Diakonische Energie zur Erneuerung unserer Sozialkultur
1. Welt im Wandel
„Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ heißt das Gutachten des‚ Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung zum Thema Globale Umweltveränderungen‘ (WBGU) von 2011. Es hat eine neue Leitbegrifflichkeit geprägt: die Große Transformation zu einer stark nachhaltigen Gesellschaft. „Die Transformation zur Klimaverträglichkeit ist moralisch ebenso geboten wie die Abschaffung der Sklaverei und die Ächtung der Kinderarbeit“, heißt es in dem Text. Es geht um einen neuen Gesellschaftsvertrag, um einen „nachhaltigen Ordnungsrahmens, der dafür sorgt, dass Wohlstand, Demokratie und Sicherheit mit Blick auf die natürlichen Grenzen des Erdsystems gestaltet werden.“ Wohlfahrt und Lebensqualität werden wir nur erhalten können, wenn wir eine neue Kultur der Achtsamkeit (aus ökologischer Verantwortung) mit einer Kultur der Teilhabe (als demokratische Verantwortung) sowie mit einer Kultur der Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen (Zukunftsverantwortung) kombinieren.
In welcher Gesellschaft wollen wir leben, fragt Aktion Mensch. Und viele geben ihre Antwort: in Mehrgenerationenhäusern und Behindertenhotels, in Arche-Gemeinschaften, Eine-Welt-Leben und Fahrradwerkstätten, in Hospiz- und Quartiersarbeit. Andere aber vertrauen den großen Gesellschaftsentwürfen nicht mehr. Gerade jetzt in den Krisenjahren geht es ihnen nur noch um eins: zu halten, was sie haben. Nicht abzusteigen. Nicht zu den Verlieren zu gehören. Stabilität und Sicherheit scheinen wichtiger geworden als neue Perspektiven für eine bedrohte Welt. Manche sprechen schon vom neuen Biedermeier, in dem nur noch das kleine Glück zählt.
Vor lauter Individualisierung und Ökonomisierung, vor lauter Effizienzdenken und Effizienzsteigerung habe man den roten Faden verloren, sowohl individuell als gesellschaftlich, sagt Stefan Grünewald vom Institut Rheingold. Bindungskräfte gingen verloren, es fehle die Resonanz, die erst Sinn gebe – der Zusammenklang der vielen in einem gemeinsamen Projekt – und das wirke beängstigend. Die Menschen blickten in ein schwarzes Loch und fragten sich, was als nächstes kommen werde. Es herrsche der Wunsch nach Beistand, nicht die Suche nach neuen Wegen. Nils Minkmar von der FAZ, der über Peer Steinbrücks Wahlkampf geschrieben hat, hatte ihn für dieses Buch gefragt, warum es so schwer ist, warum Politik so verzagt ist. Und dabei wird deutlich: in den Wüsten einer ökonomisierten Gesellschaft, angesichts der schmerzhaften Spaltungen in unserem Land, fehlt die Orientierung. Der Zusammenhalt ist bedroht.
Keine Frage: die soziale Struktur unserer Gesellschaft ist im Umbruch. Dabei geht es um mehr als um die fiskalische Krise der sozialen Sicherungssysteme angesichts einer globalisierten Wirtschaft. Zwar wirken sich prekäre Beschäftigungsverhältnisse, unterbrochene Erwerbsbiografien und Teilzeitbeschäftigungen auf die Stabilität der Sozialsysteme aus – aber der demographische Wandel und die Veränderung von Familien und Geschlechterrollen reichen tiefer: sie verändern das Design unseres Zusammenlebens grundlegend. Die alte Rollenaufteilung, nach der die erwerbstätigen Männer das Geld für diesen Sozialstaat erarbeiten, während ihre Frauen sich in Familie, Nachbarschaft und Gemeinde unentgeltlich fürs Soziale engagieren, trägt nicht mehr. Und die traditionelle Ordnung des Sozialstaats in Deutschland, nach der vor allem die Verbänden und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, auskömmlich finanziert, dafür zuständig waren, soziales Handeln professionell zu gestalten, ist auch längst Geschichte.
Junge Frauen haben genauso wie ihre Partner den Anspruch, eine eigene Karriere zu machen, junge Männer wollen Zeit für ihre Familie haben. Wo die Vereinbarkeit nicht gegeben ist, werden weniger Kinder geboren, während uns zugleich länger leben und gesünder alt werden. Angesichts des demographischen Wandels wächst der Bedarf an sozialen, pädagogischen, gesundheitlichen Dienstleistungen- von den Krippenplätzen bis zur Pflege, von den Ganztagsschulen bis zu den Hauswirtschaftsdiensten. Zugleich aber stoßen Professionalisierung und Ökonomisierung personell wie finanziell an ihre Grenzen. Die ehemaligen Frauenberufe in Erziehung und Pflege sind so schlecht bezahlt, dass der Fachkräftemangel längst spürbar ist. Und auch wenn der neu entstandene Sozial- und Gesundheitsmarkt die Chance bietet, den zahlungskräftigen Kunden passgenaue Angebote zu machen: diejenigen, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen sind, an der Armutsgrenze leben oder denen es einfach an Bildung und Netzwerken fehlt, fallen zunehmend durch die Netze. Und das gilt eben auch für diejenigen, die in Teilzeit in Hauswirtschafts- und Pflegeberufen arbeiten.
