Menschenwürde, Identität und Differenz

Zum Genozid an den Yesid*innen, 23.02.17 im Landtag Kiel

 

Vogelfreiheit und Geisterorte: Erinnerungsbilder

„Ständig sortierten sie die Menschen wie Getreidesorten auseinander: Die Männer von den Frauen, die Jungfrauen von den Verheirateten, die Schönen von den Hässlichen, die Jungen von den Mädchen. Die Alten trennten sie von den Familien und schicken sie in die Sklavenarbeit oder in den Tod“, erzählt die Frau, die sich „Shirin“ nennt, in ihrem beeindruckenden Buch „Ich bleibe eine Tochter des Lichts“.[1] IS-Milizen hinter der Maske – spätestens seit den Anschlägen in Paris und Brüssel sind sie auch für uns die Verkörperung einer fremden und bedrohlichen Gewalt. Als aber die Männer, von denen Shirin erzählt, die Maske abnahmen – da waren es zu ihrem Entsetzen die arabischen Nachbarn, die eigenen Lehrer und Handwerker, die mit Lust und Gewalt die Grenzen überschritten, die zwischen den Ethnien gezogen waren. „Ich fand dich schon vor Deiner Hochzeit schön…“, sagt einer ihrer kurdischen Vergewaltiger zu „Shirin“.

Frauen als Kriegswaffe – systematisch werden sie zu Opfern gemacht – und hier in doppeltem Sinne zur Islamisierung benutzt: Neue IS-Anhänger werden geworben mit der Chance, sich die schönen jungen Frauen, die Jungfrauen anzueignen – und die Mädchen selbst werden auf diese bestialische Weise zwangskonvertiert oder jedenfalls der eigenen Ethnie, Herkunft und Religion entfremdet. Wer eine Frau vergewaltigt, vergewaltigt auch ihre Gemeinschaft und ihre Familie. Und wer die Berichte liest, versteht die Frauen und Mädchen, die sich selbst getötet haben, um dem zuvor zu kommen.

„Wir sind vogelfrei“, sagt Shirin, und erinnert an die Verfolgung und Zwangsislamisierung, die Yesiden seit Jahrhunderten erlitten haben. Von Türken und Arabern als Kurden unterdrückt, von Muslimen als Ungläubige verachtet. Eine Minderheit in der Minderheit, eine verfolgte Gruppe in einer verfolgten Gruppe. Die traditionellen rot-weißen Armbänder, die bei vielen Frauen im Kampf mit ihren Peinigern zerrissen, erinnern an den furchtbaren Blutzoll, den dieses Volk leisten musste: 1,8 Millionen zwangskonvertiert, 1,2 Millionen ermordet, schätzt Jan Kizilhan. Erst mit dem Angriff aus Sindschar, bei dem wohl erneut 7000 verschleppt, vergewaltigt, ermordet wurden, wurde der Welt die verzweifelte Lage und die furchtbare Geschichte der Yesiden bewusst. Mich haben die Fernsehbilder an die Geschichte der Armenier auf dem Musah Daqh erinnert – und tatsächlich geht es den Yesiden ja ähnlich wie anderen Minderheiten: den Aleviten, Schiiten, Christen. Menschen, Familien, ganze Dörfer und Kulturen wurden planmäßig ausgelöscht. „Mein Dorf, in dem wir uns frei, behütet und glücklich fühlten, gehört den Toten“, sagt Shirin, „es ist ein Geisterort. Überall wandern die Seelen, und man hört aus jeder Ecke ihre Schreie“.

Hilflos sehen wir seit Jahren zu, wie die ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt des Nahen Ostens zerstört wird. Erst nach dem Scheitern des Arabischen Frühlings wurde vielen bewusst, wie zerbrechlich und verletzlich, wie gefährdet diese Vielfalt in all den Jahren war. Bis dahin blickte der Westen auf den Irak Saddams, das Syrien der Assads, das Libyen Gaddafis und das Ägypten Mubaraks und „glaubte, eine Stabilität zu sehen, die berechenbar wäre“ schreibt Kizilhan. Was in den Gefängnissen und Folterkellern geschah, blieb unseren Augen verborgen – und wir wollten es auch nicht wissen. Jetzt aber wird sichtbar, dass die Unterdrückung religiöser und ethnischer Gruppen tiefe gesellschaftliche Spaltungen hinterlassen hat – dazu Selbstabwertung und Zorn. Gleich ob in Syrien, im Irak oder im Maghreb: wir finden eine zerstrittene und unmündige, zum Teil patriarchalisch-religiös geführte Bevölkerung aus Täten und Opfern – eine Kultur der Gewalt. Die größte Chance der IS-Kämpfer ist die Schwäche ihrer Gegner. Und der Weg zur Versöhnung, zur Heilung der Erinnerungen, zu demokratischen Strukturen ist unendlich weit.

