüder und Schwestern um Christi willen. Julia Kristeva macht deutlich, was für eine ungeheure utopische Kraft in dieser Geschichte steckt. Die junge Kirche, schreibt sie „entsteht als eine Gemeinschaft von Fremden (von Außenseitern, Frauen, Handelsreisenden, Sklaven), an der Peripherie zunächst, dann innerhalb des griechisch-römischen Bollwerks selbst, vereint in einer Lehre, die die politischen und nationalen Strukturen in Frage stellt.“ Das lässt ahnen, welche Wucht solche Gedanken haben, die nationale Grenzen überschreiten – unser europäisches Projekt gehört ja auch dazu! Menschen aus unterschiedlichen Völkern und Nationen bilden eine neue Gemeinschaft unter dem Namen und in der Nachfolge des Menschensohns, der Bruder aller geworden ist. „Da ist nicht mehr Grieche, Jude, Beschnittener, Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Knecht, Freier, sondern alle und in allen Christus“, heißt es im Kolosserbrief.[6]

Dieser christliche Messianismus ist in der hebräischen Bibel zutiefst verankert. Da alle Menschen nach Gottes Bild geschaffen sind, bezieht sich das Gebot der Nächstenliebe eben nicht nur auf den unmittelbaren Nächsten der eigenen Familie oder desselben Volkes, sondern auf den anderen Menschen, den Gott liebt – „Die Fremdlinge sollst Du nicht bedrängen und bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen“, heißt es im Buch Exodus.[7] Lange vor der griechischen Philosophie und dem durchaus kosmopolitischen Stoizismus bekräftigt der Universalismus der Propheten von Amos bis Jeremia nachdrücklich die Vorstellung, dass die ganze Menschheit in ihrer wahren Würde zu achten ist. Arme, Witwen, Waisen, Knechte und Fremde sollen die gleiche Gerechtigkeit erfahren. “Kein Fremder durfte draußen zur Nacht bleiben, sondern meine Tür tat sich dem Wanderer auf“, heißt es bei Hiob[8]. Das hebräische Wort für Fremder (guer), das hier verwandt wird, bedeutet wörtlich: „Der gekommen ist, (mit Euch) zu leben“. Friede den Kommenden.

Das ist die Wurzel, aus der die Hospize stammen, in denen schon in der frühen Kirche Pilger wie Arme und Fremde in gleicher Weise Gastfreundschaft erfahren. Es sei hier aber nicht verschwiegen, dass auch diese großartige Tradition schon bald unter der Angst vor Überfremdung enger wurde: schon im 4. und 5. Jahrhundert, mit dem Vordringen und der Ansiedlung der germanischen Völker im römischen Reich, werden Pilgerpässe bzw. Pfarr- und Bischofsbriefe eingeführt, die beurkunden, dass der Fremde ein christlicher Bruder ist. Dass der Verantwortungshorizont heute wieder weiter gezogen werden muss, weit über einen engen institutionellen Bezug hinaus, das hat unsere Kirche spätestens im 3. Reich neu gelernt. So wie Margarete Bellmer, die die Bilder nicht vergisst, die sie als Kind gesehen hat. „Unser Verhältnis zu Gott ist kein religiöses zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen – dies ist keine echte Transzendenz“, schreibt Dietrich Bonhoeffer, sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im Dasein für andere, in der Teilnahme am Sein Jesu. Nicht die unendliche, unerreichbaren Aufgaben, sondern der jeweils gegebene erreichbare Nächste ist der Transzendente.“[9]

 

4. Nächstenliebe kennt keine Grenzen – ein Blick auf die Stadt

Die Kommenden. Die Bleibenden. Die Scheidenden stehen unter dem gleichen Segen. „Gehen. Ging. Gegangen“, heißt das Buch von Jenny Erpenbeck, die schon seit zwei, drei Jahren schreibend beobachtet hat, was unsere Medien heute berichten. Richard, ein frisch emeritierter Archäologieprofessor, entdeckt eher zufällig das Übergangslager der Flüchtlinge am Roten Rathaus und beginnt, sich für diese Menschen und ihre Geschichte zu interessieren. Er geht ihnen nach, interviewt sie – entdeckt, dass seine Fragen nicht unbedingt passen, lernt tiefer hinter unter die Oberfläche zu schauen und macht am Ende die Entdeckung, dass die Begegnungen auch Antwort auf eigene Fragen sind. Das römische Reich steht Richard in seinen nordafrikanischen Erben Augen – während er zugleich eine Antwort auf die Frage findet, was aus dem kulturellen Erbe seiner Familie wird. Er lädt einen der Flüchtlinge zu Weihnachten ein, zeigt ihm Adventskranz, Tannenbaum und Weihnachtspyramiden, kocht ein festliches Mahl und gibt ihm Klavierunterricht. Nein, es ist nicht alles gut in diesem Buch – der Erzähler wird auch enttäuscht und bestohlen und verliert sich im politischen Gestrüpp. Es ist nicht alles gut, aber es ist lebendig und zukunftsträchtig.