„Wir reden von Millionen von Ausgeschlossenen, die einen Keil durch unsere Gesellschaft treiben“, schreibt Heinz Bude. „Kinder, die in Verhältnissen aufwachsen, wo es für keinen Zoobesuch, Musikunterricht oder für Fußballschuhe reicht, junge Leute, die sich mit Gelegenheitsjobs zufrieden geben müssen, Männer und Frauen, die freigesetzt worden sind, Minijobber und Hartz-IV-Empfänger, denen es kaum zum Leben reicht. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Überzeugung gewonnen haben, dass es auf sie nicht mehr ankommt.“
Und wir wissen: hinter den wachsenden Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, die nicht nur in unserem Land zu beobachten sind, stehen Umbruchprozesse, von denen auch wir nur die großen Linien sehen: die Veränderungen auf den globalen Finanzmärkten wie auf den Arbeitsmärkten, die mit dem Wettbewerb um möglichst niedrige Produkt- und Arbeitskosten einhergehen und vor allem die ortsgebundenen Arbeitsplätze und die Dienstleistungen unter Druck setzen. Die Staatsschuldenkrise in vielen Ländern Europas wird die schleichende Sozialstaatskrise verschärfen und es schwer machen, wenigstens die drängendsten Fragen zu lösen, vor denen wir stehen: Mindestlohn und Mindestsicherung im Alter, Familienzentren, Ganztagsschulen und die Zukunft der Pflege. Die alten Rezepte, durch mehr Wirtschaftswachstum zu mehr Verteilung zu kommen, greifen kaum noch- auch wenn wir gerade einen neuen europäischen Wachstumspakt schließen im Blick auf die Arbeitslosigkeit und die Lage der jungen Generation im Süden. Nein, die eben erwähnte WBGU-Kommission hat Recht und wir wissen es: Wir stehen auf der Schwelle zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel der Wohlfahrtsgesellschaft in Richtung auf einen neuen Begriff von Generationengerechtigkeit, Beteiligungsgerechtigkeit und Nachhaltigkeit.
Denn die ökologische Krise, die sich in einem sich beschleunigenden Klimawandel und in wachsenden Konflikten um Rohstoffe zuspitzt, und die Ernährungskrise, die durch die weltweite Spekulation mit Land und Nahrung noch verstärkt wird, bedrohen unsere Lebensgrundlagen. Zur Zeit aber verschieben wir solche grundlegenden Fragen in die Zukunft und sourcen die Probleme aus – wer will schon wissen, dass der Smog der chinesischen Kohlekraftwerke unseren billigen Produkten dient, wer will darüber nachdenken, dass die niedrigen Arbeitsstandards in Indien mit unserem Konsumverhalten zu tun oder dass die Frauen aus Rumänien, die unsere Alten pflegen, ihre eigenen Kinder und Eltern zu Hause allein lassen?
2. Fähigkeiten stärken, Teilhabe ermöglichen
Vor nunmehr 16 Jahren erschien das ökumenische „ Wirtschafts- und Sozialwort“ der Kirchen. Darin heißt es: „In der vorrangigen Option für die Armen als Leitmotiv gesellschaftlichen Handelns konkretisiert sich die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe. In der Perspektive einer christlichen Ethik muss darum alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an der Frage gemessen werden, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nutzt und sie zum eigenverantwortlichen Handeln befähigt. Dabei zielt die biblische Option für die Armen darauf, Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesellschaftlichen Prozess zu beteiligten. (.) Sie verpflichtet die Wohlhabenden zum Teilen und zu wirkungsvollen Allianzen der Solidarität“. Im kommenden Januar sollen diese Gedanken mit einer ökumenischen Sozialinitiative wieder aufgenommen und weitergeführt werden.
Mit der Denkschrift „ Gerechte Teilhabe – Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität“ von 2006 hat die EKD ihr Gerechtigkeitsverständnis auf der Basis der Beteiligungsgerechtigkeit entfaltet. Beteiligungsgerechtigkeit bezieht aufeinander, was häufig gegeneinander ausgespielt wird– nämlich Verteilungsgerechtigkeit, hier mit dem Stichwort „Solidarität“ beschrieben, und Befähigungsgerechtigkeit. die die Eigenverantwortung stärken will. Teilhabegerechtigkeit zielt auf eine möglichst umfassende Inklusion aller Mitglieder der Gesellschaft und die Eröffnung von Zugängen zu Bildung, Gesundheit, Arbeitsmarkt.
Denn unser Selbstbewusstsein verbindet sich mit der Erfahrung, an gemeinschaftlichen Prozessen teilhaben zu können, etwas beitragen zu können zum Ganzen. Die Philosophin Martha Nussbaum rückt deshalb ihrem Konzept der Gerechtigkeit die Fähigkeiten jedes einzelnen in den Mittelpunkt. Dazu gehört die Fähigkeit, das eigene Denken, eine eigene Lebensperspektive zu entwickeln. Deshalb brauchen alle Menschen Angebote zur Bildung und Ausbildung. Genauso wichtig ist die Fähigkeit, sich selbst zu versorgen, auf die eigene Gesundheit zu achten, für die eigene Wohnung zu sorgen- auf der Straße, in einem Heim ist das schwer. Es gehört zum Menschsein, Bindungen aufzubauen, zu Menschen und zu Dingen- zu lieben, zu trauern, Dankbarkeit und Zorn zu empfinden, sich zugehörig zu fühlen. Das alles brauchen wir, um Selbstachtung zu empfinden. Die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung folgt diesem Paradigma – und seit sie auch in der Deutschland ratifiziert ist, geht es unter dem Thema Inklusion darum, diesem Denken Raum zu verschaffen- in Bildungseinrichtungen wie im Quartier.
Hilfesysteme müssen die Fähigkeiten unterstützen, die jeder einzelne mitbringt. Sie dürfen sie nicht schwächen. Sie dürfen nicht entmündigen. Von diesem Impuls lebte Ende der 60-er Jahre die Auflösung der großen Heime der Jugendhilfe zu kleinen Familiengruppen, das trieb die Gemeindepsychiatriebewegung in den 70ern und die Hospizbewegung in den 80ern voran, und es führt seit 10 Jahren zur Ambulantisierung der Behindertenhilfe und zur Quartiersarbeit in der Altenhilfe. Gleich, ob es um behinderte Menschen oder um Sterbende geht: immer geht es darum, die Selbstbestimmung zu stärken. Es geht darum, Menschen aus den Einrichtungen zurück zu holen in die Stadtteile und Gemeinden. Dahin, wo sie sich unter allen Generationen bewegen können. Empowerment statt Entmündigung. Inklusion statt Exklusion. Quartiersarbeit statt Sondereinrichtungen. .Normalisierung also – mit dem Anspruch an die, die sich für normal halten, auch ihre eigene Angewiesenheit und die eigenen Grenzen wahrzunehmen. „Zusammenarbeit von Behinderten und Behindernden“, schrieb gestern jemand auf Facebook als ich postete, dass die Zahl der Schwerbehinderten ohne Arbeitsplatz um 20 Prozent gestiegen ist.
