Haben Sie auch Armanda Gorman gesehen, wie sie ihr Gedicht „The hill we climb“ vortrug bei der Amtseinführung von Joe Biden? In ihrem gelben Kleid, mit ihrer starken Ausstrahlung? Es sei darin Raum für Trauer und Schrecken, für Hoffnung und Einigkeit, sagte sie später über ihr Gedicht – und hoffentlich auch Atem für Freude, denn es gebe etwas zu feiern. Ich denke, das alles ist tatsächlich enthalten in ihrem Gedicht. Es hat nicht lange gedauert, bis das Gedicht in aller Welt übersetzt und das Übersetzen selbst zum Thema wurde. Kann nur gut übersetzen, wer die Herkunft des oder der anderen kennt? Wer dieselbe Krisensituation erlebt, dieselbe Perspektive gewonnen hat? Marieke Lucas Rijneveld, eine weiße Übersetzerin aus den Niederlanden, trat von ihrem Auftrag zurück, weil manche meinten, nur eine junge schwarze Frau sei kongenial. Und der deutsche Verlag Hoffmann und Campe setzte gleich ein Team von drei Frauen an die Arbeit: die Übersetzerin Uda Strätling und die Politikwissenschaftlerinnen Hadija Haruna-Oelker und Kübra Gümüşay. Seitdem wird darüber diskutiert, ob dieses Teamwork mit dem Original mithalten kann. Und ob Übersetzen nicht gerade darin besteht: dass jemand sich bewusst in die Welt eines ganz anderen Menschen begibt und damit den Brückenschlag wagt, den wir alle immer wieder wagen müssen, um zu verstehen. Wenn unsere Gesellschaft nicht ganz in einzelne Blasen, ja in Singularitäten zerfallen soll, dann braucht es Dolmetscherinnen und Dolmetscher. Als die Debatte auf dem Höhepunkt war, fiel mir ein, dass ich beim Predigen auch nichts anderes versuche, als die Texte von gebildeten Männern aus anderen Zeiten und Kulturen in die Gegenwart zu übersetzen – und die darunter liegenden, oft verschwiegenen mündlichen Stimmen von Frauen und Tagelöhnern dazu. Und dass nicht nur die „Bibel in gerechter Sprache“ ein Gemeinschaftswerk ist. Ob es daran liegt, dass die Lutherbibel, die ja längst regelmäßig von einer großen Übersetzer*innengruppe revidiert wird, einen so besonderen Stellenwert in der evangelischen Kirche hat? Ohne Frage, Martin Luther war ein genialer Übersetzer. Seinen großen Moment in Worms, nach dem er auf der Wartburg gefangen gehalten wurde und sich an sein Übersetzungswerk machte, haben wir gerade gefeiert. Würde allerdings sein Text von 1517 heute im Gottesdienst vorgetragen, wären sicher viele befremdet, manches wäre kaum zu verstehen.
Ohne Inspiration und die Bereitschaft, das „Eigene“ zu verlassen, geht es wohl nicht. Es bleibt ein Wagnis, sich auf das ganz andere einzulassen. Aber genau das ist es, was das Pfingstfest ausmacht. Denn da „kam die Menge zusammen und wurde verstört, denn ein jeder hörte sie [die gottesfürchtigen Männer aus allen Ländern] in seiner eigenen Sprache reden. […] Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: […] Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner Muttersprache? […] Parther und Meder und Elamiter“, heißt es in der Apostelgeschichte (Apg 2,6–8 Lutherbibel 2017). Dass wir einander wirklich verstehen, obwohl wir verschiedene Sprachen sprechen, verschiedene Herkünfte und Perspektiven haben, das bleibt ganz offenbar ein Werk des Heiligen Geistes. Und ich wünsche mir diese Geistkraft für unsere manchmal so schwierigen, ja hasserfüllten Debatten um Identitäten.