Richards Blick tut uns gut, denn wir leben tatsächlich, wie der Soziologe Heinz Bude schreibt, in einer „Gesellschaft der Angst[10] – Angst vor dem Verlust an Wohlstand und Sicherheit. Und es sind nicht nur die Geringverdiener und Abgehängten, die sich nun in den neuen rechten Bewegungen sammeln, es sind auch Menschen, denen es in den letzten 20, 25 Jahren endlich besser ging und die nun das Gefühl haben, es ginge nur noch bergab. Bude spricht vom „heimatlosen Antikapitalismus“ – und er sieht dahinter die diffuse Erfahrung, dass Wirtschafts- und Sozialmarkt auseinanderdriften. Von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wird erwartet, dass sie ihre Arbeitskraft mobiler und flexibler auf den Markt bringen, während zugleich unterstützende Systeme wie Bildung und Gesundheit, Wohnungswirtschaft und Energie, Bahn und Post privatisiert werden. Konkurrenz belebt das Geschäft, heißt es – aber sie schwächt auch die Solidarität, und es nimmt nicht Wunder, wenn zuletzt auch schutzbedürftige Flüchtlinge als Konkurrenten um Sozialleistungen wahrgenommen werden. Es käme darauf an, zu einer gemeinsamen Deutung der Lage zu kommen, meint Bude – und gemeinsam darüber nachzudenken, wie sich soziale Gerechtigkeit in einer offenen, globalisierten Gesellschaft entwickeln kann – sozialpolitisch, bildungspolitisch und vor allem kommunalpolitisch.

„It takes a village“ – das Wort von Hillary Clinton, das ursprünglich auf die Kindererziehung zielte, hat uns schon vor 20 Jahren beflügelt, als es um die Gründung von Familienzentren und kommunalen Netzwerken für Familien ging. Und das Motto trug auch bei der Ambulantisierung der Hilfe für Menschen mit Behinderung und schließlich bei der Quartiersarbeit in der Pflege älterer Menschen oder bei der Entwicklung altersgerechter Kommunen. Und es gilt auch jetzt, wenn es um Menschen geht, die neu zu uns kommen. Immer wieder fällt unser Blick auf die Stadt – auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Milieus, die Angebote und Strukturen, die es gibt – und schnell wird klar,- wie belastet die meisten Kommunen sind. Und zwar nicht erst mit den Flüchtlingen. Die Bertelsmann-Studie zur Situation der Kommunen, die bereits im Frühjahr erschien, hat öffentlich gemacht, dass Sozialausgaben die Kommunen mit bis zu 58 Prozent des gesamten Haushaltsvolumens belasten. Viele sind kaum noch in der Lage sind, ihre Pflichtaufgaben in ausreichendem Maße zu erfüllen – geschweige denn, den wachsenden Erwartungen nachzukommen. Günstige Wohnungen werden gebraucht – nicht nur für die Flüchtlinge, sondern eben auch für Familien, die von Armut bedroht sind, oder für Menschen mit Behinderung, die in der Stadt leben wollen. Kitas und Schulen werden gebraucht, die ganztätig eine qualifizierte Betreuung, Erziehung und Bildung leisten und Inklusion ermöglichen, dazu eine alternsgerechte städtische Infrastruktur, Beratung und Unterstützung in Krisen und nicht zuletzt öffentliche Orte, an denen sich Menschen frei begegnen können und sicher fühlen. Strukturen eben, mit denen die Schwierigkeiten der Einzelnen abgefangen werden können, die aber beitragen zu mehr Gleichheit und Gerechtigkeit und zu einem Miteinander auf Augenhöhe. Unter der Schuldenbremse haben viele längst die Notbremse ziehen müssen: Theater und Schwimmbäder geschlossen, Verkehrs- und Energiebetriebe und auch den Wohnungsbestand verkauft und damit genau die öffentlichen Angebote und Räume zurück gefahren, die zur Begegnung und Beteiligung aller wichtig sind.[11] Die Städte, in denen Theater und Orchester jetzt Flüchtlinge einladen können, damit sie unsere Kultur kennen lernen, sind gut dran!

