Newsletter 25 / Juni 2022

 

 

Newsletter
25/Juni 2022:

Brennende Themen. Ideen, Inspirationen und Projekte aus Kirche und Diakonie.

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  • Endlich erwachsen werden
  • Risse im Sozialgefüge
  • Selfcare
  • Mütter: Energie von Wut und Liebe
  • Engagement aus Quartier und Internet
  • Aufbruch in der dritten Lebensphase
  • Pflege, Demenz und hospizliche Kultur
  • Von der Sehnsucht

Die Wand, die aufreißt: Grenzerfahrungen oder das Ende der Illusionen

„Haben Sie nicht auch manchmal das Gefühl, als bewege sich nichts? Als wachse vor uns eine Mauer des Stillstands, die immer höher wird – trotz stetiger Beschleunigung? Wie bei einer Zugfahrt, wo man im Vorbeifahren die Landschaft nicht mehr erkennt?“ Das fragt Alice, eine junge Philosophin, den Bürgermeister von Lyon. Es ist eine Szene aus dem Film „Alice und der Bürgermeister“, der 2019 in die Kinos kam – kurz vor der Pandemie. Diesem Bürgermeister fehlen die Ideen, wie man in der Stadt Lyon noch mehr Fortschritt erzielen könnte. Trotz Diskussionen mit Künstler*innen, World-Cafés, Zukunftskonferenzen gelingt es ihm nicht, wirklich in Kontakt zu kommen mit dem Leben der Bürgerinnen und Bürger. Alice lebt einfach im Hier und Jetzt – sie hat keinen Plan für morgen, keine Vorstellung von einem zukünftigen Beruf. Alles scheint möglich. Der Schlüssel, meint Alice, sei Bescheidenheit. „Alice oder Die Bescheidenheit“ ist denn auch der deutsche Titel von Nicola Parisers Film.

Die Geschichte fiel mir wieder ein, weil ich seit ein paar Wochen das Gefühl habe, als sei die Mauer eingerissen, die uns von der Gegenwart getrennt hat. Manche sprechen vom „Ende der Illusionen“. Keith Campbell, Sozialpsychologe an der Universität von Georgia, hat sich mit dem Phänomen des „Ich-Schocks“ beschäftigt, mit tiefgreifenden Krisen und Erschütterungen, die unser Lebensgefühl verändern können. Plötzlich nehmen wir unsere Umgebung ganz anders wahr: direkter, tiefer, unmittelbarer, beschreibt er es. Sind wir in einer anderen Welt aufgewacht, wie Anna Lena Baerbock gesagt hat, oder sehen wir die Welt mit anderen Augen? Campbell vergleicht diese Situation mit einem spirituellen Erweckungserlebnis. Es ist, als öffne sich ein anderer Horizont – wir hören auf, uns um uns selbst zu drehen, lassen uns ein, lassen uns vielleicht auch verstören. Als ich auf einer Tagung der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland Anfang Mai von diesem Eindruck sprach, zeigte sich, dass ich nicht allein damit bin. Die Abschlusserklärung der Synode enthält etwas von diesem Geist.

Mit der Verstörung durch den Krieg werden uns zahlreiche weitere Fragen bewusst: Globale Lieferketten, die Vorstellung von Wandel durch Handel, der Neoliberalismus gehören endgültig auf den Prüfstand. Aber schon die Pandemie konnte uns die Augen öffnen für die Abhängigkeiten, auf denen der eigene Wohlstand basiert: Die Energieversorgung bis zur Infrastruktur an Russland outgesourct, der Elektronik- und Pharmamarkt nach China, die Verteidigung an die USA. Und die globale Verflechtung scheint keine Sicherheit zu bieten. Das Ende aller Illusionen – das könnte auch heißen, endlich erwachsen zu werden. Zu begreifen, wie wenig selbstverständlich, wie angreifbar unser Lebensstil ist. Welche Gnade es war, eine weitgehend sorgenfreie Existenz zu leben – trotz der Ungerechtigkeit und des Unrechts, in die auch wir verstrickt sind. Und die eigenen Grenzen zu erkennen. Dass das Gefühl der Sorglosigkeit und Sicherheit übrigens keineswegs für alle in Deutschland galt, auch nicht nach dem Fall der Mauer, das wird sehr deutlich in dem neuen Roman von Sascha Marianna Salzmann, Im Menschen muss alles herrlich sein, in dem sie von vier Frauen aus drei Generationen erzählt, die sich in Ostdeutschland ihrer gemeinsamen Geschichte in der Sowjetunion annähern.

Kürzlich habe ich in irgendeinem Café eine Postkarte mitgenommen; SDG stand darauf, wie „Spüre Deine Grenze“. Oder wie Sustainable Development Goals. Gemeint ist die globale Entwicklungsstrategie, die 2015 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen beschlossen wurde – auch bekannt unter dem Label Agenda 2030. Es geht um die Bekämpfung von Armut und Hunger, um Gesundheit und Bildung. Jetzt, in Zeiten des Krieges, während eine neue Hungerkatastrophe droht, klingt das wie ein ferner Traum. Zugleich ist ganz konkret geworden, worum es geht: Die eigenen Grenzen erkennen – das heißt auch, nicht mehr zu beanspruchen, als mir zusteht. Nicht weiter auf Kosten anderer leben. Meine Abhängigkeiten reduzieren – persönlich und politisch. Demut üben. Und endlich erkennen, was wir längst hätten sehen können – die Mauern in unseren Köpfen und die Risse, die sich seit langem abzeichnen.

Risse im Sozialgefüge oder Kein Friede ohne Gerechtigkeit

Mitten in diesen Kriegszeiten ist Frankreich gerade noch einmal an einer faschistischen Regierung vorbeigeschrammt. Den Bürgerinnen und Bürgern, die Le Pen gewählt haben, ging es nicht um Putin und die Ukraine, auch nicht um Krieg und Frieden – es ging um Kaufkraft und Energiepreise, um die Migration aus dem Maghreb und aus Afrika, aber auch um nationale Träume von vergangener Größe. 