Im gesellschaftlichen Ringen um Inklusion zeigt sich der Wunsch nach einer neuen Partnerschaft, einer Gemeinschaft auf Augenhöhe, nach einer Gerechtigkeit, die keinen ausgrenzt. Und es scheint, als sei dieses Miteinander in unserem Land bedroht. Man spürt es, wenn jetzt wieder von Wohltaten die Rede ist.
3. Partnerschaft statt Wohltaten
Die verschiedenen Teile unseres Sozialgesetzbuch haben alle gesellschaftlichen Gruppen im Blick, die tendenziell hilfebedürftig sind: Kranke und Pflegebedürftige, Menschen mit Behinderung, Obdachlose und auch Kinder und Jugendliche. Kaum ein „Defizit“, auf das im Laufe der sozialpolitischen Entwicklung nicht das Augenmerk fiel: Rechtsansprüche wurden formuliert, Hilfesysteme geschaffen, Ausbildungen und Fortbildungen entwickelt. Immer weiter differenzierten sich die Ansprüche aus; immer neue Sozialgesetze wurden verabschiedet. Neben der Krankenpflege entstand in den 60-er Jahren die Altenpflege, neben Hospizen in den letzten Jahrzehnten Palliativstationen und Palliativpflegeeinrichtungen. Dieses hoch professionalisierte Sozialsystem hat wie die soziale Marktwirtschaft und das Miteinander von Arbeitgebern und Gewerkschaften zur Stabilität unseres Landes beigetragen. Im Sozialstaat bundesrepublikanischer Prägung hat jeder, der hilfebedürftig ist, einen Rechtsanspruch auf Hilfe. Aber auch, wer einen Rechtsanspruch wahrnimmt, bleibt „Hilfeempfänger“. Daran ändert die Tatsache nichts, dass inzwischen von „Kunden“ sozialer Dienste gesprochen wird. Da das Geld nämlich in der Regel von den Sozialversicherungen kommt, richtet sich das Augenmerk der Leistungserbringer nicht selten zunächst auf deren Ansprüche und die gesetzten Standards. Und keine Frage: für die Sozialversicherungen ist die Leistungskraft der Versicherten genauso zentral oder zentraler als die Bedürftigkeit der Leistungsempfänger.
So geht mit unserem gut entwickelten Hilfesystem zugleich eine gesellschaftliche Spaltung einher: es ist die Spaltung zwischen Steuerzahlern und Versicherten auf der einen, Transfer- und Leistungsempfängern auf der anderen. Auf der einen Seite die erwerbstätige Bevölkerung, die für das Bruttoinlandsprodukt, für Steuern und die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme sorgt und ein Interesse an niedrigen Beiträgen haben, auf der anderen Seite diejenigen, die den Sozialetat beanspruchen, weil sie auf Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen sind. Auf der einen Seite die, die das Geld erwirtschaften, auf der anderen die, die es ausgeben. Es ist die traditionelle Rollenteilung, die wir aus den Familien kennen. Auf der einen Seite die erwerbstätigen Männer, auf der anderen die Frauen, die unentgeltlich für das soziale Miteinander sorgten, Kinder erzogen und Kranke pflegten. Und die Hierarchie zwischen beiden war klar. Denn es waren auch damals Wirtschaft und Politik, die den Wandel voran trieben.
Mit der ersten Phase der Industrialisierung entstanden die Organisationen von Diakonie und Caritas, die schließlich den Kern unserer Wohlfahrtspflege und unseres Sozialstaats bildeten. Schon damals zerbrechen Familien unter den neuen Erwartungen der Arbeitswelt und der wachsenden Armut, schon damals wächst die Perspektivlosigkeit mit dem Mangel an Bildung. Und die Suche nach Gemeinschaft wächst. So entstehen die Brüder- und Schwesternschaften als Bildungsorte und Wahlfamilien- und sie sind in der Lage, anderen Türen zu öffnen, ihnen Mut zum Leben zu machen. Mit neuen Berufen in Erziehung und Pflege in der weiblichen Diakonie, mit Ausbildungen im Handwerk, in Armen- und Gefängnisfürsorge, in Bildungsarbeit und Kirche. Die Mutter- und Bruderhäuser, die Rettungshäuser und Vereine der Inneren Mission mit ihren starken ehrenamtlichen Vorständen und ihren Brücken in Politik und Wirtschaft bildeten bald schon eine Blaupause für viele andere Wohlfahrtsträger – von der AWO bis noch zum DPWV. Eine Erfolgsgeschichte, die noch bis in die 80er Jahre honoriert und durch das Selbstkostendeckungsprinzip und öffentliche Tarife auskömmlich finanziert wurde.
Freilich – eine Erfolgsgeschichte mit Schattenseiten. Dazu gehört eben auch die Geschlechterhierarchie, die Diakonie und Caritas bis heute prägt und dazu geführt hat, dass Pflege und Erziehung weit unter Wert bezahlt werden. Dazu gehört die zunehmende Abhängigkeit von öffentlichen Mitteln und Zielvorgaben, die das eigene Profil oft vergessen ließ. Und dazu gehört vor allem die Spaltung von Kirche und Diakonie, von Gemeindegliedern und Hilfebedürftigen, die der Spaltung von Steuerzahlern und Transferempfängern entspricht.