Ums Übersetzen, Verstehen, Differenzieren – darum, Gemeinschaft und Verschiedenheit zu erkennen, ging es auch in der ökumenisch verantworteten Kampagne #beziehungsweise jüdisch und christlich – näher als du denkst, die ich in der Passionszeit und zu Pessach auf Facebook verfolgt habe. Und jetzt, während des Ramadans, ist die Zeit, den Blick auf die Moscheen in der Nachbarschaft zu richten. Geschätzte 2.600 muslimische Gebetsräume gibt es in Deutschland. Auf www.moscheepedia.org besucht Constantin Schreiber Gebetsräume, hört Predigten, spricht mit Menschen in den Moscheegemeinden. Papst Franziskus hat als erster Papst den Irak besucht und es fand ein echter Dialog statt. Bei all dem geht es ja nicht um „Toleranz“, sondern um Verstehen und um Lernen.
„Wir sind auf dem Weg nicht allein, sondern [unterwegs] mit Abermillionen anderer Menschen aus allen möglichen Konfessionen und Religionen, die ihren eigenen Weg gehen, mit denen wir aber, je länger, desto mehr in einem Kommunikationsprozess stehen, wo man […] unendlich lernbereit, von der Wahrheit der anderen aufnehmen und von der eigenen Wahrheit mitteilen sollte. […] Sicher ist nur das eine: am Ende des Menschenlebens wie des Weltenlaufs werden nicht Buddhismus oder Hinduismus stehen, auch nicht der Islam oder das Judentum. Ja, am Ende steht auch nicht das Christentum. Am Ende wird überhaupt keine Religion stehen, sondern steht der Unaussprechliche selbst“, schrieb der soeben verstorbene Theologe Hans Küng in einem Text über die Wahrheit der Religionen.
Sehnsucht nach Gemeinschaft – Mein neues Buch
„Die Neuentdeckung der Gemeinschaft“ erzählt von gesellschaftlichen Brüchen und von Transformationen in Familie, Arbeitswelt und Nachbarschaft, die viele Menschen einsam werden lassen. Davon, wie all das durch die Coronapandemie noch stärker spürbar wurde. Und wie es sich mit einer großen Sehnsucht nach Gemeinschaft verbindet. Vor allem aber erzählt es von unterschiedlichsten Projekten, vielfach auch in kirchlichen und diakonischen Zusammenhängen, mit denen neue Gemeinschaften gestiftet werden. „Es gibt neue Entdeckungen in diesem Feld, die uns optimistisch stimmen können“, schreibt Beate Hofmann, die Bischöfin von Kurhessen-Waldeck, in ihrem Vorwort. Sie hebt einige Themen des Buchs heraus, die sie und mich schon vor zwanzig Jahren zusammenführten, unter anderem: „[…] welche Rolle und Zukunft haben diakonische Gemeinschaften als besondere Form der gemeinsam gestalteten Spiritualität und Verantwortung?“ Wenn Sie mehr erfahren möchten und reinhören in das Buch, dann sind Sie herzlich eingeladen zur Lesung am 21. Mai von 18:30 bis 20:30 Uhr, veranstaltet von bildung-evangelisch in Erlangen – wegen der Pandemie im Netz. Renate Abeßer und Christine Falk, die die Lesung veranstalten werden, haben mir auch ein Interview für das Buch gegeben. Auszüge aus Renate Abeßers Antworten können Sie im Kraftorte-Blog auf meiner Website lesen, demnächst dann auch den Input von Christine Falk. Am 30. Juni zwischen 14 und 15 Uhr bin ich mit meinem Buch zu Gast bei „Einschalten“, einem Onlineangebot vom Haus kirchlicher Dienste Hannover zu Themen, die die Gesellschaft in Hinblick auf das Älterwerden beschäftigen – eine schöne Fortsetzung der Zusammenarbeit mit Dr. Dagmar Henze unter anderem in meinem Projekt Oma trotzt Corona vom letzten Sommer.