Auch bei uns nimmt die sozioökonomische Spreizung seit Jahren zu. Christoph Butterwegge, der aktuell über diese durch Corona noch verstärkte Spreizung geschrieben hat, hatte zuvor zusammen mit Carlin Butterwegge am Beispiel der ungleichen Bildungs- und Teilhabechancen von Kindern gezeigt, welche Folgen der Neoliberalismus für die Einzelnen hat. Auch die Armut und Einsamkeit so vieler Pflegender und Gepflegter sind Ausdruck dieser Spreizung. Und doch wird die Kindergrundsicherung auf sich warten lassen und beim Energie-Entlastungspaket gingen die Rentner*innen leer aus. Schon jetzt ist deutlich: Das Engagement für einen gerechten Frieden in der Ukraine wird nachlassen, wenn wir nicht auf Zusammenhalt und soziale Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft achten. Europa erlebt gerade die massivste Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Einige Städte sind bereits an ihre Grenzen gestoßen. Doch weiterhin ist das ehrenamtliche Engagement so vieler Menschen beeindruckend. Ganz in meiner Nähe, in Neustadt am Rübenberge, ist in nur drei Tagen aus einem alten Pfarrhaus ein blau-gelber Treffpunkt geworden: ein spendenfinanziertes Gemeinschaftshaus, in dem Einheimische und Geflüchtete einander begegnen. Und in Garbsen, wo ich wohne, sind die ersten Schritte der Integration getan: Die meisten Kinder aus der Ukraine haben einen Platz in Schule oder Kita gefunden, kleine Familien eine Einliegerwohnung – die riesige Welle der Solidarität ist auch ein Friedensdienst. Doch manche übernehmen und erschöpfen sich, stoßen an Grenzen – und ärgern sich, weil die Institutionen, die Kommunen, Kirchen, Wohlfahrtsverbände nicht so spontan und schnell sind. Dabei gibt es soziale Sicherheit nur gemeinsam, Freiwillige und Organisationen, Ehrenamtliche und Berufliche werden gleichermaßen gebraucht. Wenn wir als Kirche gute Beispiele setzen, wie in Neustadt mit dem blau-gelben Zentrum, können wir Vertrauen schaffen – auch nach innen. 

Mauern durchbrechen, ins Gespräch kommen und die Wirklichkeit neu wahrnehmen, darum geht es gerade jetzt. Ich musste in diesen Wochen oft daran denken, wie Jesus nach Ostern zu seinen Jüngerinnen und Jüngern kommt – durch Mauern hindurch und gegen alle Erwartung. Und wie die heilige Geistkraft schließlich mit Sturm und Feuer in das Haus kommt, in dem sich die Gruppe versteckt hat – und sie herauslockt in eine neue Wirklichkeit. 

Texte zur Klärung 
Auf meiner Website sammle ich Texte, die mir besonders gut und klug erscheinen – besonders geeignet, die vielschichtigen Aspekte der Transformation, die wir gerade erleben, zu verstehen und die eigene Haltung zu klären. Da geht es um den fürchterlichen Krieg, aber auch um die ökologischen und sozialen Krisen und deren Zusammenhang. Krisen, Krieg und Klima habe ich den Button genannt (im Menü rechts können Sie die einzelnen Themen ansteuern).

Selfcare 

„Spüre Deine Grenzen“ – die persönliche Mahnung von der Verteilkarte ist zugleich ein politischer Aufruf für die Agenda 2030. Es gibt eben doch einen engen Zusammenhang zwischen persönlichem Lebensstil und politischen Rahmenbedingungen. Svenja Gräfe hat während der Coronakrise ein Buch über „Selfcare“ geschrieben und ist damit den Rahmenbedingungen unserer Leistungs- und Konsumgesellschaft auf den Grund gegangen. Gehören das Erkennen eigener Gefühle und genug Schlaf schon zur Rebellion? Über ihr Buch Radikale Selbstfürsorge. Jetzt! Eine feministische Perspektive bin ich im RBB mit Svenja und der Journalistin Kirsten Dietrich ins Gespräch gekommen – ein ziemlich spannendes Tasten. Denn es ging auch um den Zusammenhang von Care-Arbeit und Selfcare. Und mit Schaumbad und Wellness ist es nicht getan, wenn wir achtsam mit uns selbst umgehen wollen. Vielmehr kann Selfcare auch mit schwierigen inneren Reibungen zu tun haben – zum Beispiel, wenn es darum geht, Grenzen zu setzen. Vielleicht haben Sie ja Lust, mal reinzuhören.

Mütter – über die Energie von Wut und Liebe 

Apropos Care und Selfcare: 1980 war es, da richteten wir in meiner damaligen Gemeinde in Wickrath einen Müttertreff ein. Etwas ganz Einfaches: eine Stunde wöchentlich zum Kaffeetrinken im Gemeindehaus, während die Kinder eine Gelegenheit zum Spielen hatten. Am Wochenende gab es manchmal kleine Ausflüge mit Müttern, Vätern, Kindern. Ich selbst, damals noch keine dreißig, kinderlos, fand es spannend, in den Gesprächen in diese ganz andere Welt der Familienfrauen einzutauchen – von Kinderglück und Alltagssorgen, Abhängigkeits- und Diskriminierungserfahrungen bis zu spirituellen Fragen. 42 Jahre später wurde in Wickrath gerade an das kleine, wegen Corona „krumm gewordene“ Jubiläum erinnert und ich denke darüber nach, was sich in diesen Jahrzehnten verändert hat. Heute versuchen Frauen, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen und dabei auch noch gut für sich zu sorgen, sich in Form zu halten. Wenn wir dabei nicht in Streit geraten über die unterschiedlichen Lebensentwürfe, sondern gemeinsam auf Gefühle, Sehnsüchte und die oft unerfüllbaren Erwartungen schauen, wäre schon viel erreicht. 

