Haltestellen unterwegs

Aufgaben für Kirche und Diakonie im Gemeinwesen

1. This Shrine is open 24 hours

Das Foto, das zurzeit auf dem Display meines Smartphones erscheint, zeigt eine einfache Metalltafel mit der freundlichen Einladung: „This Shrine is open 24 hours a day for prayer and private reflektion“. Nein, mein Smartphone ist nicht gemeint – vielmehr will ich mich an eine andere Art von Kommunikation und Resonanz erinnern. Hinter der Tür, an der jenes Schild zu Gebet und Meditation einlädt, findet sich nämlich eine Kapelle, in der tatsächlich rund um die Uhr gebetet wird. Morgens, mittags und abends hört man ich im Vorübergehen den Rosenkranz, dazu Gesänge von vielen, gerade auch von jungen Menschen. Der Anbetungsraum in der Heiliggeistkirche in Vilnius ist immer voll. Er ist ein Hot spot in dieser Stadt, ein Ort, an dem sich die ganze Frömmigkeitsgeschichte und die politische Geschichte Litauens kristallisiert. Katholisch, dann orthodox, später enteignet und schließlich wieder geweiht – von Johannes Paul II. auf seiner Pilgerreise besucht, spiegelt die kleine Kirche nicht nur die religiöse, sondern auch die politische Geschichte des Landes und zieht die Menschen an. Einer der vielen Orte des Leidens, des Widerstands und der Auferstehungserfahrung in diesem gebrochenen und befreiten Land.

Wer Vilnius besucht, kann jede Menge Stadtpläne bekommen. Das polnische, das deutsche, das russische Erbe besichtigen – in Stadtrundgängen, die sich immer wieder auch kreuzen. In manchem ist diese Stadt mit Jerusalem vergleichbar. Aber nicht alle Kirchen, Häuser, Gedenkstätten sind so leicht einzuordnen wie die schöne Barock- oder Rokoko-Architektur – mehrfach haben sie den Besitzer, die Bedeutung, die Nutzung gewechselt. Aber sie können besucht werden. Schwerer ist es, das jüdische Vilnius zu besuchen. Dafür liegt keine Touristenkarte bereit. Die Schriftstellerin Kristina Sabaliauskaite beschreibt die Stadt in ihrem Buch „Vilnius – Wilna – Vilnius“ aus der Perspektive dreier Protagonisten – mit polnischen, litauischen und jüdischen Augen. Wie es sein muss, die eigene Heimatstadt zu besuchen und kaum noch etwas von der eigenen Geschichte zu finden – noch nicht einmal eine Bäckerei, die ein Sabbatbrot, eine Challah backen kann, das kann man beim Lesen nur ahnen.

In Vilnius habe ich mich in diesem Sommer gefragt, wie die Stadtpläne aussehen, die wir auf unsere Städte legen, und was darin fehlt. In Hannover gibt es eine Karte aller Kirchen der unterschiedlichsten Konfessionen und Denominationen. Auch die Migrantengemeinden, die in der Regel unter sich bleiben, wenn sie Gottesdienst feiern, sind zu finden. Und soweit ich weiß, gibt es inzwischen auch eine Auflage, die die unterschiedlichen Moscheen, Synagogen und Tempel mit einschließt. In einer süddeutschen Kleinstadt fand ich eine Karte für Familien – herausgegeben von der Stadtmission: da waren nicht nur die Kirchen und Tageseinrichtungen, sondern auch die Spielplätze und Kinderärzte, die Schulen und Sportvereine verzeichnet und natürlich auch die familienfreundlichen Restaurants und die Gemeinden mit Angeboten für Kinder und Familien. Ein echter Service für eine kinderfreundliche Stadt. Und in meiner ehemaligen Gemeinde in Mönchengladbach arbeitet gerade eine Gruppe im Gemeindeladen an einem inklusiven Stadtplan für Ältere. Dort werden die Zugangswege für alle öffentlichen Gebäude verzeichnet – gut auch für Eltern mit Kinderwagen genauso wie für Menschen mit Rollator oder Rollstuhl. Und wer eine Stadtführung mit Obdachlosen mitmacht, der weiß: ein Stadtplan für diese Zielgruppe fehlt. Darauf wären die Plätze zu sehen, wo man eine Dusche, einen PC und einen Schlafplatz findet, die Bäcker, die gegen Abend zu günstigeren Preisen verkaufen, die Bahnhöfe, an denen man noch nicht verbrauchte S-Bahn-Karten bekommen kann und die öffentlichen Plätze, wo man noch immer auf einer Bank liegen kann, ohne vertrieben zu werden. Solche Karten gibt es nicht – aber die Zinken fielen mir ein, die am Pfarrhaus meiner Kindheit zu sehen waren. „Freundliche Menschen“ stand da – Gott sei Dank. Denn damals war es noch üblich, dass man im Pfarrhaus eine Suppe bekam, man konnte im Garten mitarbeiten und es gab einen Kontakt zum Bahnhof für eine Fahrkarte. Wo Karten nicht weiterhelfen, brauchen wir die Solidarität von Leidensgenommen. Denn je mehr eine Gruppe marginalisiert und vergessen ist, desto unsichtbarer ist sie für die Karten. Was bedeutet das für Kirche und Diakonie?

 

2. Das Ringen um Solidarität – Quartiere im Wandel und Kommunen unter Druck

Wer schon einmal umgezogen ist, vielleicht auch ins Ausland, der weiß, welche Plätze die ersten Anlaufstellen sind. Arbeitsplatz, Schule und Kindergarten, die Läden, in denen man Putzmittel und Lebensmittel kaufen kann, Handwerker und Ärzte gehören dazu und die Nachbarn, die die kürzesten Wege kennen. Man brauche 30 Menschen, um sich irgendwo zu Hause zu fühlen, habe ich neulich gelesen – Dienstleister und Nachbarn gehören dazu. Und die Kirchengemeinde? Sie steht wahrscheinlich nicht zuerst auf der Liste – es sei denn, sie kann Hilfen bieten kann, um anzukommen und heimisch zu werden. Vom Kindergarten über das Nachbarschaftscafé bis zur Begleitung bei der house-warming-party, die ja auch eine Segnung einschließen darf. Wie also können sich Kirche und Diakonie daran beteiligten, Menschen Heimat zu geben und die Willkommenskultur im Quartier zu stärken?