Es ist immer eine riesige Freude, wenn das Buch, an dem ich über Monate gearbeitet habe, fertig gedruckt bei mir ankommt. Jetzt ist es nicht mehr nur ein Text, elektronisch auf dem Laptop und schnell einmal entschwunden – jetzt ist es physisch greifbar. Wunderbar, so ein Paket zu öffnen und neue Päckchen zu packen – für Mitstreiter*innen, Interviewpartner*innen und andere, denen ich danken will. Wenn Sie übrigens Lust haben, eine Rezension zu schreiben – und einen Platz, wo sie veröffentlicht werden kann –, dann melden Sie sich gern bei mir wegen eines Rezensionsexemplars. Sehr gern stehe ich auch für Lesungen und Gespräche zur Verfügung, je nach Lage online oder bei Ihnen vor Ort.
Alter = Einsamkeit?
„Alt, na und?“ heißt das Buch von Erika Fischer, in dem sie von Altersdiskriminierung erzählt, aber auch von den vielen neuen Möglichkeiten des Älterwerdens. Schließlich werden viele von uns gesund, aktiv und glücklich älter. Davon handelt unter anderem die Initiative nichtgrau. Aber eben, es gibt auch die Schattenseiten, die gerade in der Coronakrise so deutlich werden. Eine davon ist Einsamkeit. Auch deshalb ist die Neuentdeckung der Gemeinschaft ein so wichtiges Thema. Aus einer 2012 in England durchführten Studie mit über 7.000 Erwachsenen geht hervor, dass Teilnehmende, die an Depressionen litten, mit zehnmal höherer Wahrscheinlichkeit einsam waren als nicht depressive, während eine wegweisende US-Studie ergab, dass Patient*innen, die sich als einsam bezeichneten, fünf Jahre später mit größerer Wahrscheinlichkeit depressiv waren. Davon berichtet Noreena Hertz in ihrem Buch „Das Zeitalter der Einsamkeit – über die Kraft der Verbindung in einer zerfaserten Welt“. Der Weg hinaus aus all dem, meint auch sie, führt über wechselseitige Unterstützung: „In diesem Zeitalter der Einsamkeit ist es maßgeblich, dass Menschen sich nicht nur umsorgt fühlen und umsorgt sind, sondern dass sie auch Gelegenheit haben, für andere zu sorgen.“ Dazu müsse die Politik sozialstaatliche Strukturen so ändern, dass es Menschen einfacher möglich wird, einander zu helfen. Und auch ein kultureller Wandel sei nötig: Fürsorglichkeit, Freundlichkeit und Mitgefühl müssten aktiv gefördert und deutlicher belohnt werden. In den letzten Jahrzehnten seien sie nicht nur unterbewertet, sondern auch unterbezahlt worden. Unwillkürlich denkt man wieder an das Klatschen für die Pflegekräfte im letzten Frühjahr. Diana Kinnert hat mit „Die neue Einsamkeit. Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können“ ebenfalls ein spannendes Buch zum Thema vorgelegt. Auch sie meint, Corona lege lediglich offen, woran das Gemeinwesen schon länger erkrankt sei. Die alten Strukturen der Begegnungen schienen verbraucht, das Zwanglose sei zur allgemeingültigen Umgangsformel geworden, menschliche Beziehungen flüchtig. Der Stones-Song „Living in a Ghost Town“ und die Bilder von Edward Hopper illustrieren dieses Lebensfühl.
Tatsächlich fühlen sich manche jetzt in der Coronakrise wie lebende Tote, durch Kontaktbeschränkungen und häusliche Quarantäne ins Niemandsland geraten. Nicht nur der gewohnte Alltag mit seiner Tagesstruktur, auch die Zukunft entzieht sich. Eine Welt verschwindet. Darum geht es in dem Kunstprojekt Archiv der lebenden Toten.