Mareike Fallwickl hat in ihrem Roman Die Wut, die bleibt mit ihren verschiedenen Figuren das Leben von Müttern wie unter ein Brennglas gerückt. Und auch den „hässlichen“ Emotionen Raum gegeben. Hier ist die Maske gefallen, die Mauer eingerissen und es weht der Wind eines ehrlichen, reinigenden Gesprächs. Die eigenen Emotionen anzunehmen, das ist ein erster, wichtiger Schritt. Im WDR-Interview mit Kirsten Dietrich anlässlich des Muttertags am 8. Mai haben ganz unterschiedliche Frauen über ihre Erfahrungen mit Selbstsorge gesprochen, über Hinderliches wie Förderliches, nicht zuletzt in der Religion, in Islam, Judentum und Christentum.

Wie Mutterliebe politisch wird, zeigt Andreas Dresens Film Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush. Die Mutter von Murat Kurnaz empört sich gegen die ungerechte Behandlung ihres Sohns in Guantanamo und sie findet einen Anwalt, der an ihrer Seite kämpft und sie stark macht. Damit gerät sie in die Weltpolitik. Ich denke dabei auch an die Mütter in Argentinien, die sich während der Militärdiktatur in den siebziger Jahren auf der Plaza Mayo versammelten und gegen das Verschwinden ihrer Söhne protestierten. Oder jetzt an die Mütter von Soldaten, die im Krieg in der Ukraine kämpfen müssen – auf beiden Seiten. Bis zu welchem Preis, frage ich mich, werden Mütter in Russland an Putins Politik festhalten? Werden die Entschädigungen sie zum Schweigen bringen? Ich denke an all die Mütter, die mit ihren Kindern geflohen sind – in welchem Maß der Krieg auch generell Geschlechterstereotype wieder aktualisiert, das gehört vermutlich zu den Auswirkungen, die sich erst über viele Jahre zeigen werden.

… und Familie, Arbeit und Nachbarschaft

Es sind oft die nächsten Beziehungen, die uns auch für das Gesellschaftliche stärken. Doch umgekehrt sind angemessene gesellschaftliche Rahmenbedingungen erforderlich, um die Nahbeziehungen zu schützen. In einem Beitrag für die Zeitschrift Zeitzeichen bin ich der Frage nachgegangen, wie die Ampelkoalition die neuen Formen von Familie und Gemeinschaft – von Regenbogenfamilien bis zu Seniorenwohngemeinschaften – rechtlich stärken will und wie die neuen „Verantwortungsbeziehungen“ ausgestaltet werden sollen. Auch zwischen den Generationen herrscht mehr gegenseitige Unterstützung und Verantwortlichkeit, als die Polemiken über ein Gegeneinander der Alten und der Jungen während der Pandemie glauben lassen wollten. Doch auch die Generationenbeziehungen brauchen Schutz und gute Rahmenbedingungen in einem modernen Generationenvertrag – von der Bildungspolitik bis zur Renten- und Klimapolitik. Das habe ich den Evangelischen Aspekten ausgeführt. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht gerade einen kleinen Schritt in Richtung der Anerkennung von Familienleistungen bei der Pflegeversicherung gemacht. Neben der Politik sind auch die Arbeitgeber gefragt, um Familien zu unterstützen. Auf einer Tagung der Führungsakademie für Kirche und Diakonie zum Thema Familienorientierung als evangelische Arbeitgebermarke habe ich einmal entfaltet, wie das aussehen kann. Dazu gehören auch relativ „kleine“ Dinge wie etwa die Kontaktpflege während Elternzeiten, Angebote während der Ferienzeiten, Unterstützung im Krankheits- und Pflegefall oder das Feiern von Festen unterschiedlicher Religionen. In Zeiten des Fachkräftemangels, so bin ich überzeugt, kann eine starke Familienorientierung Unternehmen attraktiv für Bewerber*innen machen. Die EKD und die Diakonie Deutschland haben eine Zertifizierung entwickelt, um Familienorientierung von Unternehmen mit einem Gütesiegel auszuzeichnen – gerade kirchlich-diakonische Unternehmen können so ihr Profil stärken. Nicht zuletzt kann Kirche ihren Teil dazu beitragen, Beziehungen zu stärken: zwischen Partner*innen, in Familien, im Quartier und natürlich auch über Grenzen hinweg. Dabei arbeiten die katholische und die evangelische Kirche glücklicherweise schon länger zusammen, um in Projekten wie Gemeinsam in Ochtersum Beziehungsgefüge im Stadtteil zu unterstützen. Wie solche Initiativen im Quartier initiiert und gefördert werden können, dazu gibt es mittlerweile sehr hilfreiche Impulse. Beispielsweise auch in einer Fortbildung des Johanneswerks. In der evangelischen Kirche in Baden läuft schon seit 2017 das Projekt Sorgende Gemeinde werden. Inzwischen hat das Sozialwissenschaftliche Institut eine erste Evaluation vorgelegt, die Faktoren des Gelingens beschreibt.

Kirche, Sorge für andere und Selbstsorge – das bleibt ein heißes Thema. Mir scheint es wichtig, dass wir die dunklen Seiten dieser Geschichte nicht vergessen und nicht verdrängen. Deshalb nehme ich in meiner Sendung am Sonntagmorgen am 7. August um 8:35 im DLF das Thema Gewalt und Missbrauch in der Geschichte diakonischer Erziehungshilfe auf – unter dem Titel „Wer sein Kind liebt, der züchtigt es?“. Und auch der Missbrauch von Macht in einer alt gewordenen Diakonissenschaft muss uns zu denken geben. 

