1. Gemeinschaft in der Singlegesellschaft
Was wärst Du lieber: arm mit vielen Freunden oder reich und allein? Das hat kürzlich ein Elfjähriger seinen Stiefvater gefragt. „Keine Frage“, sagte der – Freunde sind das Wichtigste; denn Einsamkeit ist schlimmer als Armut. Aber für den Elfjährigen war das durchaus eine Frage. Der Journalist, der die Geschichte mit seinem Stiefsohn im britischen „Observer“ erzählt hat, war merklich irritiert. Sein Stiefsohn wollte nämlich lieber reich sein. Freunde, meinte der, wären doch leicht zu finden: Auf youtube, Facebook und Co. Der Artikel ging der Frage nach, wie die Mediengesellschaft unsere Beziehungen verändert. Einerseits ist es jederzeit möglich, sich mit anderen auszutauschen. Zugleich aber nimmt die Einsamkeit zu. Jeder zehnte Deutsche gibt an, dass er sich einsam fühlt. Das trifft die über 60-jährigen, aber auch junge Leute zwischen 20 und 30. Einsamkeit wird zur neuen Volkskrankheit.
In Großbritannien wurde Anfang letzten Jahres ein Ministerium gegen Einsamkeit geschaffen. 75 Prozent der Landbevölkerung sind dort älter als 65 – sie leben in Gegenden, wo Post und Pub geschlossen sind und immer weniger Busse fahren. Herz-Kreislauf-Probleme oder Depressionen verschlechtern sich, wenn Menschen ihre Wohnung kaum noch verlassen. Deshalb gibt es dort inzwischen die Möglichkeit, soziale Angebote auf Rezept zu verschreiben. Ein Konzert, eine Wanderung mit anderen und natürlich auch eine Selbsthilfegruppe. Wissenschaftler haben berechnet, dass auf diese Weise 20 Prozent Gesundheitskosten eingespart werden können. Menschen brauchen Menschen, um zu gesunden.
Heute sind 28% aller US-Haushalte Single-Haushalte, verglichen mit 9% in den 50er Jahren. In Schweden sind es sogar 47 Prozent, in Großbritannien 34 – aber in Kenia nach wie vor nur 15, in Indien sogar nur 3 Prozent. Eine boomende Wirtschaft mit hohen Mobilitätsanforderungen und ein ausgebauter Wohlfahrtsstaat fördern jeweils auf ihre Weise die Unabhängigkeit der Einzelnen. Wir leben in einer Singlegesellschaft. Single zu sein ist längst kein Durchgangsstadium mehr, sondern eine Lebensform genauso wie alleinerziehend zu sein. Alleinleben scheint der beste Weg, die Werte einer individualistischen Gesellschaft zu leben: Freiheit, Selbstverwirklichung und Selbstkontrolle. Auch viele Paare kennen Lebensphasen, in denen sie aus beruflichen Gründen über lange Zeit getrennt leben. Immerhin jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren ist betroffen und für viele ist das der selbstverständliche Preis für berufliche Mobilität und Karriere.
Menschen, die häufig umziehen oder auch pendeln, verlieren die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft. Alleinsein, Einsamkeit, das Zerbrechen der hergebrachten sozialen Bezüge – das sind nicht nur emotionale Herausforderungen. Familien mit kleinen Kindern, auch alte oder kranke Menschen – deren Anteil an der Gesamtbevölkerung mit dem demografischen Wandel wächst – geraten bei der Bewältigung des Alltags besonders unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen zurückgreifen können. Und das ist eben immer weniger der Fall. Nur noch ein Viertel der erwachsenen Kinder lebt am Wohnort der Eltern. Und in der Generation „Babyboomer“ hat ein Drittel keine Kinder mehr. Zum ersten Mal in der Geschichte lebt die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr in Familien.