Das hat sich auch nicht verändert, seit der Sozialmarkt die traditionellen Mechanismen des Sozialstaats abgelöst und die alten Erstattungs- und Abstimmungsmuster der Freien Wohlfahrtspflege aufgebrochen hat. Jetzt zählt der Wettbewerb; die Institutionenorientierung ist der Nutzerorientierung gewichen, Dienstleistungen werden wie Produkte angeboten, verglichen und verkauft. Und Nutzer, Kassen und Kommunen arbeiten mit dem günstigsten, kompetentesten und effektivsten Anbieter im jeweiligen Sektor zusammen. War es Schritt nach vorn, Menschen mit Behinderungen , Pflege- oder Eingliederungsansprüchen als Vertragspartner zu verstehen, die gegebenenfalls mit eigenem Budget und mit Beratungsleistungen selbst in der Lage sind, sich die notwendigen Module für Wohnen und Arbeit, für Freizeit und Pflege zusammen zu stellen?
Ja und Nein. Ja, weil wenigstens dem Anspruch nach das Gefälle zwischen Helfer und Hilfebedürftigen aufgehoben ist. Weil damit der Sozialpaternalismus, der auch die Diakonie geprägt hat, an sein Ende gekommen ist – jene Fürsorge, die immer schon weiß, was der Hilfebedürftige braucht. Nein, weil damit Individualismus und Wettbewerb in einen Lebensbereich eingedrungen sind, der von anderen Paradigmen geprägt war – von Zuwendung, Gemeinschaft und Engagement. Weil mit der Ökonomisierung nun auch Effektivität und Effizienz, und das heißt ein neues Verständnis von Zeit und Erfolg in die Sozialbranche eingezogen sind.Die zunehmende Spaltung der Mitarbeiterschaften und hochqualifizierte und prekär Beschäftigte und die Spaltung der Hilfeempfänge in solche, in die der investive Sozialstaat investiert und solche, für die es nicht mehr lohnt, sind die logische Konsequenz dieser Situation.
Die Fragen, vor denen wir stehen, gehen also aufs Ganze: Wie kann es gelingen, die Freiheit und Würde der Einzelnen zu stärken, ohne die Lebenszusammenhänge weiter zu zerstören, von denen wir alle abhängen? Wie kann es gelingen, Verschiedenheit zu akzeptieren, ohne dass am Ende nur Gleichgültigkeit wächst? Wie integrieren wir Menschen mit Behinderungen, Kinder und Jugendliche oder pflegebedürftige Ältere in eine Gesellschaft, in der die Erwerbstätigen bis an die Grenze ihrer Kräfte belastet sind und flexibel sein müssen?
Wir werden neue Arrangements zwischen Familien, Tageseinrichtungen, Schulen und Pflegediensten. Wir werden Erwerbsarbeit und Sorgearbeit auch zwischen den Geschlechtern gerechter verteilen müssen. Wenn das nicht gelingt, droht das Care-Defizit, von dem der Siebte Familienbericht der Bundesregierung bereits spricht. Aber ohne Veränderungen in den Stadtteilen, ohne ein neues Selbstverständnis von Nachbarschaften und Vereinen, von Schulen, Kirchengemeinden, ohne das Engagement der Zivilgesellschaft wird der notwendige Wandel zu einer inklusiven Gesellschaft nicht möglich sein. Inzwischen aber haben Kritiker Eindruck, dass der Prozess der Inklusion angesichts der Versäulung des Sozialversicherungssystems und leerer kommunaler Kassen eher ein Sparprozess auf Kosten der Zivilgesellschaft ist – und letztlich auch auf Kosten der Versorgungsqualität. Es wird also Zeit, dass wir soziale Gerechtigkeit neu definieren – mit dem Ziel der gerechten Teilhabe auch für Kinder, Menschen mit Behinderung oder für ältere Pflegebedürftige.
Zu lange waren sie Objekte unserer Fürsorge – selbst in der Diakonie. Jetzt gilt es, einander endlich als Schwestern und Brüder, als Glieder am Leib Christi neu zu entdecken. Ganz in diesem Sinne sah Wichern in der Diakonie das Netzwerk der brüderlichen Liebe, Fliedner sprach vom dreifachen Dienst- für den Nächsten, für Gott und füreinander- geschwisterlich nicht nur in der Gemeinschaft, sondern auch den Notleidenden gegenüber, in denen uns Christus begegnen will. Wenn es darum geht, Diakonie als Kristallisationspunkt für die Erneuerung unserer Sozialkultur wieder zu entdecken, dann lässt sich anknüpfen an diese Gründerpersönlichkeiten, an die Bewegungen des 19. Jahrhunderts, die Männer und Frauen, die aus ihrer Glaubensüberzeugung Vereine gründeten, mit Wirtschaft und Politik kooperierten, Sponsoren fanden, neue Berufsbilder entwickelten und schließlich auch die Kirche veränderten.
5. Mit den scharfen Augen des Glaubens, mit den rettenden Armen der Liebe
Große Herausforderungen und auch Krisen haben lebensverändernde Kraft. Sie können ein Anstoß sein, alte Pfade zu verlassen „Wenn das Selbst aus dem Bild der Welt verschwindet, wird die Welt plötzlich sehr mächtig, sehr wunderbar. Es ist ein Augen öffnendes Erlebnis: O Gott, schau Dir diese Welt an“; sagt Keith Campbell. Er ist Sozialpsychologe an der Universität von Georgia und er hat sich mit dem Phänomen des „ Ich – Schocks“ beschäftigt, mit tiefgreifenden Erschütterungen, die unser Lebensgefühl verändern können. Es geht um jene Augenblicke, in denen der Schutzfilter, der uns normalerweise von der Wirklichkeit trennt, weggerissen wird. Eine schwere Krankheit, eine berufliche Katastrophe, ein Todesfall in der Familie – und wir reagieren zunächst wie betäubt. Unser Kopf ist leer und das Vertraute erscheint plötzlich fremd. Illusionen platzen , wenn wir spüren, dass wir nicht so sicher und nicht so unverwundbar sind, dass die Welt nicht so stabil ist, wie wir glaubten. Und plötzlich nehmen wir unsere Umgebung ganz anders wahr: brutaler, direkter, bunter. Campbell vergleicht diese Situation mit einem Meditationszustand, einem spirituellen Erweckungserlebnis. Es ist, als öffne sich ein anderer Horizont- wir hören auf, uns um uns selbst zu drehen, lassen uns ein, lassen uns vielleicht auch verstören.[1]. Was im Persönlichen gilt, das gilt auch für das Politische: denken Sie nur an den Fall der Mauer- als plötzlich ein neues Bild Deutschlands und Mitteleuropas am Horizont erschien. Unfassbar große Aufgaben, unglaubliche Chance. Oder an die Finanzmarktkrise von 2007 und 2008, als die Risse in der Mauer unserer alten Ordnung sichtbar wurden und alle nach einer neuen Sozialkultur, nach neuen Regulierungen fragten. Was haben wir daraus gemacht?
