Predigt zu Römer 8, 26- 31, Osterwald 29.5.22

Es ist gar nicht so einfach mit dem Beten. Davon war in den Geschichten die Rede, die in meiner Familie über meine Großmutter erzählt wurden. Sie war Pfarrfrau und hatte eine große Familie – eigene Kinder, aber auch Geschwister mit Kindern – da gab es immer viele zu bedenken. Und es gab auch viel zu tun in dem großen Haushalt. Wenn sie abends erschöpft in die Federn fiel, war sie manchmal schon zu müde für ihr Abendgebet- das eigentlich ganz fest zu ihren Ritualen gehörte. „ Lieber Gott“, sagte sie dann, „ es bleibt alles beim Alten“.

Beten ist nicht wie Hausaufgaben machen. Es kommt nicht darauf an, dass wir dem lieben Gott unsere Fürbitten möglichst vollständig aufzählen- die guten Wünsche für jedes Kind, für alle Verwandten und Freunde, für den Frieden in der Welt. Gott weiß, was wir beten wollen und manchmal genügt es eben auch zu sagen: „ Lieber Gott, es bleibt alles beim Alten“. Das meint Paulus, wenn er sagt: „ Der Geist vertritt uns..“

Beten ist allerdings auch kein Ersatz für Handeln. Gott will nicht alles für uns erledigen – wir sollen unsere Aufgaben sehr wohl wahrnehmen. Davon erzählte eine andere Geschichte aus meiner Familie – die berühmte Geschichte vom brennenden  Weihnachtsbaum. Im Pfarrhaus meiner Großeltern gab echten Kerzen. Daneben lag ein Pusterohr, das man ausziehen und lang machen konnte – damit konnte man die Kerzen bis ganz in die Spitze ausblasen. Wir Kinder liebten das. Und trotzdem brannte einmal der Weihnachtsbaum – irgendjemand hatte nicht rechtzeitig gesehen, dass die Flammen übersprangen. Und meine Großmutter stand davor und schrie: „ Hilf, Herr Jesus“, während das Feuer sich ausbreitete. Gerade noch rechtzeitig riss der Großvater das Fenster auf- griff nach dem Baum und warf ihn in den Vorgarten. „Nein, nicht hilf Herr Jesus“, sagte er – das müssen wir schon selbst machen.

So ist das mit dem Beten: Gott weiß, was wir nötig haben – aber er nimmt uns die Arbeit nicht ab. Wir sind keine hilflosen Geschöpfe – und auch keine Kinder, die vor ihm bestehen müssen. Nein, beim Beten geht es um etwas anderes: Es geht darum, dass wir uns immer mehr verankern in unserer Gottesbeziehung, dass wir immer besser verstehen, worum es wirklich geht im Leben. Wozu wir berufen sind und was unsere Aufgabe ist. Es geht darum, dass wir Gott vertrauen. Und das Gebet kann uns dabei helfen.

Für meine Großmutter Hermine war das ganz sicher nicht leicht. Seit dem 24. Februar, als Russland die Ukraine überfallen hat, muss ich öfter an sie denken.  Hermann, ihr ältester Sohn, war knapp 18, als er Soldat wurde – er ist wahrscheinlich in der Ukraine gefallen. Sein Grab wurde bis heute nicht gefunden ; aber einer seiner Kameraden brachte ihr die Konfirmationsbibel zurück, in der vorne sein Konfirmationsspruch stand. „Habe ich dir nicht gesagt, wenn Du glaubst, wirst Du Gottes Herrlichkeit sehen?“ Sie wusste nicht, was er zuletzt gesehen hatte, wusste nicht, was mit ihm geschehen war – und sie brachte es bis zu ihrem Tod nicht fertig, ihn für tot erklären zu lassen. Und Hermann war nicht er erste Sohn, den sie verloren hatte. Wenige Jahre vorher mussten sie Wilhelm begraben, der an Keuchhusten gestorben war. DA war er noch keine acht. An dem Foto von dem blonden, lockigen Jungen hing das gelbe Myrtenkränzchen, das meine Großmutter geflochten hatte. Ein Bild voller Leben – auch daran musste ich diese Tage wieder denken, als eine Freundin aus Facebook Kinderfotos aus der Ukraine postete. Die lachenden Bilder ermordeter Kinder.