Tatsächlich haben ja viele eher den Eindruck, dass sich Kirchen und ihre Akteure zurückziehen. Wo Kindertageseinrichtungen an andere Träger abgegeben werden, Kirchenkreise fusionieren und Kirchengebäude aufgeben, verkaufen oder umwidmen, ist Trauer und Enttäuschung, manchmal auch Wut wahrzunehmen. Da erinnern sich Einheimische und die Fortgezogenen an die Augenblicke, in denen sich dieser Ort in ihre Biographie eingeschrieben hat. Und eine Anlaufstelle fehlt. Aber ich will nicht einer guten alten Zeit hinterherweinen, in der angeblich alles besser war. Wenn aufgrund von Finanzschwierigkeiten einschneidende Entscheidungen getroffen werden, kann dies auch belebend wirken – wenn auch manchmal erst einmal im Konflikt. Vor zwanzig Jahren habe ich den Osten Londons besucht – eine heruntergekommene Hafengegend mit internationaler Bürgerschaft, in der der Bischof von London eine Kirche aufgegeben hatte. Dort habe ich erlebt, wie eine Bürgerinitiative um den Erhalt und die Umgestaltung der Kirche zu einem Gemeinschaftszentrum kämpfte. Es waren Menschen, die dort getauft oder getraut worden waren, die an diesem Ort eine Erfahrung von Verbundenheit und Zugehörigkeit, ja, von Würde gemacht hatten. Sie empfanden den Stadtteil noch immer als Heimat, selbst wenn sie schon lange nicht mehr dort lebten.

Inzwischen kennen wir solche Bewegungen aus den Gemeinden in Brandenburg oder in der Uckermark, aber auch in Wuppertal und Duisburg. Der Rückzug der Kirche entspricht den Mitgliederverlusten und der Struktur- und Finanzschwäche der Kommunen in den schrumpfenden Regionen. Dass Familien über mehrere Generationen an einem Ort wohnen, ist schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr. Junge Leute ziehen in die prosperierenden Regionen; zurück bleiben die Älteren, weniger beweglichen, die häufig Wohneigentum haben, das sich in schrumpfenden Regionen kaum verkaufen lässt. Väter pendeln von Ost nach West zur Arbeit: Wo bereits Kinder in der Familie leben, sind es dann häufig die Mütter, die bleiben. Aber auch und gerade kinderlose Paare kennen Lebensphasen, in denen sie aus beruflichen Gründen über lange Zeit getrennt leben. Wer häufig umzieht oder auch pendelt, verliert leicht die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft und damit auch den Zugang zu Kirche und Gemeinde. Das Alleinsein und das Zerbrechen der hergebrachten sozialen Bezüge sind dabei nicht nur eine emotionale Herausforderung. Alleinerziehende mit kleinen Kindern, auch alte oder kranke Menschen – deren Anteil an der Gesamtbevölkerung mit dem demografischen Wandel wächst – geraten bei der Bewältigung des Alltags oft enorm unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen, Nachbarn und Freunden zurückgreifen können.

Denn auch die Nachbarschaften verändern sich, weil Menschen von anderswoher zuziehen – als Arbeitssuchende, Migranten oder Flüchtlinge. Manche, wie die Einwanderer der 60er Jahre aus Südeuropa oder aus der Türkei, gehören mit ihren Familien seit Generationen dazu; und dennoch hat sich noch nicht überall ein echtes Miteinander entwickelt. Ich erinnere mich an die wütenden Briefe, die ich im rheinischen Landeskirchenamt erhielt, als es um den lautsprecherverstärkten Muezzinruf in Duisburg ging. Wo die Arbeitslosigkeit hoch ist – zum Beispiel weil ein großes Werk geschlossen wurde, wie das im Ruhrgebiet in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder geschieht – wo viele leben, die von Transfereinkommen abhängen, wächst die Angst vor dem Verlust des „Eigenen“ – des eigenen Arbeitsplatzes, der eigenen Kultur, der gewohnten Nachbarschaft, ja auch der eigenen Kirche. Da wird spürbar, was alles Heimat ausmacht: sich auskennen, gebraucht werden, dazugehören. Im Duisburger oder Essener Norden aber leben Menschen zusammen, die sich jeder auf seine Weise ausgeschlossen fühlen – als Hartz-IV-Empfänger, Pflegebedürftige, Migranten, oder kinderreiche Familien. In Duisburg machen die Sozialkosten weit mehr als die Hälfte des städtischen Haushalts aus. „Wir reden von Millionen von Ausgeschlossenen“, schreibt Heinz Bude. „Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Überzeugung gewonnen haben, dass es auf sie nicht mehr ankommt.“[1]. Der Theologe Ernst Lange, der Gründer der ersten „Ladenkirche“ in Berlin, sprach schon in den 60er Jahren vom Ensemble der Opfer, das sich in manchen Stadtteilen sammle. Mit der Gentrifizierung hat dieses Phänomen zugenommen. Die wachsenden sozialen Unterschiede zwischen Erwerbstätigen und Hilfebeziehern, zwischen Bildungsgewinnern und Bildungsverlierern, die Parallelgesellschaften zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen, zwischen Migranten und Autochthonen lassen sich auf den Stadtplänen nachvollziehen.[2] Und dabei wissen wir, in welchem Maße Schichtzugehörigkeit und Herkommen, ja, die Adresse – den Bildungserfolg, die gesundheitliche Versorgung, den gesellschaftlichen Aufstieg und sogar die Lebensdauer bestimmen. In der neuen Enzyklika „Laudato si“ schreibt Papst Franziskus, die Bewohner bestimmter problematischer Viertel erlebten Entwurzelung in den Städten, die sich laufend veränderten und damit immer mehr anonymisierten. Deshalb sei es nötig, die urbanen Bezugspunkte zu pflegen und die verschiedenen Teile einer Stadt zu integrieren, damit die Bewohner ein Gesamtbild behielten, statt sich in Wohnquartieren abzukapseln. Wer das gemeinsame „Wir“ nicht mehr erlebe, werde zum Fremden, in der eigenen Stadt. „Laudato si“ macht deutlich, dass das auch mit dem Umgang mit den öffentlichen Gütern zu tun hat – mit dem Zugang zu Parks und Flußufern oder zu öffentlichen Plätzen.[3]

