Sein Leib, mein Body und ich – Biblische Impulse zu Schöpfung, Person und Gabe

„In der Nacht wache ich wieder vom Hubschrauber auf. Bringt er eine Kühltasche mit zwei Nieren und einem Herzen auf Eis? Eine Lunge, eine Bauchspeicheldrüse? Mitten in der Nacht klingen landende Hubschrauber nach Vietnamkriegsfilmen“, schreibt David Wagner in seinem Bestseller-Buch „Leben“[1]. Es ist in diesem Augenblick noch nicht lange her, dass das Telefon schellte und er selbst, sterbenskrank, die lange ersehnten Worte hörte: „Wir haben ein Spenderorgan für Sie.“ Dass er hierher, ins Virchow-Klinikum in Berlin gebracht wurde. Leicht, melancholisch und dabei präzise und distanziert beschreibt er seine Erfahrungen, die Hoffnungen, Träume und Ängste – und ich folge ihm, während ich mit Ihnen über biblische Bezüge zum Thema „Organspende“ nachdenke.

 

Das Allerheiligste – Gabe und Macht

Zunächst aber sehe ich die Mitarbeiter des Notdienstes vor mir, wie sie die rote Kühltasche bringen – im Laufschritt durch die Eingangstür in den OP–Bereich, die grünen Kittel fliegen. Alles steril, alles in hoher Geschwindigkeit. Und unweigerlich schiebt sich für mich ein anderes Bild darüber: ich sehe einen Priester oder Diakon, schwarz gekleidet, mit gemessenen Schritt durch den Altarraum gehen – auf dem Weg zum Tabernakel, das golden durch den Kirchenraum leuchtet. Hinter rotem Glas erinnert ein ewiges Licht und daran, dass hier das Allerheiligste ruht, der Leib Christi. Sterilität auch hier. Wenig erinnert in dieser Atmosphäre an die körperliche Wirklichkeit von Blut, Schmerz und Tränen – meist nicht einmal das Kruzifix am Altar. Umgekehrt ist in Notarztwagen und Klinikum vielen bewusst, dass hier das Allerheiligste transportiert wird – Leben pur. Keine Frage: die Bilder sind verwandt – es geht um die Gabe des Lebens, um die Heiligkeit menschlichen Lebens. Dieses Wissen ist größer als meine Scheu, die beiden Symbole zusammen zu führen – die Kühltasche und das Tabernakel. Größer als die Sorge, uralte Ressentiments gegenüber dem jungen Christentum noch einmal aufleben zu lassen – den Kannibalismus-Vorwurf, der die Erinnerungen an Menschenopfer beschwor.

Hier aber geht es nicht zuerst um Macht, die sich das Lebendige einverleibt, um mit der Vitalität Größe zu gewinnen – auch wenn Macht im Spiel ist, damals wie heute. Hier geht es zuerst um die Gabe. Schon der Begriff „Gabe“ signalisiert, was immer weniger selbstverständlich scheint: die Unverfügbarkeit des Lebens, die auch der Machbarkeit und Planbarkeit eine Grenze setzt. Wer sich gesundheitspolitisch mit dem Thema Organspende auseinandersetzt, erlebt allerdings eine andere Wirklichkeit. Die Klage über den Mangel an Spenderorganen, die Werbung für einen Spendenausweis legen den Gedanken nahe, eine Transplantation sei ein mehr oder weniger normaler Behandlungsschritt, auf den es ein Recht gäbe –[2] und konsequenterweise drehen sich die Debatten um Verteilungsfragen zwischen den Polen Ökonomie und Gerechtigkeit. Deshalb ist es wichtig, die Machtfragen, die immer auch im Spiel sind, im Blick zu behalten.