It takes a village! Kommunen und soziale Dienste, die Wohnungswirtschaft, aber auch Verkehrsbetriebe und Einkaufszentren, Handwerkerschaft und Betriebe, Schulen und Ärzte müssen sich gerade jetzt auf neue, ungewohnte Kooperationen einlassen. Gott sei Dank gibt es viele gute Erfahrungen, gerade hier in Baden-Württemberg: Bürgerkommunen, altersgerechte Städte, Bündnisse für Inklusion, Förderstrukturen für Bürgerengagement. Denn solche Netze leben davon, dass es Menschen gibt, die die Bereitschaft, die Fähigkeit und die Zeit mitbringen, sich zu engagieren. Dazu brauchen sie auch professionelle Unterstützung – in Flüchtlingsheimen und Schulen wie im Quartiersmanagement und eben auch in der Kirchengemeinde. Gebraucht werden Räume, wo alle Beteiligten sich treffen können, runde Tische und Bürgerplattformen, auf denen die Vermittlung organisiert werden kann. Hier haben gerade Kirche und Diakonie viel zu bieten: Gemeinderäume, Tageseinrichtungen, Kirchenland, eine hohe Professionalität auch in Bildung und Beratung und eine starke, informelle Lebensraumorientierung.

Viel zu oft scheitern zivilgesellschaftliche Initiativen daran, dass sie von Modellprogrammen und Projektmitteln leben und dass die öffentlichen Mittel fehlen, die für eine stabile Strukturförderung sorgen. Ehrenamtliche brennen aus, wenn es keine Angebote zur Koordination, Begleitung und Fortbildung gibt. Es gibt gute Beispiele dafür, wie Kirchen an dieser Stelle einspringen können, wenn sie ihre Gemeindehäuser öffnen, ihre Stellen umstrukturieren, ihr Land verpachten, gemischte Wohnquartiere organisieren und wirklich Herberge werden. Sie müssen dabei nicht immer Gastgeber sein – sie können, um im Bild zu bleiben, ihre Häuser auch vermieten und selbst zu guten Servicekräften werden. Wichtig ist, dass neue Nachbarschaften wachsen und Menschen sich bei uns zu Hause fühlen können – oft über die Grenzen traditioneller kultureller oder ethnischer Milieus hinweg.

 

5. Solidarität beginnt mit der Gastfreundschaft – in der Hoffnung auf Gottes neue Stadt

Gut, dass die Kirche noch immer im Dorf steht. In der Flüchtlingskrise war die Kirche wieder oft der erste Ansprechpartner, neue Heimat für die, die kommen, Halt und Orientierung für die Engagierten. Ein Anker der Stabilität in unruhigen Zeiten. Mit ihren Tafeln und Hausaufgabenhilfen, mit Kleiderkammern und Kirchenasyl und all ihren Erfahrungen, für andere da zu sein. Die ev. Gemeinde in Babelsberg hat daraus in diesen Tagen ein offenes Gemeindekonzept entwickelt: vom Begegnungscafé über Patenschaften bis zur Öffnung der Gruppenangebote für Flüchtlinge, vom Sprachtraining bis zur Vernetzung im Stadtteil und Fortbildungsangeboten für die eigenen Mitarbeitenden. In diesen Tagen laden die Mitglieder des Initiativkreises mit dem Gemeindekirchenrat zu einem Informationsabend ein – und mit Rücksendung der Einladung kann man gleich signalisieren, wohin das eigene Engagement geht. Ein offenes Gemeindekonzept – basierend auf den vielfältigen Erfahrungen der Stadtteilarbeit und zugleich unterwegs mit denen, die jetzt neu hinzukommen.

Gut, dass die Kirche im Dorf geblieben und im Stadtteil vernetzt ist! Da kann leicht in Vergessenheit geraten, dass die Christen lange Zeit selbst Fremde waren. Das galt und gilt für die bedrohten Minderheitsgemeinden im römischen Reich, die ja gerade deshalb auf wechselseitige Gastfreundschaft angewiesen waren, genauso wie für die reformierten Flüchtlingsgemeinden des 16. und 17. Jahrhunderts von Emden bis Berlin, die in ihren neuen Städten von Anfang an diakonische Aufgaben übernahmen. Aber wer selbst einmal Flüchtling war, der weiß, was andere brauchen, wenn sie bei uns Heimat suchen. Und wer selbst in Armut oder Krankheit auf Hilfe angewiesen war, der weiß, welche Bedeutung die Diakonie der Kirche hat. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“, heißt es im Neuen Testament – übrigens im Hebräerbrief, wo auch die Engelsverheißung steht. Eine Mahnung, die Geschichte nicht zu vergessen und sich nicht abzuschotten aus Angst um die Sicherheit.