Engagement – aus dem Quartier und aus dem Internet

Die zahllosen Krisen, die wir in unserer Gegenwart beobachten, international wie auch bei uns vor Ort, in der Gesellschaft wie in der Familie, sie könnten einem manchmal ein Gefühl der Ohnmacht vermitteln. Doch man kann etwas tun! Das ist aus meiner Sicht eine der wichtigsten Motivationen für das Ehrenamt: aus der Ohnmacht herauszukommen. Wie weit dieses Tun reichen kann, das ist mir mit dem Konzept des Spacings von Martina Löw besonders deutlich geworden. Die Raumsoziologin denkt darüber nach, wie aus „Orten“ „Räume“ werden. Zentral in ihrem Konzept des Spacings ist die Interaktion, die aus einem Ort einen Handlungsraum macht. Dabei geht es nicht nur um reale, physische, sondern auch um imaginierte Räume. Ihr Konzept illustriert sie mit dem Logo von Wikipedia: der Weltkugel mit all den verschiedenen Schriftzeichen. Mir leuchtet das sehr ein, gerade wenn ich an die Interaktionen denke, die sich aktuell im Kontext des ehrenamtlichen Engagements für Geflüchtete aus der Ukraine beobachten lassen. In einigen großen Städten wurden in wenigen Tagen Websites etabliert mit Buttons für die grundlegenden Angebote: Fahrdienste, Wohnungen, Sachspenden, Transporte etc. (Hier zum Beispiel eine Website zur Vermittlung von Unterkünften, die sich aus dem Engagement von Freiwilligen am Berliner Hauptbahnhof entwickelt hat.) Das ist prototypisch für die wachsende Bedeutung des Web für das Ehrenamt – inzwischen kommen 20 Prozent der Aktiven über diesen Weg. Ähnliches war ja schon bei der Fluthilfe zu beobachten; nicht zuletzt über die sozialen Medien fanden Hilfesuchende und Helfer*innen zueinander. Studien haben gezeigt, dass sich in dieser Krise fast die Hälfte der Engagierten unabhängig von Organisationen einsetzten. Seit der Flüchtlings„krise“ 2015 hat der Prozentsatz stetig zugenommen.

Es gibt viel Engagement, auch in neuen Formen. Zugleich ist aber während der Pandemie auch vieles weggebrochen. Das gilt vor allem für traditionelle Formen: Besuchsdienstgruppen zum Beispiel oder auch Ehrenamtsgruppen in Seniorenheimen haben es schwer. Auch angesichts der aktuellen Herausforderungen durch die Flüchtlingshilfe fehlt für andere Aufgaben oft die Kraft. Es scheint so, als wäre das, was die Analysen zum „alten“ und „neuen“ Ehrenamt schon länger beschreiben, erst jetzt für alle sichtbar geworden. Es gilt, sich viel bewusster über Ziele und Ressourcen klar zu werden. Dabei kann es ja durchaus heilsam sein, wenn Menschen spüren, dass sie nicht länger über ihre eigenen Kräfte hinausgehen wollen – Care beginnt mit Selfcare! Zu den traditionellen Ehrenamtsgruppen gehören die „Grünen Damen“, die am 31. August zu ihrer Bundestagung in Hannover zusammenkommen. Nach der Pandemie gilt es auch hier, den eigenen Standort neu zu bestimmen; manche Gruppen mussten schließen, andere wollen die anstehenden Veränderungen angehen. An manchen Orten wachsen zarte Pflänzchen, neue Gruppen entstehen. Und auch einige junge Menschen kommen hinzu. Am Vormittag wird Henning Scherf über generationenverbindende Arbeit sprechen, junge Gruppen kommen genauso zu Wort wie Politik und Träger; nachmittags spreche ich über „Veränderungen in Gemeinschaft und Ehrenamt“. Ich bin gespannt, ob wir auch dem „alten“ Ehrenamt mit seinen großen Stärken neuen Schwung geben können!

Wie sehr gerade die Vereine und Organisationen im Ehrenamt sich verändern, das lässt sich vor allem auf dem Land beobachten, wo die Mitgliedschaft in einem Verein traditionell „dazugehörte“. Welche Chancen es gibt, den Wandel zu gestalten, habe ich am 22. März mit Verantwortlichen im Emsland diskutiert. Für diese Region liegt eine spannende Studie des Berlin-Instituts vor, die ich zum Lesen empfehle (Von Kirchtürmen und Netzwerken. Emsland. Um den Wandel im Ehrenamt geht es auch bei einer Tagung der Hannoverschen Landeskirche 8. Juli in Loccum.

Wie aus Projektengagement politische Beteiligung werden kann, darum geht es am 28. September im Landratsamt Oberallgäu bei einem Workshop mit Frauen aller Fraktionen aus dem Landkreis. Manchmal kommt es allerdings auch darauf an, einfach anzufangen – mit einem Mikroprojekt, einer kleinen Intervention. Darüber denken wir nach auf einer Pfingsttagung des reformorientierten katholischen Akademikernetzwerks ND, die zusammen mit der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Goethe-Universität Frankfurt vorbereitet wird und in Bonn auf dem Venuswerk stattfindet: Einfach machen! am 4. Juni. Dem Motiv Einfach machen! gehe ich dann auch in meinen Rundfunkandachten im Deutschlandfunk vom 4. bis 8. Juli nach, denn ich bin überzeugt: Dieses spontane Aktivsein für andere ist getragen vom pfingstlichen Geist!

Und ganz konkret wird das Anfangen, wenn es am Tag der offenen Gesellschaft am 18. Juni wieder heißt: „Tische und Stühle raus!“, wenn die Menschen sich auf den Straßen und Plätzen treffen, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Denn das ist ganz gewiss der Anfang fürs Tun: dass Menschen einander begegnen und eine Idee zwischen ihnen entsteht, ein neuer pfingstlicher Geist. Davon erzähle ich auch in meinem Buch Die Neuentdeckung der Gemeinschaft. Um Ideen umzusetzen, vergibt übrigens die nebenan.de Stiftung wieder den deutschen Nachbarschaftspreis. Bis zum 6. Juli kann man sich bewerben.