 

Descartes und die Folgen

Transplantation ist nur denkbar, wenn man dem Paradigma der Grenzüberschreitung, dem Willen zur Lebensverlängerung, zur Nutzung aller technischen Möglichkeiten in der Medizin folgt – und den menschlichen Körper in Wissenschaft, Forschung und Behandlung objektiviert. Und selbstverständlich haben wir uns alle längst damit einverstanden erklärt, wir spalten ab und trennen Leib und Seele, ohne es noch wahrzunehmen. Daniel Wagner, über lange Zeit mit diesen Fragen konfrontiert, kann das beschreiben – und wir werden uns darin wieder erkennen: “Eine Schwester betritt das Zimmer“, schreibt er, “fühlt mir den Puls, misst meinen Blutdruck. Mir kommt es vor, als gehöre mein Körper ihr. Ich überlege, wer im Laufe meines Lebens so alles an meinem Körper herum gefummelt hat: meine Mutter, mein Vater, alle Ärzte und Zahnärzte, mit denen ich zu tun hatte, Friseure und Friseuren, die, mit denen ich ins Bett gegangen bin, die Physiotherapeutin, die mir die Schulter massiert, das Kind, mit dem ich auf dem Teppich herumbalge. Die meiste Zeit (allerdings) hatte ich mich ganz für mich allein. Der Körper aber, der hier im Krankenhaus behandelt wird, ist nicht mehr meiner. Ich habe ihn abgegeben, ich habe unterschrieben. Ich lasse andere machen.[3]

Ohne die strikte Trennung von Geist und Körper, ohne den Dualismus Descartes, wären Organtransplantationen gar nicht denkbar. Längst setzen wir Herzklappen und Hüftgelenke ein wie Ersatzteile einer Maschine – eine Pumpe eben, einen Filter. Genauso selbstverständlich wie wir den Körper trainieren, optimieren und notfalls mit Medikamenten fit machen und in Form bringen. Die Selbstvergessenheit, mit dem wir unserem Körper den eigenen Willen aufzwingen und seine Grenzen nicht achten, ist ein Ausdruck dieser Abspaltung. Treffend und dabei heiter hat das Udo Lindenberg beschrieben – in seinem neuen Album „Stärker als die Zeit“.[4] „Ey, du mein armer Körper, was hab ich Dir schon alles angetan – volle Dröhnung, hoch die Tassen, ey, das tut mir ziemlich leid. Ich muss dir jetzt mal danken nach all der Zeit…“. Mir gefällt, wie er hier innehält und auf seinen Körper sieht – auf dessen Kraft und wunderbare Widerstandsfähigkeit. „Ey mein Body, Du und ich, ich weiß, Du lässt mich nicht im Stich. Andre hätten bei so’nem Leben längst den Löffel abgegeben…“. Dabei weiß er natürlich: Irgendwann kommt auch für ihn der Zeitpunkt, wo die Gesundheit nicht mehr mitmacht.

 

Wir sind Leib, der einen Körper hat

Wenn und solange unser Körper funktioniert, denken wir nicht viel darüber nach. Gesundheit sei „das selbstvergessene Weggegebensein an das Leben“, hat der Philosoph Hans-Georg Gadamer gesagt. Erst wenn die ersten „Warnsignale des Körpers“[5] sich bemerkbar machen, spüren wir, dass unser Leib mehr ist als ein jederzeit verfügbares Instrument. Der mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin spricht von der „verleiblichten Seele“. Unsere Sprache kennt diese Intuition: es läuft uns etwas über die Leber, es bricht uns das Herz, es geht uns an die Nieren. Die biblische Vorstellung, dass die Seele, unser Selbst eben nicht nur im Kopf, sondern im Leib verankert ist, ist uns immer noch vertraut. Bis heute assoziieren wir Lebendigkeit mit den Organen und Lebensvollzügen, in denen der Sitz des Personseins vermutet wurde – Herz und Nieren, Leber, Blut und Atem. „Du hast meine Nieren bereitet“, sagt der Psalmbeter[6], Gott hat uns lebendigen Atem eingehaucht, erzählt die Schöpfungsgeschichte, und „des Leibes Leben ist in seinem Blut“, heißt es im Buch Levitikus – Grund für die Zeugen Jehovas, keiner Blutübertragung zuzustimmen. Wir sind Leib, das wunderbar integrierte Zusammenspiel unserer Organe, die rätselhafte Verbindung von Geist und Materie. Denn im Leib spiegeln sich nicht nur Empfindungen der Außenwelt, sondern auch Gedanken und Gefühle – uns fröstelt, wenn wir verletzt sind, unser Herz rast, wenn wir uns aufregen. Tatsächlich ist der Körper mehr als ein Kumpel, der Body, mit dem wir durch das Leben gehen. Er ist Person – wenn man denn den Persona-Begriff des antiken Theaters zugrunde legt und Person als die Maske versteht, in der wir das Selbst eines anderen sehen. „Das Selbst ist Leib und erlebt zugleich, dass es den Leib als seinen Körper hat“, fasst die Soziologin Geza Lindemann dieses Spannungsfeld zusammen. Deshalb können wir durch Eingriffe an unserem Körper unser Selbstbewusstsein stärken – Schönheits-OPs sind ein Beispiel dafür.