2. Zu Hause im Quartier: Heimat
Die Nachbarschaften verändern sich aber auch, weil Menschen von anderswoher zuziehen – vom Land in die Städte, aus den Städten in den Speckgürtel, als Arbeitssuchende, Migranten oder Flüchtlinge. Manche, wie die Einwanderer der 60er Jahre aus Südeuropa oder aus der Türkei, gehören mit ihren Familien seit Generationen dazu; und dennoch hat sich noch nicht überall ein echtes Miteinander entwickelt. Wo die Arbeitslosigkeit hoch ist, wo viele leben, die von Transfereinkommen abhängen, wächst die Angst vor dem Verlust des „Eigenen“ – des eigenen Arbeitsplatzes, der eigenen Kultur, der gewohnten Nachbarschaft. Heimat eben. Es gäbe inzwischen eine Art „heimatlosen Antikapitalismus“ der der Treiber der rechtspopulistischen Bewegungen sei, sagt Heinz Bude. Wie das aussehen kann, wenn Menschen das Gefühl haben, nicht mehr gefragt zu sein, das haben wir an der Gelbwestenbewegung in Frankreich gesehen.
Vor einiger Zeit hat Bertelsmann eine Karte der boomenden und schrumpfenden Regionen heraus gegeben – sie zeigt das wachsende Gefälle, das inzwischen nicht nur zwischen gesellschaftlichen Gruppen, sondern auch zwischen Regionen, Städten und Stadtteilen zu erkennen ist. Die Städte stehen im Wettbewerb um Wirtschaftskraft und Steuereinnahmen und werden entsprechend unternehmerisch geführt. Wo die Wirtschaftskraft gering ist und viele Bürgerinnen und Bürger auf Transfereinkommen angewiesen sind, da bleibt kein Spielraum. Und tatsächlich verschiebt sich die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland hin zu einer wachsenden Anzahl älterer sowie assistenz- bzw. pflegebedürftiger Menschen. Aktuell sind zum Beispiel 7,6 Millionen Menschen mit einer Behinderung registriert.
Die Orientierung an den wettbewerblichen Strukturen der Wirtschaft verändert aber auch das Verhältnis zwischen Bürgern und Kommunen. In der Dienstleistungsgesellschaft werden alle zu Kunden. Und das gilt nicht nur für die Klienten der sozialen Dienste. Auch wer einen neuen Personalausweis beantragt, ist jetzt Kunde. Das klingt nach Service und Zuvorkommenheit. Aber vielleicht zeigt sich da auch, dass die Angesprochenen nicht mehr als politische Subjekte wahrgenommen werden.
Auf diesem Hintergrund wurde in den letzten Jahren das Quartier wiederentdeckt. Wo Menschen einkaufen, ihre Kinder zur Tageseinrichtung bringen, wo Schulen und Sportvereine ganz unterschiedliche Gruppen zusammenführen- im Wartezimmer des Arztes oder im Einkaufszentrum. begegnen sich Bürgerinnen und Bürger noch immer ganz selbstverständlich. Der Stadtteil, die Gemeinde ist in all ihrer Vielfalt überschaubar. Und wo die Netzwerke funktionieren, da kann Neues entstehen: Da gibt es Kooperationen zwischen Wirtschaft, Schulen und Vereinen, zwischen zivilgesellschaftlichen Initiativen, Kommune und Trägern sozialer Dienste. Da organisiert die Handwerkskammer Unterstützungsnetzwerke für Menschen mit Behinderung, demenzfreundliche Kommunen und Frühfördernetze für Familien entstehen. Im unmittelbaren Lebensraum finden sich immer wieder neue Chancen der Begegnung, findet man Antworten auf die drängenden Bedürfnisse der Zeit. Das gelingt aber nur, wenn Städte und soziale Träger nicht nur auf den Einzelfall schauen, sondern auf das ganze Arbeitsfeld, auf den Lebensraum. Und wer bestimmte Zielgruppen unterstützen will – Demenzkranke, Menschen mit Behinderung, Pflegebedürftige oder Familien in Armut – der muss alle Akteure an Bord holen und die Angebote verknüpfen. Kommunen, soziale Dienste und die Wohnungswirtschaft, aber auch Verkehrsbetriebe und Einkaufszentren, Ärzte oder Nachbarschaftscafés müssen zusammenarbeiten und sich auch mit ehrenamtlich Engagierten vernetzen.