Aufbruch in der dritten Lebensphase

Ursula Lehr ist gestorben. Sie war für mich in meinem Studium eine der wichtigsten Pädagogikprofessorinnen. Vor einigen Jahren traf ich sie dann wieder in der Jury des Deutschen Engagementpreises. Sie war lange Vorsitzende der BAGSO. Besonders bedeutsam war die Gründung des Instituts für Gerontologie an der Universität Heidelberg, einem der ersten Orte, an denen in Deutschland das Älterwerden unter verschiedenen, vor allem soziologischen Perspektiven wissenschaftlich erforscht wird. Aktuell wird das Institut übrigens von Andreas Kruse geleitet, mit dem ich zuletzt bei meinem Buch „Noch einmal ist alles offen“ zusammengearbeitet habe. Ursula Lehrs Denkweise, Prozesse des Älterwerdens besonders von Frauen gegen die Wahrnehmung der meisten nicht nur biologisch, sondern vor allem gesellschaftlich zu verstehen, ist für mich wegweisend geblieben. In diesem Kontext verstehe ich auch mein Engagement im Bereich „Übergang in den Ruhestand“ – demnächst wieder bei einem Pastoralkolleg am 12. Juli in Butzbach. Eine Kollegin, die sich für einen frühen Eintritt in den Ruhestand entschieden hat, schrieb mir nach der Pandemie: „Leider kommen die alten Kräfte immer wieder und wollen das Alte zurück – einer der Hauptgründe, warum ich meinen Antrag auf vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand gestellt habe.“ Für mich bringt es etwas auf den Punkt: Es ist gerade der Wunsch nach Aufbruch, nach etwas Neuem, der viele zum Abschied von der bisherigen Arbeit führt. Wie Unternehmen und wie auch die Einzelnen mit diesem Abschied gut umgehen können, dem ist Angelika Gaßmann mit ihrem Buchprojekt „Offboarding“ nachgegangen, an dem ich mich auch beteiligt habe. Zusammen mit anderen Büchern von Freund*innen stelle ich es unten noch etwas näher vor. Um die Generation der Babyboomer*innen, die in diesen Jahren aus dem Beruf ausscheiden, geht es auch auf dem Werkstatttag „Das Leben neu erfinden“ im Bistum Fulda am 14. Juli. Ein inspirierendes Mikroprojekt habe ich übrigens bei der Lego-Oma entdeckt, die aus Legosteinen Zugangsrampen für Rollstuhlfahrer*innen baut.

 

Pflege, Demenz und hospizliche Kultur 

Worauf kommt es an in der letzten Phase eines Lebens? Die Pandemie hat uns vor verstörende Herausforderungen gestellt. In den Pflegeheimen sollten die Bewohner*innen vor Ansteckung und schwerer Krankheit geschützt werden – und im Ergebnis waren sie über lange Zeiten einsam, mussten sogar einsam sterben. Und die Angehörigen hatten keine Chance, von ihnen Abschied zu nehmen. Besonders schockiert hat mich, dass das auch in den Kinderhospizen der Fall war. Dieses Dilemma hat mich noch intensiver über die Gestaltung unserer letzten Lebensphase nachdenken lassen – und ich bin überzeugt, hier sind wir in die Irre gegangen. Wichtiger als ein „steriles Überleben“ ist es, verbunden zu sein. Leben ist Miteinander, Gemeinschaft und Bezogensein. Ich habe darüber ausführlich in einer Sendung des ORF gesprochen. Hintergrund der Sendung war eine sehr wichtige Fachtagung über die Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen in Vorarlberg, Hospizkultur und Palliativ-Care zu Hause. Dort gibt es in den ambulanten Pflegestationen Palliativbeauftragte, die auch die pflegenden Angehörigen dabei unterstützen sollen, sich für professionelle Hilfsangebote zu öffnen. In Österreich sind 83 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in häuslicher Pflege und Betreuung; das sind aktuell ca. 947.000 Erwachsene und zusätzlich 47.000 Kinder (!) im Alter von fünf bis fünfzehn Jahren. In Österreich sind 83 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in häuslicher Pflege und Betreuung; das sind aktuell ca. 947.000 Erwachsene und zusätzlich 47.000 Kinder (!) im Alter von fünf bis fünfzehn Jahren. 73 Prozent der Pflegebedürftigen nehmen dort keine professionellen Dienste in Anspruch (BMASK, 2016); vielmehr rutschen – in Österreich wie in Deutschland – gerade Angehörige aus Verbundenheit in eine Pflegeaufgabe hinein, ohne bewusste Entscheidungen zu treffen. Und in beiden Ländern gibt es bislang kaum Unterstützung für pflegende Kinder und Jugendliche. In Deutschland sind unter den pflegenden Angehörigen 479.000 (!) Kinder und Jugendliche, die sich beispielsweise um ihre psychisch kranken Eltern kümmern. Die vom Bundesfamilienministerium für diese Gruppe eingerichtete Website Pausentaste präsentiert immerhin Erfahrungsberichte, Lesetipps und Beratungsangebote.

Die EKD-Schrift Einander-Nächste-Sein in Würde und Solidarität beleuchtet in meinen Augen sehr genau und differenziert, wie Pflege, wie letztlich unser Sozialstaat weiterentwickelt werden muss, damit Menschen auch im Angewiesensein ihre Selbstbestimmung behalten können. Die Tagung Care und Gerechtigkeit untersucht am 9. September in Wien, wie diese beiden großen gesellschaftlichen Anliegen miteinander verbunden werden können, und ich freue mich, mit einem Vortrag dabei zu sein. Als zukunftsweisend erscheint mir auch das Projekt See me. Der Name ist Programm, denn es geht darum, in älteren Menschen nicht allein ihre Bedürftigkeit zu sehen, sondern sie als Menschen mit all ihren Potenzialen, Sehnsüchten und Träumen zu sehen – so, wie doch jeder Mensch gesehen sein will.

Aber dies umzusetzen, dafür fehlt im Pflegealltag leider allzu oft der Raum. In ihrem Buch I’m a nurse. Warum ich meinen Beruf als Krankenschwester liebe – trotz allem beschreibt Franziska Böhler eindrücklich, unter welchem Druck die professionelle Pflege steht – nicht zuletzt auch wegen der unerträglichen Widersprüche zwischen Selbstverständnis und Erfahrung der Realität. In einer Umfrage haben 91 Prozent der befragten Ärzt*innen und Pflegenden angegeben, Übertherapie erlebt zu haben: Sie wollten Menschen helfen und erzeugten stattdessen Leid, gaben Sondennahrung, mobilisierten, beatmeten – und hatten dabei das Gefühl, gegen die Interessen der Patient*innen zu handeln. Neben Mangel an Zeit und zu niedrigen Gehältern ist diese Erfahrung des „moral hazard“ wohl einer der wichtigsten Gründe, den Beruf zu verlassen. Und es ist ja wahr: In unserem hoch ausdifferenzierten und durchaus wettbewerbsorientierten Gesundheitssystem entstehen teilweise Dynamiken, die mehr von finanziellen Interessen als von den Bedürfnissen und Wünschen der Patient*innen befördert werden. Und es kann nicht sein, dass Pflegende und Ärzt*innen gegen ihre professionelle Einsicht diesen Dynamiken unterworfen sind.