Die Kämpfe, die wir zurzeit um Mieten und Wohnungswirtschaft, um Wasserwirtschaft und Ernährung, um die Bezahlung der Fachkräfte und die Qualität von Erziehung und Pflege, ja auch um die Privatisierung von Bahn und Post erleben, sind Ausdruck der berechtigten Sorge, dass die Solidarität in unserer Gesellschaft bedroht ist, weil auch diese Branchen inzwischen der Logik des Wettbewerb folgen. Das gilt auch für die Kommunen. Weil viele Städte und Kreise kaum noch in der Lage sind, ihre Pflichtaufgaben in ausreichendem Maße zu erfüllen – den Kita-Ausbau und die Ganztagsschulen, die Eingliederungshilfe und die Hilfe zur Pflege zu Schultern – haben sie unter dem Druck der Schuldenbremse längst die Notbremse ziehen müssen: Brunnen abgestellt, Theater und Schwimmbäder geschlossen, Verkehrs- und Energiebetriebe, die Wasserwirtschaft und den Wohnungsbestand verkauft und schließlich auch die freiwilligen Leistungen für Jugendzentren, Breitensport und Beratungsstellen gestrichen. Also genau die öffentlichen Angebote verschwinden, die Räume veröden, die zur Begegnung und Beteiligung aller wichtig sind. Die Konflikte, die sich beim Thema Flüchtlinge zum Teil ihr Ventil suchen, zeigen, welcher Handlungsbedarf besteht.

Vor lauter Individualisierung und Spezialisierung, vor lauter Schielen nach Effizienz, nach Nutzen und Gewinn, habe man den roten Faden verloren, sowohl individuell als gesellschaftlich, sagt Stefan Grünewald vom Institut Rheingold. Es fehle das gemeinsame Projekt, das Zukunft erschließe, Bindungskräfte gingen verloren – und das wirke beängstigend. Oder findet unsere Gesellschaft das Zukunftsprojekt inzwischen im Aufbau einer neuen Willkommenskultur, in einem neuen Selbstverständnis als Einwanderungsland? Es wäre schön, aber ein offenes und tolerantes Miteinander braucht eben nicht nur guten Willen und eine engagierte Zivilgesellschaft, sondern auch eine funktionierende soziale Infrastruktur. Es geht um den Erhalt der öffentlichen Güter – darum, dass auch das untere Drittel der Bevölkerung die Möglichkeit hat, am öffentlichen Leben teilzunehmen und das eigene Leben auf Augenhöhe mit anderen zu gestalten.

Was ist zu tun, wenn dieser Befund stimmt und was können wir als Kirche und Diakonie dazu beitragen? Auch Kirchen sind ja öffentliche Gebäude, wir nehmen Steuern ein wie der Staat; wir zählen noch immer breite Gruppen zu unseren Mitgliedern und sind damit selbst Teil der Infrastruktur – wir haben aber auch eine Geschichte zu erzählen, die Mut machen kann.

 

3. Alles auf Anfang oder „Kirche findet Stadt“

Im Jahr 1846, nach dem großen Brand in Hamburg, konzipierte Johann Hinrich Wichern ein Wohnungsbauprogramm, das in einer kleinen Schrift öffentlich machte. Er dachte an eine Art Gehöft mit 150 und 200 Wohnungen – in der Mitte eine Schule. Denn wie wichtig Bildung als Schlüssel zur Teilhabe ist, das hatte er mit der Sonntagsschularbeit selbst erlebt. Genauso wesentlich war ihm aber eine funktionierende Nachbarschaft und Zivilgesellschaft. Deshalb sollten sich die Bürgerinnen und Bürger in dem neuen Quartier in einem Kranken- und Begräbnisverein organisieren, um in Notlagen Anteilnahme zu üben. Und Alleinlebende, Menschen ohne Familienbeziehungen, sollten in ein das „Familiengemeinwesen“ integriert werden.

Wichern suchte wie die anderen Gründermütter und -väter der neuzeitlichen Diakonie suchten nach Antworten auf die Herausforderungen der ersten Globalisierungswelle: Migration und Armut, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und bildungsferne Familien waren auch damals ein großes Problem. Kinder und Pflegebedürftige wurden allein gelassen, weil die Familien in der aufkommenden Industriegesellschaft überfordert waren. In dieser Situation gehe es eben nicht nur darum, das Wort Gottes zu predigen, sondern den „Schlüssel zu den Herzen wieder zu entdecken.“[4], betonte Wichern. So entstanden Sonntagsschulen und Gefangenenfürsorgevereine, Kleinkinderschulen und Pflegeeinrichtungen und auch neue Angebote beruflicher Bildung – in der Gehilfenausbildung bei Wichern, in der Ausbildung von Krankenschwestern und Kindergärtnerinnen bei Fliedner. Es ging nicht nur darum, den Benachteiligten zu helfen – wie manche noch immer Diakonie verstehen – es ging darum, Menschen einen Platz in der Gesellschaft und eine Perspektive für die Zukunft zu geben. Die Gemeinschaften der Mutter- und Brüderhäuser, in denen damals neue Arbeits- und Ausbildungsplätze für die wachsenden sozialen Bedarfe geschaffen wurden, waren, um es in heutiger Sprache zu sagen, Orte der Solidarität und des Empowerments.