Julia Kristeva, die ich schon einmal zitiert habe, schreibt: Heute „ist es das Schicksal eines jeden, derselbe und der andere zu bleiben; ohne seine Herkunftskultur zu vergessen, aber sie relativierend, und zwar so weit, dass er sie nicht nur in die Nachbarschaft der anderen rückt, sondern sie auch mit dieser verändert… Vielleicht geht es letztlich darum, den Begriff des Fremden um das Recht auf Respekt unserer eigenen Fremdheit zu erweitern…“. “Fremd sind wir uns selbst“, heißt ihr Buch – und oft genug sehen wir eben in den Fremden doppelt scharf, was wir vielleicht gerade erst bei uns selbst überwunden haben. Das grundlegende Problem sei psychologischer, wenn nicht metaphysischer Art, meint Kristeva: es fehle ein gemeinsames Band, eine globalisierte Heilsvorstellung, abgesehen vom Wohlstand, Freiheit und Sicherheit für alle. Einzig die universalen Menschenrechte und der wechselseitige Respekt vor Fremdheit und Schwäche könne uns in dieser Situation Leitschnur sein.

Als Christen haben wir eine Hoffnung, die darüber hinausgeht. Es ist die zukünftige, die neue Stadt Gottes, zu der wir unterwegs sind. Eine Stadt ohne Tempel und Kirchtürme; in der Mitte steht das Lamm mit seinen Verwundungen und dem Siegeszeichen. Tränen werden abgewischt, Schmerzen gestillt, blutige Kleider ausgewaschen, der Lebensdurst wird gelöscht, das beschädigte Leben beginnt neu. Wir sehen die Völker von Osten und Westen, von Norden und Süden zu dieser Stadt pilgern, wir sehen sie durch die Tore gehen – in dem Licht, das vom Lamm ausstrahlt. Vieles von dem, was wir in der Offenbarung über das neue Jerusalem lesen, erinnert an die Bilder dieser Tage. Aber auch wenn es so manchen so scheinen mag: Deutschland ist nicht das neue Jerusalem – nicht in Köln, nicht in Hamburg oder Berlin. Wir sind noch unterwegs, manchmal auch durch Angst und Erschrecken. Und auch unsere Möglichkeiten haben Grenzen.

„Das neue Jerusalem ist ein Versprechen, eine Herausforderung und eine Einladung, sich jetzt schon einzulassen auf das Leben in der himmlischen Welt, indem wir Barmherzigkeit leben und der Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfen, und damit dafür sorgen, dass unsere irdischen Städte etwas vom Glanz der himmlischen spiegeln. Auch wenn wir noch auf den neuen Himmel und die neue Erde warten – lasst uns anfangen, die neue Stadt zu bauen, die Stadt von Frieden und Gerechtigkeit“, sagte Anthony Pilla, der katholische Bischof von Cleveland, 1993 in einer Rede über die Kirche in der Stadt.

Mit den Sternsingern, die in diesen Tagen unterwegs sind, wünsche ich Ihnen den weiten Blick, der von der Krippe aus auf alle Kontinente schaut und allen Menschen Frieden wünscht. Friede den Kommenden, Freude den Bleibenden und Segen den Scheidenden. So segne Gott auch Ihre Stadt.

 

 

 

[1] Jan Hendriks, Gemeinde als Herberge, 2001.

[2] Hebr. 13, 2

[3] Vgl. Christopher Wild, Royal Re-Entries, zum Auftritt in der griechischen Tragödie in: „Annemarie Matzke u.a.; Auftritte, Bielefeld 2015 (Der Trojanische Krieg bricht aus, weil Helena, die Frau des Menelaos, von Paris verführt wird.)

[4] Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, Berlin 1992

[5] Eph. 2, 19

[6] Kol. 3, 9-11

[7] Ex. 22,20

[8] Hiob 31, 13ff.

[9] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung

[10] Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014

[11] Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung hält fest (ich zitiere): „Die Belastung der Kommunalhaushalte durch Sozialleistungen ist bundesweit unterschiedlich. Am geringsten ist sie in Baden –Württemberg mit durchschnittlich 31 Prozent, am höchsten in Nordrhein-Westfalen mit 43 Prozent. Zwischen den einzelnen Kommunen sind die Unterschiede teilweise eklatant: Während die Stadt Wolfsburg (17 Prozent) und der bayerische Kreis Haßberge (18 Prozent) nur einen kleinen Teil ihres Etats für Sozialleistungen aufwenden, machen die Sozialkosten in Duisburg, Wiesbaden, Eisenach und Flensburg mehr als die Hälfte des städtischen Haushalts aus.“ http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2015/juni/sozialausgaben-belasten-haushalte-der-kommunen-mit-bis-zu-58-prozent/ Vom 8. Juni 2015.