Am 18. Mai hat der Bundestag über die Sterbehilfe diskutiert. Ich bin froh darüber, wie differenziert sich die Abgeordneten mit dieser schwierigen Frage auseinandergesetzt haben. Doch mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020 ist der Bundestag verpflichtet worden, gesetzlich die Sterbehilfe zu ermöglichen. Wie auch immer das Gesetz aussehen wird, es kann letztlich nicht das Dilemma lösen, vor das Menschen gestellt sind, denen ein anderer seinen Sterbewunsch vorträgt. Wie es gelingen kann, einen Menschen nicht verloren zu geben, der selbst sterben möchte, dieser Frage wollen wir auf einer Fortbildung zur Problematik des assistierten Suizids am 24. Juni nachgehen. Sehr hilfreich erscheint mir auch die Publikation, die Jutta Ataie, Carmen Berger-Zell und Astrid Giebel herausgegeben haben und in der die Autor*innen den Ambivalenzen zwischen Selbstbestimmung und Lebensschutz im Kontext von Beihilfe zur Selbsttötung nachgegangen sind: Leben.

Bei der Tagung Hospizarbeit im Umbruch? Corona, Sorgekultur, Suizidassistenz halte ich am 11. Juni einen Vortrag darüber, wie wichtig Selbstfürsorge für die hospizliche Arbeit ist. Care und Pflege in Zeiten der Pandemie sind auch Thema eines Hospiznachmittags in Fulda am 16. September. Wie viele gute Ideen inzwischen aufblühen und durch kleine Beträge befördert werden können, zeigt ein Projekt des Hospizdienstes Pusteblume in Wuppertal.

Leben mit Demenz war das Thema der diesjährigen Woche für das Leben, die am 1. Mai in Leipzig eröffnet wurde. Das umfangreiche Material lohnt sich anzusehen! Wie wir mit der Demenz eines geliebten Menschen umgehen können, das ist auch Thema auf einer gemeinsamen Tagung von Diakonie und Landessportbund zum Welt-Alzheimer-Tag am 20. September in Frankfurt, bei der ich auch einen Vortrag halten werde. Die langjährige Zusammenarbeit von Diakonie und Sportbund erscheint mir hier besonders fruchtbar und zukunftsträchtig.

Die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus betonte in ihrer Predigt in Leipzig, dass ein Mensch viel verlieren könne: „Sein Gedächtnis, seine Erinnerungen, seine Persönlichkeit, seine Intelligenz, sein Wesen, sein Vertrauen, seinen Glauben, seine Hoffnung, seine Liebe, sogar sich selbst. Gott aber wird diesen Menschen auch dann – und dann erst recht! – nicht verloren geben. Niemals.“ 

Termine

Rundfunksendungen wie meine DLF-Morgenandachten Einfach machen! vom 4. bis 9. Juli oder die Sendung über Gewalt in der Geschichte diakonischer Hilfe am 7. August, Vorträge, Workshops, Seminare – auf meiner Website finden Sie sämtliche aktuellen Termine. Viele Vorträge können Sie auch später nachlesen oder im Audio nachhören. Die generellen Fragestellungen meiner Angebote sowie einige grundlegende Überlegungen dazu habe ich übrigens hier ausführlich entfaltet (Menüleiste rechts).

 

Besondere Orte

Die Möglichkeit, dass wir inzwischen wieder reisen können, habe ich in den letzten Monaten sehr genossen und ich möchte Ihnen wieder einige besondere Orte vorstellen – historisch bedeutsame Orte wie auch Hotels und Tagungshäuser, die ich Ihnen gern empfehle. Weitere Tipps finden Sie auf meiner Website
 

Die alte Synagoge in Erfurt ist eine der ältesten noch erhaltenen Synagogen Europas. Ein schlichter Bau aus dem 11. Jahrhundert, an dem sich doch viel über die Geschichte von Jüd*innen in Erfurt ablesen lässt. Im letzten Jahr reichte die Stadt bei der UNESCO den Antrag ein, ihr jüdisches Erbe in die Liste des Weltkulturerbes aufzunehmen. In diesem Sommer wird darüber entschieden. Das Max Weber Kolleg an der Universität Erfurt hat in seinem Projekt Erfurt. The Blue City ein sehr schönes Buch herausgebracht, das der wechselseitigen Formierung von Religion und Urbanität in der Stadt nachgeht. Es wird gut nachvollziehbar, dass Erfurt im Mittelalter zu den herausragenden Metropolen Europas gehörte. Hier lässt es sich als PDF nachlesen. Blau heißt Erfurt übrigens wegen des Färberkrauts, Waid, das dort angebaut wurde und mit dessen Handel die Stadt zu ihrem Reichtum kam. Noch heute gilt Erfurt als Blumen- und Gartenbaustadt.

Gedenkstätte Esterwegen

Die Gedenkstätte Esterwegen im Emsland erinnert an die dortigen Lager, in denen die Nazis vor allem Menschen aus dem politischen Widerstand gefangen hielten, sie für die Arbeit im Moor und später in sogenannten kriegswichtigen Betrieben ausbeuteten und misshandelten. Zwischen 1934 und 1936 war Esterwegen das zweitgrößte KZ in Deutschland nach Dachau, später wurde es Strafgefangenenlager. In der sehr durchdacht gestalteten Gedenkstätte lässt sich beispielsweise der groteske Gegensatz zwischen den Vergnügungseinrichtungen der dortigen Offiziere und den Unterkünften für die Gefangenen beobachten. Auch die Website des Ortes ist sehr gut aufbereitet. Während ich durch die Gedenkstätte ging, musste ich an die heutigen Widerstandskämpfer denken, die in Lager gesperrt sind, besonders prominent Alexej Nawalny, über den Daniel Roher einen so eindrücklichen Dokumentarfilm gedreht hat. Und auch die sogenannten Umerziehungslager für Uiguren in China, über die wir in den letzten Wochen wieder so fürchterliche Nachrichten und Bilder bekommen haben, standen mir vor Augen. Wie viele Lager und Gefängnisse gibt es wohl schon in der von Putins Truppen besetzten Ukraine?