Und was machen wir aus der Umbruchsituation, der Transformation des Sozialen, vor der wir heute stehen? „Man muss die Wirklichkeit mit den scharfen Augen des Glaubens sehen, um sie mit den rettenden Armen der Liebe gestalten zu können“, hat Wichern gesagt. Die Zeit der letzten großen Transformation in der ersten Industrialisierungsphase war eben auch die Zeit der Erweckungsbewegung. Das öffnete die Augen für den leidenden wie für den auferstandenen Herrn- und machte Mut, hinaus zu gehen, auf ihn zuzugehen und die eigenen Interessen hinten anzustellen. „Vor Gleichgültigkeit gegen dein Wort und Kreuz, vor aller Selbstgefälligkeit, vor unnötiger behüt‘ uns, lieber Herr und Gott“, heißt es in der alten Betstunde der Kaiserswerther Schwestern. Es geht darum, sich zu öffnen für das was Menschen brauchen, wonach sie sich sehnen: Orientierung und Zusammenhalt, Spiritualität und Begleitung, Zugänge zu Lebensbereichen, die ihnen bisher verschlossen waren, Selbstachtung und Würde.
Im Licht des christlichen Glaubens ist der Mensch als Gottes Ebenbild geschaffen und mit unveräußerlicher Würde ausgezeichnet. Das gilt für diejenigen, die die Welt aktiv durch ihre Arbeit gestalten können, wie für diejenigen, die auf Hilfe und Zuwendung anderer besonders angewiesen sind. In Kern ihres Menschseins, ihrer Würde als Person, unterscheidet sie nichts; als Christinnen und Christen sind sie Schwestern und Brüder, Mitglied einer Gemeinschaft. Dabei kommt es nicht auf Geschlecht oder Rasse, Herkunft, Besitz oder Status an—was zählt ist allein „der Glaube, der in der Liebe tätig ist“.[2] Diese Vision findet anschauliche Tiefe in den Evangelien, in denen sich die neue Wirklichkeit Gottes gegenwärtig zeigt. Nicht immer ist ihr die Kirche gefolgt; es hat lange gedauert und viele Kämpfe erfordert, Rassismus und Sexismus zu überwinden – und fordert sie noch.
Paulus rückt in Galater 3, 28 die Einheit der Gemeinde trotz bestehender Differenzen in den Mittelpunkt. Das kann im Blick auf das soziale Miteinander in der Kirche nicht ohne Folgen bleiben. Diese Gemeinschaft geht der kirchlichen Organisation mit ihren Programmen und Bekenntnissen voraus wird zugleich in seiner kritischen Differenz zum Maßstab ihrer Ordnung. Es ist eine auch für das Neue Testament selbst schmerzliche, aber immer wieder beschriebene Wirklichkeit, dass die Gottesherrschaft Christi sich in seiner Gemeinde noch nicht durchgesetzt ist. Die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Herrschenden und Beherrschten in der Kirche – 1934 in der Theologischen Erklärung von Barmen mit dem Begriff der „Gemeinde von Brüdern“ als Ziel festgehalten – lässt sich deshalb nur als Prozess beschreiben. Dieser Prozess zielt auf Befreiung, auf den Augenblick, in dem das Organisationsgefälle wenigstens auf Zeit aufgehoben ist. Dazu braucht es eine Haltung des Dienens, die Augenhöhe mit den Hilfebedürftigen sucht, und eine „herrschaftsfreie Kommunikation“, [3] die auf Autonomie und Freiheit zielt.
Helmut Gollwitzer sah die Zukunft der Kirche in einer Personengemeinschaft auf lokaler und regionaler Ebene – wir würden heute vielleicht sagen, in lokalen Netzwerken mit einem neuen Lebensstil „gegen den Widerstand der alten Welt und ihrer Todesverhältnisse“. „Die Horizontale“, also das Miteinander, so Gollwitzer, „ist das Kriterium für die Echtheit des Lebens in der Vertikalen“, des christlichen Glaubens. Die Kirche, so Gollwitzer, sei nicht dazu da, die eigene Gemeinschaft zu pflegen oder ein unverbindliches Christentum als Gesellschaftsreligion zu stützen. „Angesichts der Nöte der Welt selbst zufrieden zu sein“, so die Erklärung der Ökumenischen Versammlung von Uppsala aus der gleichen Zeit (1968), das würde bedeuten, „sich der Häresie schuldig zu machen“. Der Zeugnisauftrag der Kirche zielt vielmehr darauf, die Koinonia, die Gemeinschaft der geschwisterlichen Gemeinde, so zu verwirklichen, dass der christliche Glaube auch für Suchende und Zweifler und für Menschen ganz unterschiedlichen Herkommens attraktiv wird: für Arme wie Wohlhabende, für die verschiedenen Generationen, für Familien und Alleinstehende. Dabei ist die Richtung klar: von der Herrschaft zum Dienst, von oben nach unten, von der einsamen Spitze zur Anerkennung der Vielfalt, von der Verschlossenheit zur Teilhabe. Kirche lässt sich nicht für andere attraktiv machen, sondern nur mit anderen gemeinsam leben und gestalten. Deshalb geht es auch in der Kirche zuerst und vor allem um Grundrechte. Wolfgang Huber hat einmal folgende Rechte aufgezählt: Das Recht auf Zugang zum Glauben, das Recht auf Gewissens- und Meinungsfreiheit, das Recht auf Integrität der Person, das Recht auf Gleichheit und das auf Teilhabe an kirchlichen Entscheidungen. Die „Gemeinde von Schwestern und Brüdern“ ist eine offene Gemeinschaft, die gerade auch die einschließt, in denen die Gemeinde Christus als dem Bruder begegnen kann: die Leidenden und Benachteiligten.