Aber nicht nur die Abspaltung zwischen Körper und Geist, von der David Wagner erzählt und die Udo Lindenberg in seinem Lied vom Body so liebevoll zu heilen sucht, ist uns vertraut. Wir spüren auch, dass unser Körper nicht nur uns selbst gehört – sondern dass wir über unseren Leib immer schon mit anderen verbunden sind – mit denen, die uns zur Welt gebracht haben, die wir lieben, die uns helfen oder auch kränken, die uns behandeln und pflegen und die uns am Ende bestatten werden, die die „Werke der Barmherzigkeit“ an uns tun. Über unseren Leib sind wir immer schon Teil eines Beziehungsnetzes – aktiv wie passiv – weil wir eben leiblich in der Welt sind. „Über den Leib als schon immer kulturell gedeuteten Körper besteht ein anthropologisches, also biologisches und soziales Band zu anderen Menschen… – ein Band, das Menschen miteinander und zu einer Menschheit verbindet“, schreibt Peter Dabrock in seinen Überlegungen zur Bioethik[7], und bezeichnet die menschliche Gattung eben nicht primär als eine biologische Spezies, sondern als ein kommunikativ-responsives Netzwerk. „Das ist ja Fleisch von meinem Fleisch und Bein von meinem Bein“, sagt Adam, als er Eva erkennt[8].

Dieses leibliche Selbst, die Gebundenheit unserer Identität an das leibliche In-der-Welt-sein und Mit-anderen-in-der-Welt-sein, ist für die biblischen Texte selbstverständlich. Der Dualismus von Geist und Körper, die Trennung von Leib und Seele dagegen, die uns aus griechischen und gnostischen Traditionen bis heute ganz bildhaft vertraut ist, ist der Bibel fremd. Keine Seelen, die den Vögeln ähnlich dem Himmel entgegenziehen. Keine Wiedergänger, die noch nach Tagen und Jahren die Hinterbliebenen aufsuchen. Keine jenseitige Wirklichkeit, die gegen die Diesseitige ausgespielt wird – nein, das umgekehrte gilt. Gott wird Mensch, er ist im Fleisch[9] – er inkarniert sich. Und auch unser Leib wird zum Tempel des Heiligen Geistes[10] – gepflegt, zerbrechlich und später zerstört, bis Gott ihn in der Auferstehung ganz neu und vollkommen gestaltet. Stark und schön, ohne die Verletzlichkeit und Endlichkeit, die uns hier schmerzen.[11] Und ganz körperlich kommen die Zeichen daher, mit denen Jesus diese Richtung weist – wenn er die Kinder auf den Schoss nimmt, den Blinden Speichel auf die Augen streicht, die Leprakranken berührt. Heilungswunder, Speisungswunder, Liebeszeichen wie die Fußwaschung – wenn Jesus Menschen aufrichtet und zu sich selbst bringt, dann geschieht das ganz leiblich und ist genauso so Zeichen für die kommende Auferstehung. Die Auferstehung des Fleisches, wie es früher im apostolischen Glaubensbekenntnis hieß. Und auch die Hingabe Jesu zeigt sich greifbar – nicht erst im Tod am Kreuz, sondern schon beim letzten Sedermahl, als er das Brot bricht und das Passaopfer neu deutet: Dies ist mein Leib.[12]