Vielleicht können wir aber den digitalen Raum noch mehr nutzen, um Einsamkeit zu überwinden, uns auszutauschen und am Leben teilzunehmen? Das ist gerade auch für Ältere eine wichtige Frage. Bei der Onlineveranstaltung der Evangelischen Akademie im Rheinland Das Internet hat noch viel Raum am 28. April werde ich einen Impuls dazu geben: „Zerbrechlich. Endlich. Souverän“. „Wenn das Gedächtnis nachlässt, ist Google der beste Freund“, heißt es in Erica Fischers „Alt, na und“. Und auch Projekte zur digitalen Nachbarschaft auf dem Dorf wie Digitale Dörfer oder Dorf.Zukunft.Digital schaffen Verbindungen für die, die schon fürchteten, auf dem Abstellgleis zu sein. Um die Chancen und Perspektiven der Babyboomer drehte sich eine Netzwerkstatt mit der Fachstelle zweite Lebenshälfte in Kassel, die Sie als Video nacherleben können. Die Kirche im Sorgenetz thematisierte die kurhessische Bischöfin Beate Hofmann im Interview mit der Netzwerkstatt der Fachstelle. Was Gemeinden mit ihren Besuchsdiensten dazu beitragen können, Menschen miteinander zu verbinden, darum geht es mir in einem Artikel für das Besuchsdienstheft Unterwegs zu Menschen, das in diesen Tagen erscheint. „Sorgen teilen – Gemeinschaft pflegen“ nenne ich meinen Text. Der Frauentag der Evangelisch-lutherischen Kirche in Oldenburg, der am 26. Juni digital stattfindet und bei dem ich referieren darf, hat mit „Alleine einzigartig, gemeinsam stark“ ein Motto gefunden, das die Lust am Selbstsein und die Freude an der Gemeinschaft verbindet. Noch einen Schritt weiter gehen die neuen Wohnprojekte, Seniorengenossenschaften und Mehrgenerationenhäuser. Das beginnt manchmal einfach mit einem leer stehenden Haus und Menschen, die ein anderes Miteinander leben möchten. Aktuell höre ich von einem alten Forsthaus im Wendland. Vielleicht haben Sie Interesse?
Von der Praxis der Quartiersarbeit erzählen auch der Newsletter von Aktiv altern in NRW sowie die Ehrenamtsbörse Schwelm. In großem Maßstab und an vielen Orten findet wieder der Tag des Nachbarn am 28. Mai statt – Sie können sich noch beteiligen. Das Bündnis für gute Nachbarschaft in Niedersachsen ist in meinen Augen ein tolles Beispiel, wie sich Kräfte bündeln lassen für ein besseres Leben im Quartier.
Egal wie alt Menschen sind – eine elementare Grundlage für das Leben jeder* Einzelnen, für Familien, für lebendige Städte ist bezahlbarer Wohnraum. Nachdem das Bundesverfassungsgericht den Berliner „Mietendeckel“ aus Zuständigkeitsgründen gekippt hat, bezieht auch die Kirche Stellung und fordert: Wohnen muss bezahlbar bleiben. Auf Facebook findet dazu auch eine wichtige Debatte über die Rolle der Kirche selbst als Akteurin auf dem Immobilienmarkt statt.
Die BAGSO, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen, hat uns gerade Wahlprüfsteine hingelegt: Fragen an Politiker*innen, in denen es darum geht, inwieweit sie sich für eine demokratische, offene Gesellschaft einsetzen, in der die Anliegen der älteren Generation berücksichtigt werden. In meinen Augen eine wunderbare, selbstbewusste und zielgerichtete Aktion fünf Monate vor der Bundestagswahl.