Solche Räume und solche Netzwerke sind heute wieder gefragt: Hartz-IV-Empfänger, Frührentner, Jugendliche ohne Schulabschluss und die vielen, die nicht mithalten können in der beschleunigten Arbeitswelt – die Mütter kleiner Kinder, Menschen mit Behinderung und psychisch Kranke. All die Abgehängten, die das Gefühl haben, auf sie käme es nicht mehr an. Die Flüchtlinge und Migranten, die auf der Suche nach Frieden, Arbeit und Wohlstand in unsere Städte strömen. In manchem gleichen die Herausforderungen der zweiten Globalisierungswelle denen des 19. Jahrhunderts und manche Probleme, die wir längst überwunden glaubten, kehren in neuem Gewand zurück. Und noch immer die Quartiere die Orte, die über Teilhabe entscheiden.

In den Jahren 2011 und 2012 förderte das Bundeministerium für Stadtentwicklung, Bauen und Verkehr aus den Mitteln des Fördertitels „Soziale Stadt“ das ökumenische Projekt „Kirche findet Stadt“, das entscheidend von Diakonie und Caritas entwickelt worden war und nun Gott sei Dank eine kleinere Fortsetzung gefunden hat. Es ging und geht dabei um die Kooperation von Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden mit anderen Partnern im Stadtteil: mit Schulen und Wirtschaft, mit Sportverbänden und Initiativen des bürgerschaftlichen Engagements. Ziel war, die Kirche wieder als zivilgesellschaftlichen Akteur in den Netzwerken der Stadtentwicklung zu verankern. In der Evangelischen Kirche sprechen wir in diesem Zusammenhang von Gemeinwesendiakonie. Der Begriff steht für die Bewegung „vom Fall zum Feld“, wie Wolfgang Hinte das nennt: Für eine stärkere Orientierung diakonischer Angebote an sozialräumlichen Gegebenheiten, wie wir sie aus der Gemeinwesenarbeit kennen, aber auch für eine bewusste Wahrnehmung der parochialen Verantwortung in der Kirche und für eine vertiefte Zusammenarbeit von diakonischen Einrichtungen und Kirchengemeinden und schließlich für eine Öffnung kirchengemeindlicher und diakonischer Räume für andere zivilgesellschaftlich relevante Gruppen. Dieses Programm entspricht übrigens auch den Forderungen der Diakoniedenkschrift der EKD von 1998, die damals unter dem Titel „Herz und Mund und Tat und Leben“ herauskam. Gemeinwesendiakonie begreift die Kirchen als zivilgesellschaftliche und sozialpolitische Akteure, die zusammen mit Wirtschaft, Kommunen und Zivilgesellschaft Mitverantwortung für die Entwicklung des Gemeinwesens übernehmen – und so eine neue Subsidiarität gestalten. Im Dreieck von Staat/Kommunen, Markt/Unternehmen und Zivilgesellschaft hat die Kirche Akteure in allen Feldern und deswegen auch die Möglichkeiten, vielfältig Brücken zu schlagen. Dabei erscheint sie selbst zum Teil als Brückenplatz, als hybride Organisation zwischen Staat und Unternehmen der Wohlfahrtspflege, zwischen Wohlfahrtsunternehmen und zivilgesellschaftlicher Quartiersarbeit, zwischen Kirchengemeinden und anderen Engagierten in der Zivilgesellschaft.

Eines meiner Lieblingsbeispiele ist die Diakoniekirche in Offenbach, wo kirchliche und diakonische Handlungsfelder neu aufeinander bezogen werden: hier ist die Arbeit ganz auf Community Organising und interkulturelle Projekte ausgerichtet. Denn die Diakoniekirche liegt im Mathildenviertel, wo Menschen aus 50 verschiedenen Nationen zu Hause sind. Ein anderes ist die Heiliggeistkirche in Berlin Kreuzberg, wo die Kirche selbst Diakoniezentrum geworden ist – mit einem geistlichen Raum in der Mitte, mit Cafés und Beratungsstellen und einem wunderbaren Kirchengarten, der an die Immunität eines Klosters erinnert. Ein Zentrum für Wohnungslose, für Engagierte in der Migrationsarbeit, für Eltern im Stadtteil. Ein drittes ist das Gemeinschaftshaus in Gelsenkirchen, ein ehemaliges Gemeindehaus, das jetzt u.a. von BP gesponsert wird. Gemeinwesendiakonie kann je nach Situation im Quartier ganz verschiedene Profile, Akteure und Zielgruppen haben.