Die wechselseitige Verbundenheit der Leiber, von der Peter Dabrock spricht, wird vielleicht nirgendwo so erfahrbar und wirft kaum irgendwo so viele Fragen auf wie bei der Organtransplantation. „Und so ist es passiert“, schreibt David Wagner, „ich habe die Leber eines anderen Menschen, eines oder einer Toten, bekommen – geschenkt bekommen. Ihm oder ihr wurde sie aus dem Leib geschnitten und mir anstelle meiner eigenen eingepflanzt. Ich kann das eigentlich nicht glauben. Es hätte ja, ich weiß, auch andersherum kommen können. Ich hätte in jener Nacht verbluten können – im Badezimmer, über der Badewanne, im Rettungswagen, auf dem Weg in die Klinik. Der Notarzt hielt meinen Organspenderausweis ja schon in der Hand. Anderswo hätten sich Menschen gefreut, hätten weiterleben können und wären vielleicht nicht auf der Warteliste gestorben, ihre Telefone hätten in dieser Nacht geklingelt und eine Stimme hätte gesagt: Wir haben eine Lunge, eine Niere, ein Herz für sie. Nur meine Leber hätte niemandem geholfen.“[13]

Was es heißt, biologisch betrachtet, eine Chimäre zu sein – ein anders Organ im eigenen Leib zu tragen, andere Zellen, ein Stück eines anderen Selbst, das beschäftigt Wagner wie viele Organtransplantierte immer wieder. Er träumt den anderen Menschen, für ihn ist es eine Frau, sieht sie an einem Bett sitzen, spricht mit ihr, fühlt seine Hand von ihr geführt. Und dabei lässt ihn die Frage nicht los, ob er ihr dankbar ist, dankbar sein soll. Wie dieses andere Leben in ihm nun zum Ausdruck kommen kann. Wagner beschäftigt sich deshalb mit der Theorie des Geschenks und der Gabe, die Philosophen und Soziologen von Marcel Mauss und Jaques Derrida kennen – und mit der Frage, ob wir eine Gabe annehmen können ohne etwas zurück zu geben. „Ich müsste so dankbar sein, wie es dankbarer nicht geht. Das Problem mit der Dankbarkeit, die ich eigentlich empfinden müsste: Sie müsste viel, viel größer sein. Aber ist das nicht überhaupt das Problem mit den ganz großen Geschenken? Sie lassen sich nicht erwidern. Sie machen klein. Wie sollte ich mich für mein Dasein bedanken?… Wie war das noch mit der Tyrannei der Gabe, von der Marcel Mauss in seinem berühmten Buch spricht? Der Geber erlange durch seine Gabe eine magische, ja religiöse Macht über den Empfänger. Gehöre ich jetzt also Dir? Später hat Jaques Derrida die Gabe neu definiert. Eine wirkliche Gabe sei nur eine Gabe ohne Gegengabe. Demzufolge wäre eine Organspende die perfekte Gabe, denn eine Gegengabe ist nicht möglich.“[14] Die Anonymität des Spenders bei der Organspende macht die Sache noch schwieriger. Das Transplantationsnetzwerk versucht hier mit gutem Grund andere wie die Angehörigen, einzubeziehen – aber auch die bleiben unbekannte Fremde, vermittelt durch eine Verwaltungsstelle. Wie lebt man damit?

 