„Es gab keine Armen in der Gemeinde, denn wer immer ein Grundstück oder Haus besaß, verkaufte es, brachte den Erlös für sein Gut und legte ihn den Aposteln zu Füßen, die davon jedem gaben, was er eben brauchte“, heißt es im 4. Kapitel der Apostelgeschichte, die uns ein attraktives Bild der jungen, wachsenden Christengemeinde in Jerusalem vor Augen stellt. Dieses genossenschaftliche Ideal war es, das auch in den Bruder- und Schwesternschaften weiterlebte – und Basis-Gemeinschaften wie die Arche-Gemeinschaften oder „ Brot und Rosen“ bis heute davon geprägt. Hier leben behinderte und nichtbehinderte Menschen, Einheimische und Flüchtlinge in kleinen Familiengruppen zusammen. Und jeder trägt zum Lebensunterhalt bei, was er kann – die einen mit Erwerbstätigkeit, andere mit Hausarbeit, alle mit dem Dasein für andere.
„Das Reich Gottes“, heißt es einmal bei Johann Hinrich Wichern, „ist die von Gottes Liebe und Leben durchdrungene Schöpfung“. Sie betrifft das „ganze persönliche und gemeinsame, das private und öffentliche Leben der Menschheit in Staat und Kirche“.[4] Daran mit zu arbeiten, dass Gottes Liebe in dieser Weise wirksam wird, ist Aufgabe von Kirche und Diakonie. Es geht darum, über den kirchlichen Binnenraum hinaus an den sozialen Aufgaben der Gegenwart mitzuarbeiten. Die Reich-Gottes-Gleichnisse der Evangelien, aus denen die Diakoniker des 19. Jahrhunderts ihre Zukunftsvisionen und Handlungsimpulse schöpften, enthalten neben ihrer Verheißungsseite immer auch prophetische Kritik. Das gemeinsame Wort von 1997 nimmt diese Tradition auf, wenn es an die „biblische Option für die Armen“ erinnert: „Sie lenkt den Blick auf die Empfindungen der Menschen, auf Kränkungen und Demütigungen von Benachteiligten, auf das Unzumutbare, das Menschenunwürdige, auf strukturelle Ungerechtigkeit. Wenn die Christen das biblische Zeugnis mit den aktuellen Herausforderungen zusammen lesen, gewinnen sie nicht nur ethische Orientierungen für das eigene Handeln; es ergeben sich auch ethische Einsichten, die sich auf den institutionellen Rahmen der Gesellschaft beziehen. Gerechtigkeit wird dabei zum Schlüsselbegriff, der alles umschließt, was eine heile Existenz ausmacht“ (S. 45).
Eines der Modellprojekte von „Kirche findet Stadt“ liegt in Gelsenkirchen. Dort konnte die Gefahr, dass der Kirchenkreis ein Gemeindehaus in einem benachteiligten Stadtteil aufgibt, durch die beherzte unternehmerische Initiative der Gemeinde abgewendet werden. Gelsenkirchen gehört – Schalke zum Trotz – zu den hochverschuldeten Städten des Ruhrgebiets. Die Kommune leidet unter der Abwanderung der aktiven Generation; zurück bleiben Ältere und Hartz-4-Empfänger und viele Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund. Die Armut ist groß – und auch die Zahl der Kirchensteuerzahler schrumpft. So entschloss sich der Pfarrer mit einigen Engagierten in der Gemeinde, das Gemeindehaus zu einem Stadtteilzentrum umzubauen. Mit Mittagstisch für die Kinder, mit Pflegeberatung und Treffpunkt für die Älteren – ein Knotenpunkt im Quartier, wo Hilfe andocken kann. Das alles wäre nicht möglich gewesen ohne die Umwandlung in einen Verein, der viele prominente Mitglieder anzog und reichlich Spenden sammelt – dazu Sponsorengelder von BP-Deutschland. Die Gemeinde ist nun also Mieter dieses Stadtteilvereins – und ihr diakonischer Dienst prägt das Profil. Ob die Spaltung zwischen „Mittelschichtkirche“ und „diakonischen Hilfeempfängern“ überwunden werden kann, ob es gelingt, Freiwillige und Spender zu gewinnen und Brücken zu schlagen zwischen diakonischen Unternehmen und Kirchengemeinden, das zeigt sich im Quartier.
Mit solchen Modellen nimmt die Gemeindediakonie Impulse der Inneren Mission wieder auf. Zugleich allerdings sind aus den diakonischen Einrichtungen der „Anstaltsdiakonie“ große Unternehmen und Konzerne geworden – mit spezialisierten Dienstleistungen für Pflege und Psychiatrie, für Familien oder Wohnungslose. Mit ihren betreuten Wohngruppen und ambulanten Diensten, ihren Unterstützungssystemen, Beratungs- und Bildungsangeboten arbeiten sie nun mitten in den Wohnquartieren. Was können sie beitragen zur Entwicklung der Gemeinwesendiakonie in den Stadtteilen? Wird es gelingen, mit den ambulanten Dienstleistungen auch eine diakonische Kultur in die Wohnquartiere zu bringen oder sie wieder zu beleben? Wie vertragen sich Wettbewerb und Druck auf die Budgets mit der Sorge um das Ganze.