Was ist das Geheimnis der Stadtteilläden und Diakonie-Cafés, der Mehrgenerationenhäuser und Familienzentren, der Vesperkirchen und all der anderen offenen Treffpunkte im Quartier? Was macht sie zu hot spots in den Städten? Als eine, die vor 30 Jahren einen Gemeindeladen gegründet hat, würde ich es so zusammenfassen: Es geht um eine neue Kultur der Gastfreundschaft, aus der sich Teilhabe und Solidarität entwickeln. Im Café des Gemeindeladens kamen Probleme zur Sprache, die die Gottesdienst- und Gruppengemeinde lange nicht wahrgenommen hatte: Arbeitslose erzählten von ihrer Erfahrung, aus den gewohnten Bezugssystemen herauszufallen – und manche engagierten sich später im Ladenteam. Überforderte und verzweifelte pflegende Angehörige trafen sich in einer Gruppe. Mütter organisierten Mutter-Kind-Gruppen; ein konvertierter Moslem regte einen interreligiösen Dialog an. Als wir damals zur Eröffnung dieses Stadtteiltreffpunkts einluden, stand auf dem Flyer eine kleine Geschichte mit dem Titel: „Ich traf nur Martin“. Für Etablierte mit einem großen persönlichen Netz das Selbstverständlichste der Welt: Du setzt dich an einen Cafétisch und vielleicht setzt sich jemand zu Dir. Eine Ehrenamtliche – sie hört Dir zu. Und im Gespräch merkt Ihr: Du bist nicht allein mit Deiner Geschichte, Deiner Frage, Deinem Problem. Was Dir passiert ist, passiert vielen. So wird aus Gastfreundschaft Solidarität. Vielleicht entsteht daraus eine Gruppe, eine Aktion. Im Prozess des Zuhörens und Aussprechens werden hinter den Einzelschicksalen gesellschaftliche Strukturen und Entwicklungen erkennbar, entstehen Initiativen im Quartier. Damit das gelingt, braucht es Räume, engagierte Bürgerinnen und Bürger, aber zumeist auch professionelle Unterstützung. Menschen, die zwischen Problemanzeigen und Hilfsangeboten zu vermitteln wissen, so wie es noch bis in die 1950er Jahre die Gemeindeschwester tat. Quartiersmanager sind gefragt, die Betroffenen und Engagierten Raum zur Selbstorganisation geben – tatsächlichen und ideellen Raum. Das kostet, dafür müssen kontinuierlich Mittel zur Verfügung gestellt werden. Denn eines der größten Probleme der Quartiersbewegung ist, dass sie aus Projektmitteln finanziert ist, die häufig nur sehr begrenzte Zeit fließen. Deswegen ist die Kirche nicht nur mit ihren Räumen, sondern auch mit ihren Ressourcen gefragt.

Vielleicht kennen Sie die Augenblicke, in denen man mit dem Blick eines Fremden auf das eigene Land, die eigene Stadt, die eigene Kirche sieht, und erschreckt. Mir ging es immer wieder so, wenn ich an einem der Caféhaustische von Schicksalen hörte, die in Gemeindegruppen nicht angesprochen wurden. Es ging mir aber auch so, als ich vor zwei/drei Jahren im „Guardian“ las, Christen und Kirchen wären besonders stark darin, kleine Netze im Stadtteil zu knüpfen, Heimat zu schaffen und Benachteiligte einzubinden. Der Redakteur hatte das Sozialkapital, das die Kirchen in Großbritannien für die Gesellschaft bereitstellen, sogar umgerechnet in Pfund. Und kam zu dem Schluss, dass diese Leistung in Deutschland anerkannt würde – mit der Kirchensteuer nämlich. Ich habe mich einen Augenblick geschämt. Denn so ist es – aber hier in Deutschland ist zurzeit von Caring-Communities die Rede, von sorgenden Gemeinschaften. Die Alterskommission wie Engagementkommission der Bundesregierung befassen sich damit und werden im Frühjahr ihre Berichte vorlegen. Es geht um die Entwicklung von lebendigen und starken Nachbarschaften, um Budgets für Quartierspflege und Bündnisse für Familien. Dass die Kirche in keiner der beiden Kommissionen vertreten ist, muss uns zu denken geben.

 

4. Gerechte Teilhabe

Kein Mensch soll aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Diese Vision hat in den letzten Jahrzehnten viele Bürger und Bürgerinnen angetrieben: von der Psychiatrieenquete bis zur Ambulantisierung der Behindertenhilfe, von Cecily Sounders bis zu Klaus Dörner. Auch ihre Träume richteten sich zumeist auf das Zusammenleben im Quartier. Wer pflegebedürftig ist oder mit Behinderungen leben muss, wer unheilbar krank und sterbend ist, soll deswegen nicht umziehen müssen. Niemand soll stationär untergebracht werden, nur weil er sich selbst nicht mehr versorgen kann; keiner soll isoliert sein, wenn er stirbt. Die Umsetzung dieses Traums in eine menschenrechtliche Norm, die UN-Behindertenrechtskonvention, zwingt uns jetzt im Blick auf Menschen mit Behinderungen, ganz konkret darüber nachzudenken, wie unsere alltäglichen Lebensorte gestaltet sein müssen, damit das gelingt. Wie Wohnquartiere und Arbeitswelt, soziale Dienste und deren Finanzierung durch die sozialen Sicherungssysteme, und auch wie Kirchengemeinden sich ändern müssen. Wir haben das in der EKD-Orientierungshilfe „Es ist normal, verschieden zu sein“, versucht, darzustellen. Dabei geht es natürlich nicht nur um Menschen mit Behinderung, die Fragen betreffen auch Pflegebedürftige, Demenzkranke, junge Leute, die in ihren Familien keine Unterstützung finden, und selbstverständlich Migranten und Flüchtlinge.

Kirche und Diakonie haben viel beizutragen, wenn es um Migration geht. Mit ihren Angeboten des Betreuten Wohnens für Jugendliche oder für ältere Menschen, für psychisch Kranke oder für Menschen mit Behinderung. Mit ambulanter Pflege, Hauswirtschaftsdiensten und Pflegeberatungsstellen, mit Jugendzentren, Jugendberatungsstellen und den Schulen, die mehr und mehr inklusiv arbeiten. Wenn wir aber wirklich ernst damit machen wollen, dass Menschen, die vor Jahren noch in Sondereinrichtungen untergebracht waren nun ganz normale Gemeindemitglieder sind, dann gibt es noch viel zu tun. Es darf nicht geschehen, dass sich die alten diakonischen Stadtteile in Hephata oder Bethel, in Treysa oder im Rauhen Haus, in Konversionsprozesse begeben und in ganz normale Wohnviertel verwandeln, ihre Förderschulen öffnen, ihre Werkstätten an den Markt anpassen, die Anstaltskirchengemeinden auflösen, damit alle, die es wollen, selbstbestimmt leben können – dass dann aber weder Gottesdienste noch Konfirmandenarbeit, weder Nachbarschaften noch Arbeitgeber darauf eingestellt sind, weil ein inklusiver Verständnis von Normalität dort noch gar nicht angekommen ist. Es kann nicht sein, dass Normalisierung am Ende Einsamkeit bedeutet. Gott sei Dank gibt es gute Beispiele inklusiver Netzwerke. Oft sind Unternehmen die Vorreiter – zum Beispiel dem Handwerkerschaft und Schulen, Werkstätten und Kommunen zusammen arbeiten, um Menschen mit Behinderung Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt zu geben.