3. Offene Augen und Sorgende Gemeinschaften
„Kleine Leute in der großen Stadt“ heißen die Skulpturen des Londoner Künstlers Slimcachu. Er hatte überall in der City kleine Figuren platziert – nicht größer als Playmobil-Figuren. Da rudert einer in einer Pfütze, als müsse er einer Überschwemmung entkommen. Und ein anderer wird gerade mit einer Sicherheitsnadel bedroht. Die meisten übersehen diese Alltagsdramen zu ihren Füßen – und genau das ist ja das Problem. Hinsehen ist also der erste Schritt zur Veränderung – und das geht am besten, wenn wir die Nachbarschaft einmal aus der Perspektive der anderen sehen. Eine New Yorker Journalistin hat das getan. Ein ganzes Jahr lang hat sie jede Woche einen Stadtspaziergang mit einer fremden Person gemacht. Sie war unterwegs mit einer älteren Dame mit Rollator, mit einem Architekten und mit einem zweijährigen Kind. Sie hat einen Blinden begleitet und einen Arzt, der ihren Blick für die Entgegenkommenden schärfte. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie sie ihre Stadt neu entdeckt.
Ob Armut, Familie, Pflege, Alter oder Inklusion – es geht immer wieder um die Frage, wie es gelingen kann, den Blick zu öffnen und ganz bewusst auf die Nachbarschaften zuzugehen. In Nürnberg hat eine Kirchengemeinde sich auf den Weg gemacht und einen Stadtplan für Familien herausgegeben – da findet man die Tageseinrichtungen und Spielplätze, die Kinderärzte und die kinderfreundlichen Restaurants und auch die Gemeinden mit ihren Familiengottesdiensten und Winterspielplätzen. Und in Mönchengladbach haben Ehrenamtliche an einem Stadtplan für Ältere erarbeitet – mit barrierefreien Zugängen, Bänken, öffentlichen Toiletten, immer auch Rollatoren und Rollstühle im Blick.
Für Familien mit kleinen Kindern und für Ältere ist der Nahbereich von besonderer Bedeutung. Heute leben mehr als 40 Prozent der 70- bis 85-jährigen allein – meist können sie in Alltagsproblemen nicht auf Familie und Freunde zurückgreifen. .Die Hochbetagten, Dementen und Pflegebedürftigen sind von zunehmender Exklusion betroffen und brauchen Unterstützung, um auch weiterhin Teil der Gemeinde zu bleiben“, sagt Prof. Eckart Hammer aus dem Beirat des Projekts „Alter neu gestalten.“ Am anderen Ende der Generationenkette geht es den Eltern kleiner Kinder ganz ähnlich. Auch deshalb brauchen wir „Dritte Orte“, Räume, wo unterschiedliche Generationen einander begegnen- Nachbarschaftscafes zum Beispiel, vielleicht gemeinnützig betrieben.
Hier engagiert sich die Generation der 55- bis 69-Jährigen besonders stark. Sie sind häufig lange am Ort, sozial und oft auch politisch engagiert, bringen breite Lebenserfahrungen und soziale Netze ein und sie stärken die Eckpfeiler des nachbarschaftlichen Lebens – mit Dorfläden oder auch mit Bürgerbussen und Patenschaftsprojekten. Sie tragen Vereine und Parteien und auch die Kirche entscheidend mit. Die jungen Alten sind Zukunftsgestalter! Seit einigen Jahren gibt es vielerorts wöchentliche Mittagstische, wo oft abwechselnd gekocht wird: „Beim Essen spricht sich’s leichter“, daneben Stadtspaziergänge mit Rollstuhl und Rollator oder Erzählcafés und Biografiewerkstätten.