Muss es eine besondere Arbeit mit Älteren geben oder ist es wichtiger, die Engagierten in der Quartiersarbeit zu stärken und Generationendialoge anzubieten? Auffällig ist, dass in den Kirchen zurzeit viel in Projekte in Kinder-, Jugend- und Quartiersarbeit investiert wird, während die sogenannte „Altenarbeit“ ins Hintertreffen gerät. Gut so? Oder ist es ein problematisches Symptom einer Zeit, in der die Alternsbilder der Vergangenheit wieder Konjunktur haben? Wir werden darüber diskutieren beim Studientag des Dekanats Wetterau am 9. Juni, bei dem ich ein Impulsreferat halten werde: „Älter werden, Gemeinde leben- wird alles anders, wird alles neu“.
„Wenn es hart auf hart kommt, sind wir auf andere angewiesen“
Mein Buch der Stunde kommt von Thea Dorn. „Trost“ ist ein Buch für alle Untröstlichen. Ein Coronabuch. Es erzählt die Geschichte von Johanna und ihrer Mutter, einer Kuratorin, die sich auf einer spannenden Italienreise mit dem Virus angesteckt hat und nun einsam im Krankenhaus stirbt. Johanna verzweifelt, sie wütet, schreibt Briefe an einen philosophischen Freund. „Der Tod ist ein Inbegriff von roher, absoluter Macht“, schreibt Johanna. Sie spricht von einem Skandal, einer unerträglichen Ungerechtigkeit. Dass sie sich nicht verabschieden konnte, nicht noch einmal mit der Mutter sprechen – viele haben das so empfunden in diesem Jahr. Mehr als 80.000 Menschen sind an oder mit dem Virus gestorben, die allermeisten im Krankenhaus, auf der Intensivstation, im Pflegeheim. Ob Menschen wegen Corona oder aus anderen Gründen starben – viel zu oft waren sie allein, Angehörige fühlten sich ausgesperrt. Das alles hätte ich mir bis vor einem Jahr nicht vorstellen können. Vierzig Jahre nach Beginn der Hospizbewegung reden wir vor allem über die Auslastung des Gesundheitssystems, über Intensivbetten und Beatmungsgeräte, Medikamente und Hochleistungsmedizin, wenn wir über das Sterben sprechen. Es geht um Statistiken. Gefühle wie Angst und Einsamkeit haben wenig Platz, auch Trauer nicht. Umso wichtiger war die Gedenkveranstaltung am 18. April, die der Bundespräsident initiiert hatte. „Wenn es hart auf hart kommt, sind wir auf andere angewiesen und andere auf uns! Diese Lehre wird uns prägen und sie kann auch die Gesellschaft prägen, in der wir leben werden, die Zukunft, in die wir aufbrechen“, sagte Steinmeier und sprach sicherlich nicht nur mir aus der Seele.
Trost lag für mich in den letzten Wochen auch wieder in der Passionsgeschichte. Da findet der Tod nicht hinter verschlossenen Türen statt, sondern öffentlich, auf Golgatha. Da hat der Schmerz seinen Platz, die Schreie und die Tränen. Wie fremd uns das geworden ist, reflektiert Byung-Chul Han in seinem Buch über die „Palliativgesellschaft“. Han meint gerade nicht eine Gesellschaft, die das persönliche Sterben bewusst begleitet, sondern eine, die sich abgeschottet hat gegen Schmerz und Trauer, Verletzlichkeit und Endlichkeit: „Die Palliativgesellschaft erweist sich als eine Gesellschaft des Überlebens, sie entpolitisiert den Schmerz, indem sie ihn medikalisiert und privatisiert.“ Auch jenseits von Corona findet der Tod ja hinter verschlossenen Türen statt, delegiert an Expert*innen. Die Einsamkeit, die fehlende Erfahrung der Nähe wirke aber wie ein Verstärker der Schmerzen. Was politisch wie kulturell geschehen müsste, damit mehr Menschen zu Hause sterben können – denn das wünscht sich die Mehrheit der Bevölkerung –, darum ging es mir in meiner DLF-Sendung zum „Sterben in der Nachbarschaft – noch immer ein Tabu?“, die Sie hier noch hören können.