Dein Tod – mein Leben

„Dein Tod – mein Leben“ heißt ein nachdenkliches Buch von Vera Kalitzkus zum Thema Organspende. Im Zusammenhang mit diesem biblischen Impuls ist mir der Titel noch einmal neu ins Auge gesprungen, weil er an eine Vielzahl von Passions- und Auferstehungsliedern erinnert. Am schönsten vielleicht das von Christian Fürchtegott Gellert: „Dein Kreuz ist unser Sieg, Dein Tod ist unser Leben, in Deinen Wunden ist die Freiheit uns gegeben…“ „Unser keiner lebt sich für sich selber und keiner stirbt für sich selbst“, schreibt Paulus an die Gemeinde in Rom – „leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Denn, ob wir leben oder sterben, wir sind des Herrn.“[15] Die Vorstellung, dass ein anderer in mir lebt, meine DNA verändert, meinen Willen bestimmt, wurde im Neuen Testament schon einmal auf ganz andere Weise gedacht. Wenn Christus in mir lebt, bin ich ein neuer Mensch, denke andere Gedanken, gehe andere Wege. Wenn Christus in mir spürbar wird, bin ich zugleich mehr als ich selbst, bin Teil eins Größeren, des „Leibes Christi“. Denn der Leib Christi ist ja eben nicht nur – oder vielleicht sogar am wenigsten – diese kleine weiße Hostie, die wir körperlich fassbar, fühlbar und schmeckbar in die Hand und auf die Zunge nehmen, sondern eine über uns hinausgehende Wirklichkeit. In der Gemeinde[16], ja, im Kosmos[17]. Die Tausch- und Gabenbeziehungen in diesem Geflecht sind noch einmal andere als Eurotransplant sie vermittelt. Aber wie im Fall der Organübertragung verknüpft sie Schicksale von Menschen, die nun eine neue Art von Verwandtschaft bilden. Jesus selbst spricht von seinen Schwestern und Brüdern.[18]

Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben“, heißt es in der 1. Frage des Heidelberger Katechismus. Mit der Antwort buchstabiere ich mich sehr mühsam durch mein Leben: „Dass ich mit Leib und Seele im Leben wie im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.“ Mein Leib, mein Körper gehört mir nicht – das bleibt eine Irritation für meine Vorstellungen von Autonomie und Selbstbestimmung. Hier geht es um mich, ich werde gesehen – mit jedem Detail meines Lebens bis zu den Haaren auf meinem Kopf – zugleich aber geht es immer um mehr als um mich: Um das ganze Menschengeschlecht, um die Zukunft der Welt. Ich werde geliebt und ich werde gebraucht, damit auch andere leben. Die Gabe des Lebens zu empfangen, heißt darum immer auch, es zu teilen und weiter zugeben. Darauf zielt der Heidelberger Katechismus in seinem dritten Teil: „Von der Dankbarkeit“.[19] Weder Eitelkeit noch Schuld sollen das hindern, weder das schlechte Gewissen noch die Angst vor der Zukunft – denn das alles, meine Selbstbezogenheit und unsere Verstricktheit, gehört zum „alten Menschsein“, macht unfrei und kettet an das, was war.[20] Wenn Paulus ein solches Verhalten „fleischlich“ nennt[21], dann liegt ein anderes Verständnis des Leibes zu Grunde: dann geht es nicht um die Soma, die so eng mit der Psyche verbunden ist – dann ist die Sarx, das Gekettetsein ans Leben. Der Lebensentwurf des neuen Menschen ist bestimmt von einer befreienden Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens. Sie zeigt sich nicht nur und vielleicht nicht einmal besonders darin, dass ich vor Gott niederknie, sondern darin, dass ich mich zu denen nieder beuge, die meine Demut und Hingabe brauchen. Menschen wie ich, Menschen, die leiden und die Gott doch heilig sind – so heilig, dass er selbst in Jesus vor ihnen kniet. Die Fußwaschung Jesu[22] an seinen Jüngern ist ein sinnfälliges Beispiel für die Bewegung der Hingabe. „So sollt auch Ihr einander die Füße waschen“, sagt Jesus zum Schluss und setzt damit die Bewegung in Gang, mit der wir teilhaben können am Fluss der Liebe, an der Hin-Gabe Christi. Das Leben geben wir nicht zurück an die, von denen wir empfangen haben – wir geben es weiter.

 

Zwischen den Zeiten

Ist das nun das Ende der Macht und der Tyrannei, die oft genug mit der heiligen Gabe verbunden ist? Macht das nun endlich nicht mehr klein sondern groß? Ich denke an die Debatte um die Heiligsprechung von Mutter Theresa. Vor lauter Heiligkeit, hieß es, achte man in den Sterbehäusern nicht auf Sterilität. Und auch die innere Dunkelheit werde hier viel zu schnell übertüncht. Wir sind aber noch keine neuen Menschen – nur manchmal wird schon etwas davon spürbar. Paulus beschreibt diese Erfahrung als ein „Zwischen den Zeiten sein“ – wir sind schon Teil des Leibes Christi, gehören zu einer neuen Bewegung, aber wir leben noch in der alten Wirklichkeit. Wir sind noch in der Welt, aber nicht von der Welt – und darin Menschen, die auf den Herrn warten.