Die Idee der Inklusion, gilt inzwischen als internationale Leitidee in der Sozial- und Gesellschaftstheorie[5] und wird als die soziale Herausforderung der Gegenwart betrachtet[6]. Dabei geht es nicht nur um einen individuellen Rechtsanspruch auf gesellschaftliche Teilhabe und aktive Mitgestaltung, es geht vielmehr um die Verpflichtung von Staaten und Kommunen, aber auch von Kirche und Diakonie, angemessene Vorkehrungen zu treffen, damit alle Menschen – die Abgehängten in den Quartieren, die Pflegebedürftigen und Demenzkranken ihre Rechte wahrnehmen können. Wir sind herausgefordert, unsere Unterstützungsleistungen so zu erbringen, dass ein Leben in der Mitte der Gesellschaft möglich ist. Das kann nur gelingen, wenn unsere Arbeit personenbezogen und lebensweltlich ausgerichtet ist. Es geht darum, das Einsortieren von Menschen in „Schubladen“ und Gruppen zu beenden, das auch unsere Hilfesysteme kennzeichnet – mit unterschiedlichen Refinanzierungen und Strukturen je nachdem, ob einer behindert oder pflegebedürftig, alt oder krank ist. Ein Steuersystem, das auf Solidarität baut, ist eine gute Voraussetzung dafür.

 

5. Zuordnungen überwinden – eine dauernde Herausforderung

Dazu gehört auch, die Zuordnungen der Menschen zwischen Kirche und Diakonie als Sozialsystemen mit ihrer Organisationslogik in Frage zu stellen. Von Angeboten für Familien bis zu solchen für ältere und pflegebedürftige Menschen, von Beratungsangeboten bis zu den Schulen prägten und prägen solche Zuordnungen über lange Zeit das Bild. Allgemeinbildende Schulen, häufig Gymnasien in kirchliche – Förderschulen in diakonischer Trägerschaft. Angebote für Alleinerziehende, Welcome-Programme, Mutter-Kind-Kuren in der Diakonie, Tageseinrichtungen in der Kirchengemeinde. Ehe- und Lebensberatung in der Kirche, Schuldner- und Suchtberatung in der Diakonie. Die Orientierungshilfe der EKD zur Familienpolitik und ihre Rezeption in der Kirche erzählen von diesem Dilemma. Ich könnte fortfahren, stelle aber einfach grundsätzlich fest: die Struktur, die dahinter steht, hat ihren Grund nicht nur an den Finanzierungsmodalitäten von Sozialversicherungen und Kommunen, sie hat ganz offensichtlich auch mit unserem Kirchenbild zu tun, das ganz bestimmte Gruppen an die Diakonie delegiert und damit exkludiert hat, nämlich alle die, die nach dem Sozialgesetzbuch Hilfeempfänger sind.

So wurde mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaats oft auch die Distanz zwischen Kirchengemeinden und ihren diakonischen Einrichtungen größer – nicht zuletzt, weil die Wohlfahrtspflege mit ihren Refinanzierungs- und Kontrollmechanismen, mit ihrer fachlichen Professionalisierung und zunehmend marktorientierten Steuerung ganz anderen Leitlinien und Prozessen folgt als die noch immer steuerfinanzierte und eher ehrenamtsorientierte Kirche. Auf der Organisationsebene sprach und spricht man verschiedene Fachsprachen, hat einen unterschiedlichen Blick auf gesellschaftliche Wirklichkeiten. Allerdings entwickeln sich inzwischen auch die verfassten Kirchen wie die Kommunen in Richtung Markt und Wettbewerb mit Kerngeschäft, Milieu- und Angebotsorientierung. Sich gemeinsam aufzumachen in Richtung Gemeinwesen bietet die Chance, die Sprachlosigkeit zu überwinden und nach gemeinsamen Zielen zu fragen. Schließlich geht es darum, endlich alle Gruppen im Stadtteil als Bürgerinnen und Bürger und eben auch als Gemeindemitglieder wahrzunehmen – nicht nur als Klienten oder Hilfebedürftige. Und ernst damit zu machen, dass wir alle mal in der einen und mal in der anderen Position sind und das unser Engagement genau daran wachsen kann. Es kommt also darauf an, dass wir nicht nur in kirchlichen und diakonischen Gremien über unsere Organisations-Interessen reden – über Steuerungsgruppen und Finanzströme, über Leitbilder und Qualität – sondern mit den Betroffenen und Engagierten über den gesellschaftlichen Bedarf. Denn während wir noch gefangen sind im überkommenen Spannungsfeld von Kirche als Gemeinde, Diakonie und zivilgesellschaftlichen Initiativen, wachsen längst neue Wettbewerber und Partner: unsere Gesellschaft wird interreligiös, die Engagementgruppen wachsen und social Entrepreneurs treten neben die Wohlfahrtsunternehmen.