Was es tatsächlich bedeutet, einen Angehörigen über lange Jahre zu pflegen, davon erzählt Gabriele von Arnim in ihrem Buch „Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“. Die Versuche, den anderen „sein zu lassen“, ihn als Subjekt zu denken, auf dem Grat zu wandern zwischen unvermeidbarem Despotismus und couragierter Hingabe, das alles schildert die Autorin zutiefst berührend. Welche Bedeutung Selbstsorge in der Fürsorge hat und was dabei hilft, das ist auch Thema der Fachtagung Demenz der Hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheit HAGE am 11. Mai. Pflegearbeit und Sorge werden chronisch unterschätzt – doch das Ausmaß dieses Dilemmas ist gerade seit Ausbruch der Pandemie deutlich zu spüren. Wie fantasievoll, dies in den Städten einmal sichtbar zu machen! Am 8. März, dem Internationalen Frauentag, wurden in Leipzig und Hamburg zeitweise Plätze in „Platz für Sorge“ umbenannt. Die genauen Inhalte de Kampagne können Sie hier nachlesen.
Mein ehemaliger Kollege Siegfried Räbiger beim Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe macht einen Vorschlag für die Quartierspflege, der gute Erfahrungen aus der Zeit der Gemeindeschwestern wieder aufnimmt. Und die Robert-Bosch-Stiftung bringt das Konzept Community Health Nursing gerade voran. Wer einen breiteren Überblick haben möchte: Die Handreichung der Diakonie Hessen zur Fürsorge am Lebensende, an der ich mitgearbeitet habe, reflektiert die Herausforderungen der Pflege zu Hause und in den Einrichtungen nicht nur unter Coronabedingungen. Sie geht dabei auch auf das schwierige Thema des assistierten Suizids ein. Thomas Mäule, Ethikbeauftragter der Evangelischen Heimstiftung, hat zum Todeswunsch am Lebensende einen Beitrag aus der Palliative-Care-Perspektive geschrieben. Mit einer sehr besonderen Ausstellung von künstlerischen Mänteln von Astrid J. Eichin haben die Franziskanerinnen in Schwäbisch Gmünd im Frühjahr zu öffentlichen Informationsveranstaltungen für das entstehende Kloster-Hospiz eingeladen. Am 21. April ab 19 Uhr läuft ein Film über das Projekt als Livestream bei der Onlinemesse „Leben und Tod“. Wie wir im Sterben dem Leben näherkommen, darum ging es auch bei der ökumenischen „Woche für das Leben“, die am 17. April mit einem Gottesdienst in Augsburg eröffnet wurde. Hier finden Sie den sehr engagierten Beitrag der beiden Kirchen mit Aussagen zahlreicher weiterer Akteure zu diesem Thema. In diesem Zusammenhang freut mich auch, dass Traugott Roser, Münster, für seine Arbeit im Bereich Diakoniewissenschaft und insbesondere Spiritual Care mit dem diesjährigen Wichern-Sonderpreis ausgezeichnet wurde – herzlichen Glückwunsch!
„Bleiben Sie gesund!“ – Wie geht das eigentlich?
„Bleiben Sie gesund!“, diesen Satz lese ich nun oft in Mails und Briefen. Und ja, natürlich versuche ich mich und andere zu schützen, indem ich all die Sicherheitsmaßnahmen befolge, Maske trage, physischen Abstand halte usw. Und ich merke dabei, wie wichtig es mir gerade jetzt ist, auch im weiteren Sinne für mich zu sorgen, etwa durch Yoga, Walken und Grooven. Denn immer nur Lesen, Schreiben, Zoomen, immer nur „Im-Kopf-Sein“, zieht uns ja weg von der unmittelbaren Selbstsorge. Doch ich merke: Mindestens ebenso sehr wie um mein eigenes Wohlsein sorge ich mich um das von Menschen, die mir lieb sind und die sich vielleicht weniger schützen können. In meinem aktuellen Blog bin ich diesen Gedanken weiter gefolgt.