Wenn einer uns etwas sagen kann über dieses Warten – den Zwischenraum zwischen altem und neuem Leben, dann ist es noch einmal David Wagner. „Ich warte zu Hause, ich warte im Krankenhaus. Ich warte auf die Untersuchung, auf den Besuch, auf die Visite, ich warte auf das Essen und darauf, dass etwas passiert. Ich warte auf ein Leben, ich warte auf den Tod… Ich warte. Nein, stimmt nicht, von Warten kann überhaupt keine Rede sein. Ich denke fast nie an den Tag X, ich habe keine Lust an ihn zu denken…“. Genau so geht es uns allen. „Denn unser Bürgertum ist in den Himmeln, von woher wir auch den Herrn Jesus Christus als Heiland erwarten“, schreibt Paulus. „Er wird unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten zur Gleichförmigkeit mit seinem Leib der Herrlichkeit…“[23]. Darauf warten wir. Aber warten wir wirklich? Gelingt es uns denn, abschiedlich zu leben, wie die Hospizbewegung das nennt – und atmen wir auf, wenn ab und an ein Fensterflügel aufspringt und eine Ahnung hereinweht von einem ganz anderen Leben, in dem die Bruchstücke unserer Existenz zusammen gefügt werden zu neuer, vollkommener Schönheit? „Nein, ich warte nicht“, schreibt Wagner. „Soll nicht alles so und nicht anders sein? Könnte ich nicht, das gelingt mir doch schon lange, einfach so weiterleben?“[24]

Noch immer wissen wir nur bruchstückhaft Bescheid über die Kraft, die uns am Leben hält – wir verstehen wir nicht wirklich, wie der Prozess des Sterbens verläuft. Klar ist nur, dass all unsere Konstrukte immer wieder zerbrechen – auch die über den Todeszeitpunkt. Atemstillstand, Nierenversagen, Herztod, Hirntod – wann genau wird der Körper zum Leichnam? Die Fragen, die in der Ethik diskutiert werden, ähneln denen, die wir rund um den Anfang des Lebens debattieren – wir suchen nach Sicherheit für alle Beteiligten, für die Angehörigen, die Ärztinnen und Pflegenden, für die Verteilung der Organe, für Versicherungen und Gerichte. Alles hängt am Status des Organspenders. Denn nur über einen Toten lässt sich verfügen – aber lässt sich über einen Toten verfügen? Noch einmal die Machtfrage – diesmal geht es um die Macht politischer Entscheidungen, die allen Beteiligten Sicherheit geben. Was aber wenn wir es auch hier mit einem „Dazwischen“ zu tun haben? Zwischen Hirntod und irreversiblem Koma, in dem der Organismus sein Gleichgewicht noch aufrecht hält? Wenn denn der „Hirntod“ eine Erfindung der Transplantationsmedizin ist?[25] Dann müssten wir umso umsichtiger handeln, umso mehr Handelnde einbeziehen, umso peinlicher darauf achten, dass eine freie Entscheidung, eine bewusste Gabe am Anfang steht. Ohne jeden Zwang und ohne Geschäftsinteressen, wie es Luther schon für Liebe und Ehe forderte. Weil die Liebe und der Tod beides nicht verträgt.