Dabei kann Kirche entscheidend von den sozialen Bewegungen in der Zivilgesellschaft lernen – Hospizbewegung wie Tafelbewegung, aber auch die Angehörigen von dementiell Erkrankten erinnern uns daran, wie Leibsorge und Seelsorge, Gemeinde und Gemeinwesen, Erfahrungen von Hilfe und Zugehörigkeit zusammen gehören. Diese Bewegungen organisieren sich seit langem quer zu Kirchen und Wohlfahrtsverbänden, häufig in eigenen Verbänden, weil sie sich konfessionell nicht mehr zuordnen lassen. Ich sehe mit großem Respekt, wie viele Initiativen, Vereine, soziale Unternehmen in Deutschland daran arbeiten, Generationen zu verbinden, Chancen zu geben, eine Willkommenskultur zu gestalten. Allein für den deutschen Engagementpreis wurden in diesem Jahr mehr als 700 Preisträger ausgewählt, die alle bereits einen Bürgerpreis erhalten hatten. Da finden sich Gartenclubs und Bauhütten, Bürgerbusse und Notruftelefone, neue Genossenschaften und Demenznetzwerke. Und immer wieder einmal denke ich – das wäre eigentlich auch unsere Sache, während wir uns oft genug zwischen Kult, Kultur und Wohlfahrt zerreiben, statt Cross-over zu denken. „No taxation without representation“ hieß es zu Beginn der Staatwerdung der Vereinigten Staaten von Amerika. Ich denke jetzt manchmal daran, dass Wichern solche Ideen in seinem Konzept einer Synode aufgenommen hat. Wo über Kirche und Gesellschaft entschieden wurde, da sollten die diakonischen Vereine und Ökonomien genauso repräsentiert sein wie die „Hausväter“ aus der Bürgergesellschaft. Daraus ist nur wenig geworden, wenn man auf die wechselseitige Repräsentation von Kirche und Diakonie in ihren Gremien schaut – und ich fürchte, das lässt sich auch nur noch schwer verändern. Was sich aber verändern ließe, wäre die Kooperation in Zeit und Raum. Diakonische Mitgliederversammlungen und Synoden, die sich oft mit ähnlichen Fragen beschäftigen, könnten sich abstimmen und hintereinander tagen und das gleiche gilt für Tagungen von Akademien und Diakonischen Fachbereichen. Damit die unterschiedlichen Perspektiven Funken schlagen und die Informationen fließen! Erst in der Kooperation von Kirche und Diakonie entsteht das Neue.

Mit ihrer parochialen und ehrenamtlichen Struktur sind Kirchengemeinden immer schon auf das Gemeinwesen bezogen. Kirchenvorstände und Ehrenamtliche leben im Stadtteil, sie kennen Schulen, Sportvereine, Arztpraxen, den Einzelhandel aus eigenem Erleben und können schnell und informell Anknüpfungspunkte finden. Gemeinden haben ein ungeheures Sozialkapital an Kontakten, Netzwerken und Beziehungen. Gewiss, angesichts des Verlusts an Mitgliedern und Finanzen sind manche Gemeinden auf dem Rückzug – sie verlieren ihre offene Ausstrahlung, büßen Professionalität ein, lassen Außenstehende und Interessierte nicht mehr an Entscheidungen partizipieren. Wo aber Kirche und Diakonie zusammenarbeiten, kann Diakonie das kompensieren: mit professionellen Dienstleistungen, fachlichem Überblick, Unternehmergeist. Diakonie wiederum ist auf dem Hintergrund der Versäulung unseres Sozialversicherungssystems in hohem Maße Zielgruppen- und manchmal auch Defizitorientiert. Gemeinwesendiakonie ist deshalb für beide eine Herausforderung; für Kirchengemeinden geht es darum, die Parochie als Sozialraum neu zu entdecken – und für die Diakonie, quartiersbezogen zu arbeiten. Das Gelingen der Projekte hängt davon ab, dass wir beides zusammen bringen – Lebensweltorientierung und Professionalität, Sozialraum und Dienstleistung, Frömmigkeit und achtsames Engagement. Stadtteilläden, Familienzentren und Mehrgenerationenhäusern leben von diesem Miteinander, das produktive Reibung erzeugen kann.

Wer solche Projekte und Plattformen steuert, ist letztlich nicht entscheidend. Wenn Kirche und Diakonie aber um solche Machtfragen in Konflikt geraten, gefährdet das die Projekte. An Beispielen wie Wohnquartier hoch 4 in NRW oder dem SONG-Projekt von Bertelsmann kann man das im Feld der alternsgerechten Stadt nachvollziehen. Es ist auch nicht entscheidend, ob das ehemalige Gemeindehaus jetzt von der Diakonie geführt wird, weil so besser Mittel von Wirtschaft und Kommune akquiriert werden konnten – entscheidend ist, ob die Nachbarschaft dort Heimat und Hilfe findet – und auch ein Angebot für die Seelen findet. Und auch Vorsitz an runden Tischen kann wechseln und in manchen Städten sind es die Bürgerplattformen, über die die meisten Informationen fließen. Ob Kirche aber überhaupt an solchen Prozessen beteiligt bleibt, entscheidet, ob sie als Akteur im Quartier ernst genommen wird.

 

6. Glaube to go – Haltepunkte in der Stadt

Eines der letzten Hefte der Zeitschrift Stadtteilentwicklung drehte sich um „Glauben“ in der Stadt. Eine Fotoserie in diesem Heft zeigte Autobahnkirchen. Glaube to go, wie die Verfasser sagen. Ohne Gemeinde, ohne Netzwerke. Jan Hendricks, der schon vor 30 Jahren seinem Buch „Gemeinde als Herberge“ ein Bild für die Kirche in unserem Jahrhundert entwickelt hat – eine Art Karawanserei, ein offener Raum der Begegnung miteinander, mit den Nöten der Zeit und mit Gott. Dazu gilt es, die Begegnungsräume, die Kirche fast in jedem Wohnquartier hat – oft sind es die letzten öffentlichen Orte – zu öffnen, damit viele sich einbringen können. Und sie da, wo wir sie nicht mehr brauchen oder nicht mehr tragen können, so umzuwidmen, dass sie wenigstens Begegnungsorte bleiben. Wir müssen nicht mehr immer Gastgeber sein, wir können, um im Bild zu bleiben, auch als Servicekräfte mithelfen, damit das Leben gelingt.