Kirche in Bewegung
Die Kirchengebäude bleiben leer, die Gottesdienste fanden sogar zu Weihnachten und Ostern online statt. Die vertrauten Rituale fehlen also. Und außerdem, lese ich, habe die Kirche zu wenig zu sagen zur Deutung der Pandemie, zur Orientierung in diesen Zeiten. Das Vertrauen schwindet, die Mitgliederzahlen sinken weiter und mit ihnen die Einnahmen aus der Kirchensteuer. Verändert die Coronakrise die Kirche auf Dauer – oder verstärkt sie nur, was ohnehin im Gange war? Fragen, die sich auch die Konrad-Adenauer-Stiftung im Märzheft von Die politische Meinung, „Corona chronisch? Ein Jahr Pandemie“, gestellt hat. Unter dem Titel „Nah bei den Menschen“ durfte ich einige Überlegungen beisteuern. Aktuell war es die „zivilreligiöse“ Feier des Bundespräsidenten mit Kerzensymbolen und „Testimonials“ der Angehörigen, die viele Menschen zur Trauer versammeln konnte. Der ökumenische Gottesdienst, der ihr am Morgen vorausging, bezog zwar Avitall Gerstetter, Kantorin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, und Esnaf Begic, den Vorsitzenden des Islamkolleg Deutschland e.V. (IKD), ein, doch im Zentrum blieb es ein christlicher Gottesdienst. Mit dem Rückgang der Mitgliederzahlen stellt sich die Frage neu, welche Rolle Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften bei solchen Ritualen spielen können. Eine empirische Untersuchung vor allem in den deutschsprachigen Ländern Europas, bei der 6.500 Seelsorger*innen befragt wurden, zeigt allerdings, welche neuen Chancen sich an der Basis der Kirchen entwickelt haben. Dazu sagen Thomas Schlag und Ilona Nord auf feinschwarz.net: „Von einer angstvollen Paralyse pastoralen Handels kann ebenso wenig die Rede sein wie von einem stillen Kirchenrückzug aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen.“ Und es stimmt: Bei uns fielen die Präsenzgottesdienste aus, aber die Zeitung war voll von den neuen Angeboten: digitale Gottesdienste, Veranstaltungen draußen, Chatseelsorge. Ich entdecke immer mehr originelle Formen, die von viel Kreativität der Macher*innen zeugen und sicherlich auch bei den Adressat*innen neue Energien freisetzen können, beispielsweise die Podcastserie mit dem tollen Titel Frischetheke. Dem Thema Digitales widmet sich übrigens auch – in der Form von zehn Geboten! – die aktuelle Denkschrift der EKD, deren Veröffentlichung von einer hochkarätig besetzten Veranstaltungsreihe begleitet wird. Aber es sind nicht nur digitale Projekte, die neuen Wind bringen, sondern auch die Hinwendung zum Sozialraum und zu den Ehrenamtlichen. Nach meinem Eindruck wird dabei die Seelsorge neu entdeckt, indem die Ehrenamtlichen in ihrer Kompetenz als Seelsorgende ernst genommen und gestärkt werden, zum Beispiel mit dieser Fortbildung. Wie diese Seelsorge dann konkret aussehen kann, habe ich gerade auf Facebook verfolgt, sehr inspirierend!
Ob Kirche Ehrenamt kann, darum ging es am 13. März beim Tag der rheinischen Presbyterien, bei dem ich den Eröffnungsvortrag halten durfte. „Wie engagierst du dich?“ fragt auch die Initiative Offene Gesellschaft und stellt besondere Persönlichkeiten, Knalleffekte und Aha-Momente vor. Der aktuelle Freiwilligensurvey der Bundesregierung bestätigt: Es engagieren sich zehn Prozent mehr Menschen ehrenamtlich als noch vor fünfzehn Jahren. In Niedersachsen gibt es aktuell die Gelegenheit, die eigenen Erfahrungen aus ehrenamtlicher Arbeit sowie Vorstellungen über bessere Bedingungen einzubringen: Bis zum 28. Mai können Sie sich hier an der Umfrage der vom Niedersächsischen Landtag eingesetzten Enquetekommission beteiligen. Möglichkeiten der Vernetzung zwischen Kirche und Zivilgesellschaft wurden gerade in Kassel greifbar, wo Bischöfin Beate Hofmann gemeinsam mit der Neuen Denkerei drei Workshops zum „Weiterdenken nach Corona“ initiierte.