Die Wachstumsfixierung unserer Gesellschaft führe dazu, dass wir auch da, wo es um das Wohl des Menschen und den Erhalt der natürlichen Ressourcen geht, vor allem Umsätze und Gewinne im Blick hätten, schreibt Gerhard Scherhorn.[5] Er spricht von einem Wirtschaftswachstum ohne Rücksicht auf Kollateralschäden; denn die Zerstörung der Gemeingüter[6] und öffentlichen Güter habe bedrohlich zugenommen. In den alten Mutterhäusern lässt sich besichtigen, was das bedeutet: wo nur noch einzelne Dienstleistungen und Produkte refinanziert werden, lassen sich die hohen Flure und denkmalgeschützten Gebäude kaum noch erhalten; da braucht es Spender und Sponsoren, um die Parks und Brunnen zu pflegen. Der Wert einer heilsamen Umgebung droht dabei genauso in Vergessenheit zu geraten wie die Bedeutung eines stabilen Teams oder die eines guten, frisch gekochten Essens. All das gehörte einmal zur genossenschaftlichen Kultur der Diakonie. Es ist die lebendige Gemeinschaft, die geistliche Orientierung gibt. Deshalb gehören Mission und soziales Engagement, Kirche und Diakonie zusammen. Wo Diakonie an Profis delegiert und immer weiter vermarktlicht wird, wo die Kirche sich aus der Gesellschaft zurückzieht und ihre Sprache vielen fremd wird, sind Außenstehende irritiert: sie erwarten geistliche Stärkung auch und gerade da, wo sie sich sozial engagieren oder eben Patienten und Nutzer diakonischer Dienste sind.
Diakonie kann entscheidend beitragen zur Erneuerung unserer Sozialkultur. Dazu wünsche ich mir in den Umbrüchen unserer Gesellschaft eine ähnliche Energie wie in den Veränderungsprozessen des 19. Jahrhunderts, ja, wir brauchen eine neue Erweckung: Wachheit und Offenheit, Respekt vor den Einzelnen, Gemeinschaftliche Kräfte für den Zusammenhalt, das politische Eintreten für die Würde der Schwächsten, spirituelle Achtsamkeit, theologische Reflexionskraft und Sprachfähigkeit sind dazu nötig. Deshalb brauchen wir eine neue diakonische Bildungsinitiative. Die Schätze, die unsere Sozialkultur geprägt haben, die biblischen Geschichten und Bilder müssen erinnert und erklärt werden, damit sie nicht verloren gehen. Von den Tageseinrichtungen für Kinder bis zur Konfirmandenarbeit, vom Religionsunterricht über das freiwillige soziale Jahr und die Angebote für ehrenamtlich Engagierte bis zu den Schulen und Hochschulen haben Kirche und Diakonie enorme Chancen, dazu beizutragen.
Tatsächlich entstehen ja derzeit überall neue evangelische Schulen, Hochschulen und Studiengänge –das gilt auch für die sozialen und diakonischen Handlungsfelder. Als Florence Nightingale 1851 ihre Krankenpflegeausbildung in Kaiserswerth machte, hat sie beklagt, dass der Unterricht zu großen Teilen aus biblischer Bildung und zu wenig aus Pflegemethodik bestand – heute haben wir das umgekehrte Problem. Bei allen Unterschiede in den verschiedenen Handlungsfeldern werden bestimmt Module überall angeboten: Projekt- und Qualitätsmanagement, strategisches Denken und wirtschaftliche Methoden, aber auch die Zusammenarbeit mit Angehörigen oder Freiwilligen- lauter wichtige Kompetenzen. Aber der Zusammenhang von Fachlichkeit und Spiritualität ist nur noch für diejenigen erkennbar, die als Diakonin oder Diakon eine Doppelqualifikation anstreben oder bei einer Hochschulausbildung die entsprechenden Zusatzmodule wählen. Um die spezifisch diakonische Arbeit in Pädagogik, Pflege und Heil- oder Sozialpädagogik zu gestalten – von der Helferausbildung über die Fachoberschulausbildung bis zum Hochschulabschluss – fehlen noch immer konsequent aufeinander aufbauende spezifisch diakonisches Angebote und Zertifikate. Es ist gut, dass nun endlich eine EKD-Kommission daran arbeitet. Denn der Diakonat in der Kirche beschreibt eine dritte Dimension in allen Arbeitsfeldern und Ausbildungslevels. Dabei geht es um ethische Urteilsbildung und theologische Begründung, um die Entwicklung und Vertiefung von Spiritualität und um das Verständnis von Kirche und diakonischem Dienst. [7]
Diakonie ist die Seele des Sozialen, eine fürsorgliche Haltung, die mit Werten wie Barmherzigkeit und Nächstenliebe unsere Sozialkultur prägt – weit über den Raum der Kirche hinaus. Aus diesen Wurzeln leben Pflege und Sozialarbeit auch da, wo sie sich nicht auf biblische Texte berufen. Gerade deshalb muss es aber auch Einzelne und Gruppen geben, die sich ihre diakonische Berufung in besonderer Weise bewusst sind und ihren Dienst als einen Dienst der Kirche verstehen. Denn bei Pflegenden, Erziehern, Diakoninnen und Diakonen gehören Beruf und Berufung, Engagement, Profession und Spiritualität in besonderer Weise zusammen. Zwischen dem Auftrag ihrer Kirche, den Herausforderungen ihres Arbeitsfeldes, den Anforderungen ihres Berufsprofils fragen sie immer neu nach ihrem unverwechselbaren Beitrag. Das ist und bleibt ein lebenslanger, ein spannender und manchmal sehr anstrengender Weg, dem Sie sich immer neu stellen.