„Ich will alt werden und sterben, wo ich gelebt habe“ -Klaus Dörners eingängiger Satz hat viel angestoßen. Er steht paradigmatisch für einen neuen Umgang mit Alter, Pflegebedürftigkeit und Sterben. Seitdem haben sich die Einrichtungen der Altenhilfe differenziert; mit betreutem Wohnen und Kurzzeitpflege, ambulanter Pflege und hauswirtschaftlichen Hilfen. Auch Stadtplanung, Architekturbüros und Wohnungsbaugesellschaften machen öfter ernst damit, dass Rollatoren wie Kinderwagen über die Schwelle kommen müssen. Dennoch: Seit Einführung der Pflegeversicherung ist der Trend zur stationären Pflege kaum abgemildert. Der prozentuale Anteil der Pflegebedürftigen in Heimen ist nur geringfügig gesunken; die absoluten Zahlen steigen angesichts des demographischen Wandels ohnehin.
Es kann nicht sein, dass Menschen nur deswegen in stationäre Einrichtungen ziehen, weil die Wohnung nicht barrierearm ist oder die Versorgung zu Hause nicht gewährleistet. Weil sie mit einer chronischen Erkrankung oder ihren Finanzen nicht mehr zurechtkommen oder weil die Wege zum Einkaufen nicht mehr zu bewältigen sind. Stationäre Einrichtungen sind die teuerste Lösung. “Ein Zuhause ist der einzige Ort, wo die eigenen Prioritäten unbeschränkte Geltung haben“, schreibt Atul Gawande in seinem Buch „Sterblich sein“. „Zu Hause entscheidet man selbst, wie man seine Zeit verbringen will, wie man den zur Verfügung stehenden Platz aufteilt und wie man den eigenen Besitz verwaltet.“
Wenn wir wollen, dass wir auch im Alter möglichst lange in unserem Umfeld bleiben können, dann brauchen wir eine qualitativ gute und auch gut bezahlte ambulante Pflege, die Betroffene und Angehörige unterstützt – auch mit Pools von Haushaltshilfen und anderen Dienstleistern vom Einkauf bis zur Gartenarbeit. Präventive Hausbesuche gehören ebenfalls dazu. Gute Pflegeberatungsangebote sind nötig. Nach wie vor werden zwei Drittel der Pflegebedürftigen oder 1.5 Mio. Menschen in Deutschland von Angehörigen gepflegt. Die Schwiegertöchter, die die kranke Mutter über Jahre pflegen, die Männer, die ihre Frauen pflegen – sie verzichten auf eigenes Einkommen und Karriere und werden oft nicht einmal gesehen. Abgehängt auch sie. Sie verschwinden einfach aus dem Kollegen- und Freundeskreis, haben keine Zeit und kein Geld mehr für Einkaufsbummel und Geburtstagsbesuche. Neun Jahre dauert die häusliche Pflege im Durchschnitt. Und dabei steigt das Armutsrisiko erheblich. Es ist Zeit, hinzusehen.
Der 8. Familienbericht der Bundesregierung warnt vor einem „Care-Defizit“. „Caring Communitys“ / Sorgende Gemeinschaften sind zu internationalen Leitbegriff geworden. In unserer individualistischen Gesellschaft, die stark geprägt ist vom Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstoptierung, geht es um ein Gegengewicht. Angesichts des marktlich ausgerichteten Gesundheits- und Sozialsystems geht es um wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung. Sorgende Gemeinschaften: ein Miteinander, wie wir es aus Familien und Nachbarschaften, aus Freundeskreisen und Gemeinden kennen – gemeinsame Werte, gemeinsamer Spirit.