 

Die neue Schöpfung

Am Anfang meines Nachdenkens stand der Leib Christi – und er soll am Ende stehen in dreifacher, ja, vierfacher Gestalt. Ich sehe das Tabernakel mit den Hostien, die die Kirche aufbewahrt wie einen Schatz, sehe den geschundenen Körper des Gekreuzigten über dem Altar, und auch das Beziehungsgeflecht der Kirche, in dem die Gaben geteilt werden – nicht nur im heiligen Raum, sondern mitten in der Welt. Da sehe ich die geschundenen Körper, krank, sterbend, frisch operiert, angeschlossen an Apparate, im hellen Licht der Intensivstation – gehütet und zitternd zwischen Angst und Hoffnung. Was wird aus unseren geschundenen Leibern in einem neuen Leben? Wie sieht sie aus, die Auferstehung des Fleisches, auf die wir hoffen – über alle Lebensverlängerung hinaus? Die überraschende Lebendigkeit des Lazarus bleibt ein Zwischenschritt. „Ich bilde mir ja nicht ein, nach einer Transplantation immer alles großartig, wunderbar und sonnig ist“, schreibt Wagner über den Beginn des neuen Lebens, das ihm versprochen ist. Er weiß, „die schrecklichen, endlosen, leeren, verzweifelten Tage, sie kommen wieder.“

Die schönsten Bilder des Neuen Testaments sind österlich; sie erzählten von der neuen Schöpfung. Aber sie zeigen sie so, wie wir sie mitten in der alten verstehen können: Jesus mit seinen Jüngerinnen und Jüngern. Da wird gelebt, gegessen und getrunken – der Meister lässt sich berühren. Alles ganz leiblich – als reichte die neue Welt der alten die Hand. Sie erkennen ihn an seinen Gesten, an seiner Stimme, ja – sogar an seinen Wunden. Und trotzdem steht alles das in einem neuen Licht. In seinem großen Bekenntnis zur Liebe beschreibt Paulus das so: Wenn das Vollkommene kommt, sind die Bruchstücke unseres Lebens aufgehoben[26]. Jenseits dessen, was wir wissen oder glauben können, macht sich die Liebe an dieser Hoffnung fest. Und erträgt das Nichtwissen, das Unvollkommene, das Dazwischen. Sie bleibt die größere, ja, die einzige Wirklichkeit, die uns mit den ungelösten, den offenen Fragen leben lässt.

 

Cornelia Coenen-Marx, OKR a.D., Seele und Sorge

 

[1] David Wagner, Leben, Reinbek 2013, S. 49
[2] Vgl. Vera Kalitzkus, Dein Tod, mein Leben – Warum wir Organspenden richtig finden und trotzdem davor zurückschrecken, Frankfurt 2009 S. 23
[3] David Wagner, a.a.O, S. 164
[4] Udo Lindenberg, Stärker als die Zeit, 2016
[5] Vgl. z.B. Volker Fintelmann, Marcela Ullmann, Warnsignale des Körpers, Beschwerden von Körper und Seele ganzheitlich verstehen, München 2004
[6] Psalm 139,13
[7] Peter Dabrock, Bioethik des Menschen, in Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015,S. 532
[8] 1. Mose 2, 2
[9] Joh.1, 14 – Joh. 3, 6- Röm. 1,3
[10] 1. Kor. 6, 19
[11] 1. Kor. 15
[12] Markus 14
[13] A.a.O. S. 130
[14] A.a.O S. 209
[15] Röm.14, 7f
[16] 1. Kor 12, 27
[17] Kol. 1,18
[18] In Matth 12 sogar in Abgrenzung von seinen „biologischen“ Verwandten
[19] Alle Glaubenden haben gemeinsam und jeder für sich Anteil an dem Herrn Christus und an allen seinen Schätzen und Gaben. Darum soll auch jeder seine Gaben willig und mit Freuden in den Dienst der anderen Glieder stellen.“ (HK Frage 55 zur Gemeinschaft der Heiligen)
[20] Das Neue Testament unterscheidet zwischen Sarx und Soma – Fleischlichkeit als Selbstbezogensein und Leiblichkeit als kommunikatives in der Welt sein – wobei die Perspektive der Sarx immer die der Sünde ist.
[21] Röm. 6, 19
[22] Joh. 13, 5ff
[23] Phil. 3, 2of
[24]A.a.O. S. 108/109
[25] Thomas Brust zitiert so Franco Rest nach „Die Wurzel“, Nr. 3, 2012 – in „Organspende und –transplantation, eine Analyse ethischer und christlicher Aspekte, Wetzlar-Dillenburg, 2013
[26] 1. Kor. 13