Denn Befreiung geht zunächst mit neuer Unsicherheit einher. Und der Preis der Individuation und Emanzipation der Frauen ist oft der Verlust einer selbstverständlichen Zugehörigkeit, der kollektiven Identität. Soviel Unsicherheit, so viele lange unterdrückte Schmerzen: Es ist nicht verwunderlich, dass der islamisierte Terror mit seinem Versprechen von Eindeutigkeit und Halt Sympathie in der islamischen Bevölkerung findet.

Wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger zu schützen, suchen Menschen ihren Halt in kollektiven Identitäten. Und wenn die Väter ihre Familien nicht schützen können, orientieren sich junge Männer an dem heldenhaften Kämpfer, der bis in den Tod für den Glauben und gegen den Feind kämpft – das verspricht Wertigkeit noch über den Tod hinaus. Junge Männer, frustriert, reizbar und aggressiv auf der Suche nach Identität. Aber auch der kollektive Hass kommt ohne Ideologie nicht aus: Warum die eigene Gruppe angeblich überlegen ist, weshalb von den Gehassten ein Schaden ausgeht, warum diese ungeheuren Verbrechen begangen werden können, das muss erklärt werden.

Und dabei wird oft auf scheinbar willkürliche Unterscheidungsmerkmale zurückgegriffen – auf Hautfarbe, Kleidungsstil, auf Sprache oder Rituale als Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. In ihrem Buch „Gegen den Hass“ erinnert Carolin Emcke[2] an das sprichwörtliche Schiboleth, dass die Ephraemiter und die Gileaditer unterschied – zwei Volksgruppen des Nahen Ostens zur Zeit der hebräischen Bibel, von denen das Buch Richter erzählt. Eigentlich trennte sie nichts als der Fluss Jordan. Und doch wurden zehntausende Ephraemiter ermordet, weil sie anders waren. Weil sie das Schi anders aussprachen als ihre Nachbarn. „Deine Sprache verrät Dich“, bekommt auch Petrus zu hören, der sich noch immer in der Nähe Jesu aufhält, als der schon verhaftet ist und gefoltert wird. „Kommst Du nicht auch aus Galiläa wie der da?“

 

Religion als mächtiger Identitäts-Rahmen

Sprache und Kultur stiften Identität. Und Religion stiftet Sinn; mit ihren Traditionen und Ritualen kann sie Sicherheit geben in unsicheren Zeiten. Ähnlich wie im Judentum ist bei den Yesiden die Ethnie mit der Religion verbunden ist. Konversionen sind also eigentlich nicht möglich und auch nicht denkbar. Wie gewinnt man aber Freiheit, wie bewahrt man seine Würde jenseits der eingeborenen Identität? Wer bin ich noch nach einer Vergewaltigung, einer Zwangskonversion? Es sind gerade die Frauen, die diese Fragen stellen – nicht nur im Nahen Osten, sondern auch unter den Migrantinnen in Deutschland. Und ich bewundere diejenigen, die jenseits der Zuweisungen gelernt haben, ihren eigenen Weg zu gehen und ihre persönliche Geschichte zu schreiben. Mit ihrer geistigen Freiheit machen sie anderen Hoffnung – nicht nur auf Überleben, sondern auf ein neues Leben. So wie Naja Murad mit ihren großartigen Vorträgen und Projekten.

Immer wieder sind es persönliche Geschichten, die uns Antwort geben auf die komplexen Fragen, die Rätsel unserer Zeit. Die Bibel, auf die ich mich mit meinem Glauben beziehe, erzählt die Geschichte von Hagar, der Zweitfrau Abrahams, die verstoßen und mit ihrem Sohn Ismael in die Wüste geschickt wurde. Dort aber fand sie eine Quelle – und ein Engel Gottes fand sie und stärkte ihr den Rücken. Diese Geschichte kam mir in den Sinn, als ich über die Situation der Yesidinnen und ihre Überlieferungen nachdachte: an die heilenden Wasser von Lalisch, dem Pilgerort der Yesiden, an die Schutzmacht des Engels Pfau, die nicht nur in Legenden eine Rolle spielt, und auch an den höchsten Religionsvertreter Baba Sheich. Er war so souverän, ganz klar zu sagen, dass die erlittenen Vergewaltigungen den Mädchen die Würde nicht nehmen können, er hat die Opfer nicht schuldig gesprochen für ihre Erniedrigung – und damit die Spirale der Gewalt durchbrochen. Aber es ist noch nicht vorbei: In manchen Familien allerdings müssen Frauen und Mädchen noch immer die Erfahrung machen, dass Hass und Gewalt von außen auch innen den Druck erhöhen.