Im letzten FWS wurde deshalb zum ersten Mal die informelle, außerfamiliale Unterstützung in Freundschaft und Nachbarschaft abgefragt, soweit sie eben unentgeltlich und außerhalb beruflicher Tätigkeiten erfolgt. Dabei zeigte sich: immerhin 25 Prozent engagieren sich in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten bis Kinderbetreuung – und es sind, bis auf die Unterstützung Pflegebedürftiger, mehr Männer als Frauen und eher Jüngere als Ältere. In der Befragung wird deutlich: die wechselseitigen Unterstützungsleistungen verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten.
Es ist deshalb kein Zufall, dass das Thema „Wohnen“ so viel Gewicht bekommen hat – das gilt ja gesamtgesellschaftlich im Blick auf verfügbaren Wohnraum und Mietpreisspiegel. Es gilt aber eben auch für die Wohnsituation von Älteren. Mehr noch als andere Gruppen sind Ältere Menschen, Familien und Menschen mit Behinderung auf gute Nachbarschaft angewiesen, auf gemischte Wohnquartiere und barrierearme Wohnungen. Daneben werden ganz neue Wohnmodelle werden hier erprobt, Seniorenwohngemeinschaften, die vielleicht an studentische Erfahrungen erinnern, aber auch Mehrgenerationenhäuser, Genossenschaften und Demenz-WGs. Entscheidend ist, dass wir das hohe Alter nicht automatisch mit Hilfebedürftigkeit und Betreuung verknüpfen, sondern wechselseitige Hilfeleistungen und die Chancen des Zusammenlebens in den Mittelpunkt rücken. Die Hochaltrigenstudie der Universität Heidelberg von 2013 zeigt: 80 Prozent interessieren und engagieren sich gern für die nächste und übernächste Generation, sie hüten Kinder, sind gern Leihoma, helfen bei Hausaufgaben oder stehen jungen Leuten mit Rat und Tat zu Seite.
4. Blick zurück nach vorn
Wer über ein gut geknüpftes soziales Netz verfügt, wer eine stabile Familie, ehemalige Kolleginnen, Vereinskameraden und Freunde am Ort hat, der wird neuen Herausforderungen mit Gelassenheit begegnen. Viele allerdings fühlen sich allein gelassen und überfordert. Es genügt nämlich nicht, Rechte zu haben- wir müssen unsere Rechte auch kennen. Wir brauchen Informationen, aber auch die Kraft, Forderungen zu stellen und Menschen, die uns zuhören und uns unterstützen.
Die Aufbrüche der Diakonie im 19. Jahrhundert gingen vom Quartier aus und führten ins Quartier zurück- von Johann Hinrich Wicherns Entwicklung eines neuen Wohnquartiers in Hamburg- St. Georg bis zu Theodor Fliedners Gemeindeschwestern. Dann aber führt die Entwicklung des Sozialstaats über die Anstaltsdiakonie zur fallbezogenen Dienstleistung. Damit verbunden war ein Blick auf die Defizite, der zwischen Hilfebedürftigen und Helfern unterschied und zur Exklusion führte. Zum Gefühl, ausgeschlossen zu sein.
Heute bringen Angehörige, Nachbarn, Ehrenamtliche und auch die jungen Alten selbst ihre Perspektiven auf gelingendes und selbstbestimmtes Altern ein und verändern die Hilfesysteme. So entstanden die Mehrgenerationenhäuser und die Sorgenden Gemeinschaften im Quartier. Zwischen Quartierscafés, Pflegestationen und Kirchengemeinden entwickelt sich der Dritte Sozialraum- nicht an Defiziten orientiert, sondern an Lebensbereichen wie Wohnen, Gesundheit, Bildung und Freizeit.