Ich habe aus Esterwegen eine tolle CD mitgenommen. Die Gruppe Die Grenzgänger spielt darauf Lieder aus den Lagern und aus dem Widerstand, dass es unter die Haut geht: und weil der Mensch ein Mensch ist. Lager Lieder Widerstand.

Ein schöner Tagungsort, den ich noch empfehlen möchte, ist das Haus St. Bernhard in Rastatt. Freundlicher Service, moderne Tagungsausstattung, wundervolles regionales Essen – und natürlich die herrliche Landschaft dort machen das Haus unbedingt empfehlenswert. 

Und nicht zu toppen: Die Natur im Chiemgau, die ich bei einer Tagung im Heißenhof in Inzell genießen durfte. Da passt es, dass in die Fortbildung ein kleiner Fotokurs eingeflochten war: Sehen lernen und zuhören lernen, das gehört eben zusammen.

Und falls Sie mal in Dornbirn in Vorarlberg sind, sollten Sie das Café 21 besuchen. Wir könnten einen ganzen Monat lang täglich dorthin gehen und fänden immer etwas Neues, Begeisterndes für jeden, fand mein Mann!

 

Bücher von Freund*innen

     
  Espresso, das ist die intensive Form von Kaffee: nur ein kleiner Schluck, der doch belebt und uns mit der ganzen Fülle des Aromas umgibt. Auch ein Gottesdienst, so die Intuition der Herausgeber*innen Stephan Goldschmidt, Lars Hillebold und Margit Zahn, kann in kleiner (Zeit-)Menge eine große Dichte entfalten. Das Buch enthält Hinweise für 25 kreative Gottesdienste. Mein Entwurf für den Spätsommer widmet sich der Frage: Wer ist mein Mitmensch?
     
  „Diakonische Kirche werden“, das ist das Thema der neuen Ausgabe der Evangelischen Zeitschrift. In meinem Beitrag „Auf dem Weg zum neuen Wir“ habe ich zentrale Erfahrungen aus der Pandemie reflektiert. 
     
  Ein Projekt, an dem ich besonders gern mitgearbeitet habe: Gemeinsam mit vielen Engagierten sowie mit anderen Autor*innen sind Bernt Renzenbrink und Gerhard Wegner der Frage nachgegangen, was Menschen motiviert, auch im Rentenalter aktiv zu sein und ihre Kompetenzen ehrenamtlich in den verschiedensten gesellschaftlichen Feldern einzubringen. In den Antworten scheint immer wieder etwas sehr Grundsätzliches auf darüber, wie Menschen ihr Sein in der Welt deuten – eben auch jenseits der Erwerbsarbeit. Ein sehr inspirierendes Buch.
     
  Offboarding heißt ein von Angelika Gaßmann herausgegebenes Buch. Das Besondere: Für das Verständnis des Übergangs zwischen Berufsleben und Ruhestand von Fach- und Führungskräften nimmt es sowohl die Perspektive der Unternehmen als auch die der Gehenden in den Blick, sowohl organisationspsychologische und managementbezogene Aspekte als auch die Emotionen der Einzelnen. Unter dem Motto „Sich regen bringt Segen“ habe ich mich mit einem Beitrag zu eigenen Initiativen und Unternehmensangeboten im Übergang an diesem vielschichtigen und für alle Seiten auch praktisch hilfreichen Buch beteilig
     
  Christsein aus Wahrheit und Vernunft, das ist eines der Leitprinzipien von Eberhard Pausch. Die Aufsätze, Predigten und Ansprachen in seinem Buch Offen, links und frei führen mit großer Leidenschaft das Potenzial des Linksprotestantismus vor Augen. Und animieren zum Engagement. Denn, wie er im Motto Karl Popper zitiert: „Die Zukunft ist weit offen. Sie hängt von uns ab. Von uns allen.“ Das Geleitwort schrieb Heike Hofmann, Vizepräsidentin des Hessischen Landtags.
     
  Durch die Coronapandemie ist ein Problem mehr ins Bewusstsein gerückt, das oft übersehen wird: Einsamkeit. Kann Alleinsein ein gewünschter Zustand sein, so erleben Menschen Einsamkeit als schmerzlich. Der von Astrid Giebel, Daniel Hörsch, Georg Hofmeister und Ulrich Lilie herausgegebene Band widmet sich sowohl der Entstehung und der Verbreitung von Einsamkeit als auch möglichen Formen, ihr entgegenzutreten. 
     
  Es ist, bekunden ältere, auch hochaltrige Menschen oft, die Sehnsucht nach Gemeinschaft, die sie die Angebote der „Senior*innenarbeit“ annehmen lässt. Doch wie kann unter Menschen, die sich oft gar nicht kennen, Gemeinschaft entstehen? Susanne Fetzer hat in ihrem Buch zehn Themenentwürfe für solche Treffen zusammengestellt: kreativ und ganz praxisorientiert, beispielsweise auch mit Kopiervorlagen in einem Downloadbereich.
     
  Die Gesellschaft verändern, sich der Ausgrenzung von Menschen widersetzen – das war im 19. Jahrhundert das Werk vieler Frauen, die wir mit Fug und Recht als Vorkämpferinnen des heutigen Sozialstaates betrachten können. Doch die meisten von ihnen sind vergessen. Georg-Hinrich Hammer, ehemals Vorstand im Friedenshort, hat sich auf ihre Spuren begeben – und in ihrer Arbeit auch wichtige Impulse für heutiges Engagement entdeckt. Ich habe das Buch in der Zeitschrift P&S  besprochen.
  Es beginnt schon mit den beiden wunderbaren Worten, die Thomas Mäule als Titel dieses Buchs gewählt hat: Hoffnungsstur und lösungsfinderisch. Sie stammen aus Predigten und Texten von Antonie Kraut, der Gründerin der Evangelischen Heimstiftung, und sie kennzeichnen zugleich eine engagierte Vorkämpferin der sozialen Arbeit. Die in dem Band versammelten Texte können in der Tat Mut machen, wie es im Untertitel heißt.
     