Wie es gelingen kann, Kirche familienfreundlich zu gestalten, dafür werden viele neue Ideen entwickelt in einem Projekt in Erlangen, bei dessen Auftakt ich mitmachen durfte. Die Ergebnisse sind jetzt in einem Werkstattheft dokumentiert. Herausforderungen, Erfahrungen und Bedarfe für Familien in Coronazeiten sind gerade sehr gut beschrieben worden in einer Publikation des Bundesfamilienministeriums. Ein noch größeres Bild der Situation der Familien schildert der im März erschienene Neunte Familienbericht, der insbesondere auf die Themen Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Bildungsgerechtigkeit sowie wirtschaftliche Sicherheit eingeht.
Welche Bedeutung Kirche in der Krise haben kann, diese Frage beschäftigt mich weiter. Für die Diakonie hat Thomas Mäule sehr inspirierend formuliert: „Diakonie heißt Vorausschau, vorwärtsweisende Dynamik. Darin steckt ein kritisches, provozierendes Potenzial, das nicht immer und von allen gerne gesehen wird. Gerade die Corona-Pandemie und vor allem die praktische und politische Gestaltung von Maßnahmen hat vielmals die Frage gestellt: ob Diakonie es mit der Umsetzung von Regelungen und Schutzkonzepten genug sein lässt – oder ob sie sich selbst – durch die kontrafaktische Kraft ihrer Ideale und Ziele – nach vorwärts reißen lässt und andere mitzieht, anstatt dass sie selbst nur Getriebene und Gezogene ist.“
Ich bin sicher: Biblische Bilder können uns in den aktuellen Auf- und Umbrüchen der Kirche leiten. In einer digitalen Klausur, die ich am 2. Juli mit dem katholischen Stadtdekanat in Köln – dort sind die Zerreißproben besonders hart – gestalten darf, wollen wir sie erkunden. Und eine Tagung der Kirchenvorstände aus St. Gallen fragt am 21. August nach der besonderen Aufgabe der Kirchengemeinden als Caring Communities im Sozialraum – und nach dem, was darin trägt. Sozialräume sind dann auch Thema beim Kongress Wir & Hier der EKD, der pandemiebedingt zweimal verschoben werden musste: „Gemeinsam Lebensräume gestalten“. Darum geht es am 11. August auch im Pfarrkonvent Berlin Nordost, bei dem ich referieren darf – vielleicht ja sogar tatsächlich vor Ort im Quartier.
In diesen Wochen denke ich dankbar an Jürgen Keuper, den ehemaligen Superintendenten des Kirchenkreises Gladbach-Neuss, der mich vor vierzig Jahren in meine erste Pfarrstelle einführte – die inzwischen wieder aufgehoben ist. Aber der Wickrather Gemeindeladen, der in dieser Zeit gegründet wurde, lebt in ökumenischer Trägerschaft fort. Jürgen Keupers Arbeit stand für Aufbau und Umbau, neue Strukturen in Kirche, Diakonie und Bildung – inzwischen geht es wieder um Konzentration in rasanten Zeiten. Am 18. März ist Jürgen Keuper gestorben.
Die genauen Angaben zu meinen hier erwähnten Vorträgen, Workshops und sonstigen Veranstaltungen sowie weitere Termine finden Sie auf meiner Homepage bei den Terminen.
Neue Bücher von Freund*innen