Denn die diakonischen Gemeinschaften sind von zentraler Bedeutung, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf diesem Weg zu begleiten und ihre Berufung zu stärken. Das gilt erst recht, wenn manche den Eindruck haben, dass die Kirche sich ihrer geistlichen Verantwortung für dieses Arbeitsfeld kaum noch bewusst ist. Dabei erlebe ich gerade in den östlichen Bundesländern Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Diakonie, die es als Freiheit erleben, nach Jahren der Marginalisierung von Kirche und Diakonie in der DDR nun endlich ihr christliches Profil „auf den Markt tragen“ und für ihre Überzeugung werben zu können
6. Fangen wir noch einmal an
In meinen letzten Monaten als Kaiserswerther Vorsteherin habe ich gelegentlich von einer Klosterruine geträumt- mitten in den schönen, aber alten und brüchigen Mauern der Diakonie, unter dem durchlöcherten Dach grünte und blühte der Rasen. Ich stand barfuß auf einer Wiese unter dem offenen Himmel– bereit zu einem neuen Anfang. „Auf die Füße kommt unsere Welt erst wieder, wenn sie sich beibringen lässt, dass ihr Heil nicht in Maßnahmen, sondern in neuen Gesinnungen besteht“, hat Albert Schweitzer geschrieben. Wenn wir uns neuen Herausforderungen stellen, statt die Augen zu verschließen, wenn wir unserem Weg und unseren Zielen treu bleiben, auch durch Schmerzen und Enttäuschungen hindurch, wenn wir bereit sind, uns selbst verändern zu lassen, dann geschieht etwas an uns: wir werden offener, vielleicht auch verletzlicher, vor allem aber demütiger. Wir werden geerdet, wir kommen selbst wieder auf die Füße und nehmen den Himmel besser wahr. Denn darauf kommt es an: dass wir unserer eigenen Wahrnehmung trauen, dass wir hinsehen, was wirklich nottut, dass wir tun, was heute dran ist. Dabei lernen wir vielleicht am meisten von denen, die ganz unten sind. Henri Nouwen, der Gründer der „Arche“ meint: „Es sind die Armen, die Kleinen, die von der Gesellschaft an den Rand Gedrängten, die uns den Weg der Liebe lehren.“
Wer hinsieht, kann auch heute neue Wege entdecken, die nicht weniger spannend sind als die im 19 Jahrhundert:
- Überall in der Zivilgesellschaft entstehen gemeinnützige Bewegungen, Selbsthilfe- und Angehörigengruppen für Menschen mit Behinderung, für Demenzerkrankte, Nachbarschaftsarbeit für Familien und ältere Menschen. Kirchengemeinden, Diakonische Werke und Unternehmen tun sich zusammen und entwickeln Gemeinwesendiakonieprojekte und Quartiersarbeit – bei „Kirche findet Stadt“, in der Quartierspflege, in Familienzentren und Armutsquartieren.
- Wirtschaftsunternehmen unterstützen ihre Mitarbeitenden bei ihrem freiwilligen Engagement im In- und Ausland, andere sponsern Projekte der Gemeinwesendiakonie. Vereine und runde Tische mit Kirche und Diakonie, mit Sportvereinen und Schulen, mit Kommunen und Unternehmen werden gegründet: Auf regionaler Ebene entwickelt sich eine neue Subsidiarität.
- Kommunen werden Bürgerkommune – wie Arnsberg, Nürtingen oder Augsburg. Sie investieren in ehrenamtliches Engagement, bilden runde Tische, öffnen die Schulen, gewinnen auch Kirchengemeinden. Und Kirchengemeinden übernehmen Verantwortung im Quartier.
- Und überall, auch in privaten und städtischen Einrichtungen, entstehen Initiativen, die internationale Projekte fördern – Gesundheits- und Sozialprojekte, Hilfe für Flüchtlinge und Migranten, interkulturelle Gärten und offene Werkstätten.
- In den alten Klöstern und Mutterhäusern aber, und auch in ganz neuen Hotels entstehen Einkehrhäuser, in denen sich die Erfahrung von Gemeinschaft kristallisiert: neue Kommunitäten, diakonische Pilgerwege.
So viel Neues hat begonnen, so viel Ermutigendes. Aber noch immer und seit 160 Jahren steht die Aufgabe an, den Diakonat der Kirche weiter zu entwickeln und sein Verhältnis zu anderen Diensten zu klären. Es geht darum, Spiritualität als Kraftquelle sozialer Arbeit in ein neues Verhältnis zur Fachlichkeit zu setzen und Freiwilligkeit in ein neues Verhältnis zu staatlich-hoheitlichen Aufgaben. Es ist notwendig, die interkulturelle Zusammenarbeit und den interreligiösen Dialog in der sozialen Arbeit zu stärken und unser Verständnis von Subsidiarität, aber auch unsere Religionsverfassung so weiter zu entwickeln, dass sie der pluralen Wirklichkeit unserer Wohlfahrtsgesellschaft entsprechen. Das alles ist eine große Herausforderung für Kirche und Diakonie.
Fangen wir mutig noch einmal an. Aus den alten Wurzeln wächst neues Leben. Als ich vor 15 Jahren in Kaiserswerth begann, begleitete mich immer wieder die eine Frage: „ Wie viele Diakonissen haben Sie denn noch?““ Wie viele Krankenhäuser haben Sie denn noch?“, werden vermutlich die Bischöfe und Kirchenleitungen in 15 Jahren gefragt werden. Aber ich bin überzeugt: Es wird nicht darauf ankommen, wie viele Krankenhäuser, Altenheime, Tageseinrichtungen die Kirche hat, sondern welche Initiativen wir starten und was sie bewirken. Unterwegs in Gottes Reich hängt alles davon ab, wie wir uns selbst verändern und was wir in Bewegung setzen. „Brains before bricks“ – diese Parole gilt auch und erst recht für die Kirche. Darum wünsche ich mir viele bewusste und engagierte Christinnen und Christen und viele Diakoninnen und Diakone. Trotz vieler Enttäuschungen, trotz stressiger Umbrüche, trotz wirtschaftlichen Drucks –Sie sind Ferment in gesellschaftlichen Umbrüchen, Sie sind die Seele des Sozialen. Bleiben Sie behütet in Ihrer Arbeit, in Ihrem Leben, in Ihren Gemeinschaften.