Worum kann man beten in diesen Zeiten? Was kann die Angehörigen trösten? Und was muss man tun, was wird jetzt gebraucht? Beim Katholikentag in Stuttgart wurde eine Frau mit ihrem Enkel interviewt. Er spielte mit einem Hund und dabei konnte er für einen Augenblick vergessen, dass er beide Eltern verloren hatte. Jetzt hatte die Großmutter ihn nach Stuttgart geholt – in Sicherheit. IN der Art, wie sie ihn an der Hand hielt, war diese Sicherheit zu spüren. Ein Rest Vertrauen in das Leben- trotz allem. Du bist nicht ganz allein in der Welt – hier ist eine, die dich versteht. Ich glaube, dieses Vertrauen ist die Kraft, mit der der Heilige Geist unserer Schwachheit aufhilft, wie Paulus sagt. Dass wir uns nicht fallen lassen in Resignation und Verzweiflung.

In einer Ecke im Flur des großelterlichen Pfarrhauses stand ein Kinderstuhl aus Korb. Mit einer Lehne aus dunklem Holz. Das war mein Lieblingsplatz – ich fühlte mich herrlich geborgen dort. Wahrscheinlich war der Stuhl schon über die Generationen vererbt worden und auch meine Mutter und ihre Brüder hatten darin gesessen.  Über dem kleinen Stuhl hing an der Wand eine Holztafel, in die ein Bibelspruch gebrannt war. Das war nicht die einzige im Haus. Oben im Flur stand auf einer großen Tafel: Die rechte Hand des Höchsten kann alles ändern. Ich fand das erschreckend- es erinnert mich an die Schicksalsschläge. Aber hier stand etwas Tröstliches: „ Römer 8, 28: Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.“  Was für ein Bekenntnis. Aufgeschrieben von Menschen, die schwere Dinge erfahren hatten. Wenn das wahr ist, habe ich damals schon gedacht, dann wird mein Leben am Ende Sinn haben.

Und ich denke das immer noch. Der Spruch erinnert so einen anderen, der seit vielen Jahren zu unserem Alltag gehört: „Alles wird gut“. Aber er hat zugleich etwas Widerständiges, etwas Ehrliches. DA ist keine Naivität, keine Oberflächlichkeit – nichts ist selbstverständlich. Was heißt das eigentlich: „ Denen, die Gott lieben“? Die, die auf Gott setzen und sich auf ihn verlassen. Die glauben und auf Gott hoffen, die setzen darauf, dass alles gut wird. Was ist das eigentlich für eine Hoffnung? Die Publizistin Carolin Emcke hat vor Jahren von den Gefahren einer falschen Hoffnung gesprochen. Dazu hat sie die Geschichte von der Büchse der Pandora erzählt: Darin hatten die Götter alles eingeschlossen, was Unheil bringt. Krieg und Gewalt, Krankheit und Ungerechtigkeit. Und ganz unten in der Büchse unter all dem war auch die Hoffnung . Pandora überreichte diese Büchse an Prometheus, der den Göttern das Feuer geraubt hatte – ein bitterböses Geschenk. Denn als Prometheus die Büchse öffnete, entwichen alle diese Dinge – nur die Hoffnung blieb ganz unten in dieser Büchse. Wie kann man auf den Gedanken kommen, dass die Hoffnung etwas Schlechtes ist? Carolin Emcke erinnert daran, wie gern wir uns von einer falschen Hoffnung betrügen und in die Irre führen lassen. Es wird schon alles nicht so schlimm kommen, denken wir dann. Wir sind doch noch einmal davongekommen. Wir sehen lieber nicht genau hin und machen weiter wie bisher. Aber die Hoffnung, von der die Bibel spricht,  klammert das Unheil nicht aus. Sie sieht genau hin. Das ist die Hoffnung, mit der sich Jesus auf den Vater verlässt – noch als er gefoltert wird, noch am Kreuz. Das ist die Hoffnung angesichts der ganzen Wirklichkeit. Hoffnung mit offenen Augen.

Wir sind in Gott geborgen. Darauf hat auch meine Großmutter gehofft – mitten in ihren Ängsten und Traurigkeiten. Sie hat sich darauf verlassen, dass sie alles vor Gott zur Sprache bringen kann-  auch ihre Verzweiflung. Und dass sie auch schweigen darf , wenn sie nicht weiß, was sie beten soll. Denn Gottes Geist weiß,  was wir brauchen. Wir können ihm vertrauen–wie der Junge in Stuttgart an der Hand seiner Großmutter.

Amen.