  Im Juli erscheint das Praxishandbuch Biografiearbeit Online, das Teresa Kaya zusammen mit Sylvia Dellemann und Erika Ramsauer herausgegeben hat und das die Chancen der internetgestützten Biografiearbeit herausdestilliert. Ich habe zu dem Buch ebenfalls einen Beitrag geschrieben, bei dem ich die reichen Erfahrungen aus den Onlinegesprächen einbringen konnte, die ich im ersten Coronajahr unter dem Titel Oma trotzt Corona organisiert habe.
     
  Günter A. Menne, mit dem ich vor langer Zeit in Köln zusammengearbeitet habe, arbeitet seit vielen Jahren als Coach. Zugleich ist er ein begeisterter Naturhornspieler. In seinem auch sehr persönlichen Buch bringt er Erfahrungen aus beidem zusammen. Das Üben im Naturhornspiel beschreibt er als – zielfreies – Erkunden der eigenen Möglichkeiten und des eigenen Tons. Diese Hingabe könne einen anderen Menschen aus einem machen. Seine Beschreibungen machen das sehr nachvollziehbar!
     
  Die Aprilausgabe des Hephatamagazins widmet sich dem so grundlegenden wie rätselhaften Phänomen der Zeit. Mit meinem Beitrag für das Heft habe ich mich der Spannung ausgesetzt zwischen dem wahren Zeitdruck, der durch die aktuellen klimatischen und gesellschaftlichen Herausforderungen auf uns lastet, und dem Bedürfnis nach einem ganz eigenen Rhythmus, das wir ebenfalls verspüren. Wenn Sie mögen, schauen Sie doch mal rein, das Heft ist auch online verfügbar

 

Von der Sehnsucht

Vom blauen Erfurt war schon die Rede. Auch wenn die Waidpflanze nichts damit zu tun hat – ich habe dort öfter an die blaue Blume der Romantik denken müssen. Wir begehen in diesem Jahr den 250. Geburtstag von Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, besser bekannt als Novalis. In seinem Geburtshaus, Schloss Oberwiederstedt im Südharz, gab es aus diesem Anlass eine große Veranstaltung samt Neueröffnung der Museumsausstellung. Der ehemalige rheinische Präses Peter Beier, in den 1990er Jahren mein Chef im Landeskirchenamt, hielt seine Ehrendoktorrede an der Uni Bonn zu Novalis‘ Schrift „Die Christenheit und Europa“. „Novalis erinnert beharrlich daran, daß Europa, soll es je werden, den Traum bewahren muss, der in den Bildern seiner Geschichte atmet“, sagte er damals. Viele Jahre hatten wir seitdem den Eindruck, die Vision von einem neuen Europa spiele keine Rolle mehr – bis jetzt, wo so viele Staaten sich zugehörig fühlen zu diesem Raum des Rechts und der Freiheit – von der Ukraine über Moldau und Belarus bis nach Georgien. Die Verleihung des Karlspreises an die belarussischen Oppositionspolitikerinnen und Kämpferinnen gegen die Diktatur in ihrem Land Maria Kalesnikava, Svetlana Tichanowskaja und Veronica Tsepcalo erscheint mir als ein großes Zeichen – in Richtung Belarus, aber auch für die eigentlichen Werte Europas.

Novalis strebte nach Harmonie von Mensch und Natur, Kunst und Wissenschaft. Vielleicht kann man viele der heutigen Künstler*innen, die sich mit unserer Umwelt auseinandersetzen und dabei die (natur-)wissenschaftliche Recherche zum Ausgangspunkt für die Arbeit mit ihren künstlerischen Mitteln nehmen, in seiner Nachfolge verstehen. 

Darauf werde ich jedenfalls achten, wenn wir die Biennale in Venedig besuchen, die wir immer als inspirierend erleben. Diesmal wird uns vermutlich wie so viele andere der „Brunnen der Erschöpfung“ anziehen, den der ukrainische Künstler Pavlo Makov für den ukrainischen Pavillon gestaltet hat. Nicht nur die fossilen Energiereserven sind erschöpft, auch viele andere Kräfte des Zusammenhalts und der Hoffnung. Die Kunst kann diese Wahrheit ausdrücken und doch geht von ihr eine eigene Kraft aus, die diese Wirklichkeiten übersteigt. Für mich hat das auch etwas Pfingstliches, denn Pfingsten: Das ist das volle Leben, ist Traum und Gesang und die Kraft zur Veränderung der Wirklichkeit.

 

Ich wünsche Ihnen frohe Pfingsten!

Ihre Cornelia Coenen-Marx
Seele und Sorge GBR
Impulse – Workshops – Beratung

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Zum Abschluss wieder ein Gedicht – oder vielmehr der Anfang eines Gedichts. Es stammt von Serhij Zhadan, einem der bedeutendsten Autoren der Ukraine. Er lebt – noch immer – in Charkiv. 

Die paar Wochen, 

wenn man dem

rotgelben Blättersterben zusehen kann.

Die Bäume stehen da wie Krebskranke –

schon jetzt ist klar, wie alles endet,

schon jetzt lässt sich alles erahnen,

schon jetzt weiß man, dass der Tod gewinnt,

er aber später 

doch weichen muss.

Serhij Zhadan

Das vollständige Gedicht finden Sie als Nummer 7 in dem Band Antenne, der 2020 bei Suhrkamp erschien. Alle Texte wurden von Claudia Dathe ins Deutsche übertragen.
Übrigens finden Sie einige von Serhij Zhadans Gedichten – sowie viele weitere – auch auf der wunderbaren Website lyrikline.org: schriftlich im Original und in deutscher Übersetzung, zum Hören gelesen vom Autor selbst im Original. 

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