Es geht aber auch darum, dass Gemeinden und Kirchenkreise sich an Stadtplanungsprozessen oder an Initiativen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, bei altersgerechten Städten oder Bürgerkommunen beteiligen. Das ist leider noch viel zu wenig der Fall. Vielleicht liegt das daran, dass mit den diakonischen Aufgaben auch das Verhältnis zur Kommune – die Kooperation mit Kommunalpolitik, Sozial- und Jugendhilfeausschüssen oder mit dem Bauamt an die Wohlfahrtspflege delegiert wurde. Angesichts des Ausblutens von Kommunen und des Verlustes an Gemeingütern ist Kirche nun aber besonders gefragt. Dabei geht es darum, öffentliche Plätze zu erhalten, an denen Menschen unterschiedlicher Herkunft sich treffen können. Es geht darum, die Infrastruktur ganz bewusst aus der Perspektive der Betroffenen anzuschauen und Stadtlandschaften so zu gestalten, dass Raum für das „ Wir“ ist. Als Kirche haben wir in diesem Prozess noch immer viel zu geben – Orte der Stille, Orte der Erinnerung und der Begegnung, Pfarrland und Pfarrgärten – Treffpunkte, für die man keinen Eintritt zahlt.

Manchmal gelingt es Kirche und Diakonie noch, Stadtteile zu prägen, wie Wichern das damals erträumt hat. Da wird Pfarrland an kirchliche Wohnungsbaugesellschaften verpachtet und das Gemeindehaus zum Mehrgenerationenzentrum umgebaut wie in Lindlar bei Köln oder die Diakonie baut eine Kirche wie in Düsseldorf. Eines der schönsten Beispiele ist die Mitarbeit des Laurentiuskonvents mit der „Brücke“ hier in der Hafencity. Es wäre aber auch schon viel gewonnen, wenn die Landkarten in unseren Köpfen und vielleicht sogar in unseren Städten sich änderten: Ich stelle mir einen kirchlich-diakonischen Stadtplan vor, auf dem all die diakonischen Zentren und sozialen Dienstleister zu sehen sind, von denen ich gesprochen habe. Die der Diakonischen Unternehmen und die der Diakonischen Werke, die Nachbarschaftsinitiativen wie die offenen Schulen. Es gibt sie, die diakonischen Stadtpläne – oft aber nur von einzelnen Trägern oder für einzelne Fachlichkeiten. Und wie wäre es, wenn auf dieser Karte auch die Cafés verzeichnet wären, wo man, wenn man selbst einen Espresso trinkt gleich einen für einen Bedürftigen mit sponsern kann? Oder die Zahnärzte, die sich besonders viel Zeit nehmen für die Behandlung von Menschen mit Behinderung? Sie kennen vielleicht die Karte, auf der „Deutschland – Land der Ideen“ die ausgezeichneten Orte prämiert und plakatiert? Und jetzt also die Plakette „Offenes Quartier“ – ausgezeichnet von der ökumenischen Initiative in Hamburg. Ich träume nur und es steht manches dagegen – nicht zuletzt die Angst vor der Diskriminierung der Betroffenen und die Sorge, sichtbar zu machen, wie viele Ressourcen tatsächlich in unserer Arbeit stecken. Und doch gefällt es mir nicht, wenn in meiner Stadt ganz anders für Offenheit geworben wird – nämlich mit einem Plakat für den verkaufsoffenen Sonntag.

„This Shrine is open 24 hours a day for prayer and private reflection“, stand auf dem Metallschild in Vilnius. Ich bin natürlich auch drin gewesen und habe etwas gelernt über die Geschichte des Ortes und die Litauens. Schließlich wollen wir ja nicht nur wissen, wo wir etwas bekommen, sondern auch, wo wir angekommen sind. Das ist eine wichtige Funktion der Kirchen. Sie respektiert, wo wir herkommen und begleitet uns im Ankommen. Vielleicht gibt es demnächst mal eine Kirchen-App, die nicht nur die schönen Kirchen zeigt – inzwischen ist die übrigens ausgezeichnet von „Deutschland – Land der Ideen“ –, sondern die noch darüber hinausgeht: als Quartiersapp, die auch denen Wege ebnet, die ganz neu ankommen.

[1] Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München, Hanser, 2008.
[2] Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung hält fest (ich zitiere): „Die Belastung der Kommunalhaushalte durch Sozialleistungen ist bundesweit unterschiedlich. Am geringsten ist sie in Baden –Württemberg mit durchschnittlich 31 Prozent, am höchsten in Nordrhein-Westfalen mit 43 Prozent. Zwischen den einzelnen Kommunen sind die Unterschiede teilweise eklatant: Während die Stadt Wolfsburg (17 Prozent) und der bayerische Kreis Haßberge (18 Prozent) nur einen kleinen Teil ihres Etats für Sozialleistungen aufwenden, machen die Sozialkosten in Duisburg, Wiesbaden, Eisenach und Flensburg mehr als die Hälfte des städtischen Haushalts aus.“ http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2015/juni/sozialausgaben-belasten-haushalte-der-kommunen-mit-bis-zu-58-prozent/ Vom 8. Juni 2015.
[3] „Laudato si“ – Über die Sorge für das gemeinsame Haus. Die Umwelt – Enzyklika von Papst Franziskus, Stuttgart 2015, siehe besonders die Parr. 149 – 151
[4] A.a.O., 321
[5] Stichweh 2005, 179: „eine Leitunterscheidung der Gesellschaftstheorie“; Mayrhofer 2009, 84 spricht in Bezugnahme auf Luhmann von der „Funktion eines Supercodes des Gesellschaftssystems“ und Luhmann von einer „Primärdifferenzierung der Gesellschaft“ (ebd. zitiert). Antonis 2008 spricht von „Metacode“ und Luhmann 1997, 632 von Meta-Differenz.
[6] So Kronauer 2010b, 24 in seinem Beitrag: „Inklusion – Exklusion: Eine historische und begriffliche Annäherung an die soziale Frage der Gegenwart“. Bude 2008, 65 spricht davon, dass das Paradigma der Ausbeutung durch das der Ausgrenzung ersetzt wurde.