„Ich träume davon, dass sich die Yesiden von ihrem archaischen System religiöser und sozialer Herrschaft befreien“, schreibt Irina Badavo, eine yesidische Deutsche[3]. Sie träumt vom Ende der Doppelmoral – davon, dass Väter ihre Töchter vor Gewalt und Willkür beschützen und Frauen nicht um ihr Leben fürchten müssen, wenn sie einer Heirat nicht zustimmen. Denn was wie Religion erscheint, ist oft nur das Einhalten fester Traditionen. Und wo Religion gar missbraucht wird, um andere zu unterdrücken, ist von der Schönheit der Spiritualität, der Zärtlichkeit der Religion kaum noch etwas zu spüren. Und doch bieten Traditionen auch Heimat, sie haben uns zu dem gemacht, was wir sind. Wie kann es gelingen, eine neue Heimat zu finden, ohne die alte verleugnen zu müssen? Alles fängt damit an, dass Menschen wie Nadja und Shirin ihre eigene Geschichte erzählen – und dass andere wirklich zuhören.

 

Offenheit und Würde: Worauf wir setzen

„Vor allem eins möchten wir in Deutschland: in Frieden leben; das empfinden wir als ein großes Geschenk“, sagt Shirin. Weitgehend angstfrei leben, das eigene Leben gestalten – manchmal frage ich mich, ob ich tatsächlich schätze, was unsere Geschichte, auch was unsere Verfassung uns ermöglicht. Dass wir in Frieden leben können, in einer offenen Gesellschaft, die Unterschiede respektiert und Gewalt ahndet. Der Widerstand gegen Krieg und Genozide sowie die Aufnahme auch von traumatisierten Flüchtlingen gehören zu den Grundwerten von Menschenwürde, für die wir in der westlichen Welt gemeinsam einstehen sollten.

Niemand soll sich rechtfertigen müssen für die eigene Hautfarbe oder Sexualität, den eigenen Glauben oder die eigene Herkunft – jede soll die Freiheit haben, sich so, wie sie ist, am öffentlichen Leben zu beteiligen, solange er das Anderssein der anderen respektiert. Patriarchale Regeln, nach denen Männer Frauen und Mädchen als Besitz betrachten, die Verheiratung Minderjähriger in arrangierten Ehen oder das Verbot der Scheidung allerdings kollidieren mit den individuellen Freiheitsrechten in unserem Land. Die aber gilt es immer neu durchzusetzen, national wie international. Wir müssen für die eintreten, die für sich selbst nicht mehr kämpfen können, die verletzt und gedemütigt sind – international mit Sicherheitszonen und dem Strafgerichtshof. Und national mit der Durchsetzung von Regeln des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft. Wir müssen für die eintreten, die es müde sind, sich immer wieder zu erklären. Und endlich mit langem Atem unsere Erfahrung verteidigen: dass Vielfalt und Ambivalenzen, Uneindeutigkeit und Zerrissenheit zur Freiheit gehören. Freiheit stellt uns in Frage, aber sie bereichert uns auch. Für diese Geschichte stehen wir ein.

Kann Religion in diesem Prozess helfen – diese Kraft, die sich immer wieder auch mit Machtstrukturen verbindet und Ohnmacht provoziert? Wie können Kirche und Zivilgesellschaft Räume schaffen, in denen Empathie möglich ist, die Freude an Beziehung und Berührung? An vielen Stellen gelingt es; überall in Deutschland gibt es offene Häuser der Begegnung, Schutzräume gegen die Angst. Es ist unsere Aufgabe als Zivilgesellschaft, Heimat zu bieten, ohne auszugrenzen. Dabei kann Religion unseren Blick schärfen gegen willkürliche Grenzziehungen, unsere Ohren gegen Hass und Verachtung. Sie kann sie unsere Neugier und Sympathie wach halten – unsere Neugier auf die Erfahrungen anderer Menschen. Gastfreundschaft ist die Brücke zwischen den verschiedensten Erfahrungen.

Im Glauben der Yesidinnen und Yesiden findet ich zwei starke Symbole dafür, dass das möglich ist: Das Gebet außerhalb der Mauern, die Anbetung in der aufgehenden Sonne, symbolisiert für mich Freiheit und Offenheit, aber auch Würde – für jede einzelne. Und die Geschichte von der Arche, die in der Tempelstadt Lalisch zuerst den Boden berührt haben soll, bevor sie zum Ararat weitergetragen wurde, ist eine Hoffnungsgeschichte – auch für die Ankunft hier in Deutschland, wo für viele Menschen ihre Arche der Hoffnung aufsetzte. Es wird noch dauern, bis die Geflüchtete hier zu Hause sind – und bis wir uns miteinander neu aufgestellt haben. Am besten ist das möglich, wenn wir alle immer einmal wieder unsere Mauern verlassen und schauen, mit wem wir uns verbünden können. So wie heute. Fangen wir an.

Cornelia Coenen-Marx

 

[1] Shirin mit Alexandrea Cavelius und Jan Kizilhan: Ich bleibe eine Tochter des Lichts. Meine Flucht aus den Fängen der IS-Terroristen, Berlin 2016
[2] Carolin Emcke, Gegen den Hass 5. Auflage, Frankfurt am Main 2016
[3] Irina Badavi mit Angela Kandt; Wenn der Pfau weint. Wie ich mich als Jesidin aus der Gewalt einer Parallelgesellschaft in Deutschland befreien konnte, Gütersloh 2016