Damit es gelingt, neue Netzwerke zu knüpfen, brauchen wir Runde Tische im Stadtteil, wir brauchen Begegnungsorte. Am besten solche, die keiner Gruppe eindeutig zuzuschreiben sind, wo sich die Verschiedenen ohne Hierarchisierung begegnen und ihre Anliegen aushandeln können. Gemeinschaftshäuser, Quartierscafes in der Stadt; auch Stadtteilbüchereien oder Gemeindehäuser können diese Funktion erfüllen. Die Sozialwissenschaft reden von „Dritten Orten“ – sie sind leicht zugänglich und offen; die Teilnahme kostet nichts. Gemeinden können solche Orte bieten– sie verfügen über Räume, sie arbeiten traditionell mit Haupt- und Ehrenamtlichen und sie sind über viele Generationen verwurzelt am Ort. Es kommt nur darauf an, dass sie ihre Räume öffnen- auch für Menschen, denen die Kirche eher fremd ist – es kommt darauf an, dass sie sich öffnen für den Stadtteil.
Dabei lässt sich aus den Aufbrüchen und Umbrüchen des 19. Jahrhunderts und auch der Nachkriegszeiten lernen. Weit über hundert Jahre lang sorgten Diakonissen für Pflege, Kindergärten, Nähkurse. Sie halfen benachteiligten Familien auf die Beine und sorgten für die Integration von Flüchtlingen. Sie waren Quartiermanagerinnen, lange bevor der Name erfunden wurde. Gemeindeschwestern hatten zudem ein ausgeklügeltes System ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen. Die „Bezirksfrauen“ waren immer zur Stelle, wenn Hilfe gebraucht wurde. Als Ehrenamtliche waren sie oft selbst aus der Arbeit hervorgegangen, hatten Hilfe erfahren und gaben diese Erfahrung weiter. Die Ehrenamtlichen machten regelmäßig Besuche und meldeten zurück, wo professionelle Hilfe notwendig war.
Mit dem Professionalisierungsschub, der die alte Rolle der generalistischen Gemeindeschwester zur Pflegekraft vorantrieb, wurde Pflege Teil des Gesundheitssystems. Heute braucht es Quartierspflege und interprofessionelle Teams in guter Zusammenarbeit mit Engagierten. Sorgende Gemeinschaften brauchen Sorgestrukturen. Es braucht Netzwerke von Pflege, Sozialarbeit und Jugendarbeit, die den Engagierten ein Rückgrat bieten.
Aber auch Einzelne können viel bewegen. Niemand muss mehr warten, bis Organisationen und Gremien neue Projekte ausrufen. Stephanie Quitterer nutzte ihre Elternzeit am Theater für ein ganz persönliches Projekt. Sie wettete gegen sich selbst: „200 Hausbesuche mit 200 selbstgebackenen Kuchen in 200 Tagen“. Und es gelang: sie gewann die Wette und ein großes Netzwerk in der Nachbarschaft. Die Künstlerin Janni Feuser schickte 2016 eine blumenverzierte Sitzgelegenheit auf Reisen, die jetzt so etwas wie der neue Dorfmittelpunkt ist: die „Bänk for better anderständing“. Jede Woche wird die Bank von einem Haushalt zum nächsten weitergegeben – als Einladung an alle, sich dort zu treffen und die Nachbarn besser kennenzulernen. Andere beginnen mit Urban Gardening oder mit einer Büchertauschbörse in der Nachbarschaft- lauter kleine Aktionen, die andere zum Mitmachen einladen.
Denn eigentlich fängt alles ganz klein an, schreiben die Kolleginnen aus der Badischen Landeskirche in ihrem Werbeflyer für Sorgende Gemeinden: mit Grüßen auf der Straße, mit Blickkontakt zu anderen Menschen, Tür aufhalten und Vortritt lassen, mit Danke und Bitte und Lob und Anerkennung. Damit, dass wir unser Gegenüber wahrnehmen, entsteht eine Sorgende Gemeinschaft. Jeden Tag neu.
Cornelia Coenen-Marx, Schöneck Februar 2020