„May you live in interesting times“, das soll ein chinesischer Fluch sein. Öfter wurde das Zitat aufgegriffen, zuletzt sehr sichtbar bei der Venedig-Biennale von 2019. Die Zeiten sind seither sicherlich noch viel schwieriger geworden. Doch der zurückgenommene Gestus leuchtet mir ein: der Simplifizierung wie der Furcht und nicht zuletzt der hektischen Skandalisierung entgegenzutreten mit ruhigem, genauem Hinschauen. Und immer wieder mit Interesse und Empathie. Dazu möchte ich Mut machen und auch dazu, hinter den vielen offenen Fragen nach neuen Wegen zu suchen. Was für ZeitenDas Jahr begann mit Stillstand. Trecker vor dem Reichstag, an Autobahnauffahrten, Brücken und Durchgangsstraßen. Aber still war es dabei nicht. Hinter dem Hupen der Traktoren spürte jeder die aufgestaute Energie: Wut, Angst und Ohnmacht. Nicht nur bei den Bauern, auch bei den Spediteuren, die sich angeschlossen hatten, den Gastronomen, den Fliesenlegern … So viel Angst, etwas zu verlieren. Angst, dass sich alles ändert. Angst, dass sich doch nichts ändert trotz der Versprechen. Das Schlimmste, sagen viele, ist die Unsicherheit. Das Gefühl, keinen Einfluss zu haben, die eigene Zukunft nicht planen zu können. Da geht es dem Mittelstand wie den prekär Beschäftigten. Die Regierung spricht vom Deutschlandtempo, aber die Züge fallen aus.
Der Bau des ersten Flüssiggasterminals war ein großer Erfolg – ohne schnelle Maßnahmen wie diese hätten wir im letzten Winter im Kalten gesessen. Jetzt soll es gelingen, auch die anderen Veränderungsprozesse zeitnah zu gestalten – den ökologischen Umbau der Wirtschaft, Bürokratieabbau und Digitalisierung, Bundeswehr-, Bildungs- und Bahnreform. Acht „Baustellen der Nation“ stellen die Journalisten Philip Banse und Ulf Buermeyer in ihrem neuen Buch vor. Sie beschreiben, „was wir jetzt in Deutschland ändern müssen“. Bis Ende des Jahrzehnts, bis 2035, 2045. Meist bleibt ja die viel beschworene Zeitenwende diffus – hier wird sie konkret. Doch das verstärkt auch den Druck. Politik müsse die Menschen mitnehmen, heißt es. Als würde die Politik nicht auch von Menschen gemacht. Menschen, die sich informieren und erklären müssen, Menschen, die sich irren. Aber das Vertrauen in die Entscheider*innen ist auf dem Tiefpunkt. Die sogenannten Eliten werden gebasht, ja verachtet. Und während man sich im Netz in Großbuchstaben beschimpft, breitet sich Sprachlosigkeit aus. Braucht man denn einen Trecker, um endlich wahrgenommen zu werden? Hinter den Hupkonzerten verschwinden die stillen Krisen. Angesichts des Stillstands von Bahnen und Bussen vergisst man leicht die Not derer, die kaum noch mobil sind. In Krankenhäusern werden ganze Abteilungen geschlossen, weil Pflegekräfte fehlen. Mehr als jede zweite Rentnerin muss mit weniger als 1.250 Euro auskommen. Kinder lernen in Containern, weil die Renovierung der Schulen nicht vorankommt. Bildungssituation laut Pisastudie, Migration, demografischer Wandel – die aktuellen Krisen haben lange vernachlässigte Probleme offengelegt. Die großen Sozialreformen der letzten Jahrzehnte – Pflegeversicherung, Arbeitsmarktreform, Kita-Ausbau, Gesundheitsreform – sind längst überholungsbedürftig. Und für die neuen, wie die Kindergrundsicherung, fehlt der Mut. Wer die nötigen Investitionen zusammenrechnet, kommt auf mehrere hundert Milliarden für Bildung, Wohnungsbau und Pflege. Zur Zeitenwende gehört eine Sozialwende. Es reicht nicht, den alten Pfaden zu folgen. Es kann nicht alles bleiben, wie es ist – auch der Sozialstaat nicht. Mit Ausbessern ist es nicht getan. Und mit Aufschieben schon gar nicht. Der Streit um die Schuldenbremse – darunter auch der Policy-Brief der sogenannten Wirtschaftsweisen – zeigt: Es geht wieder sehr grundsätzlich um die Rolle des Staates und die Entwicklung der Wirtschaft. Die alten Sicherheiten sind zerbrochen – das gilt es anzuerkennen. Manchmal vermisse ich die offenen Diskussionen in der damaligen „Sozialkammer“ der EKD, die zeitweise von Gert G. Wagner geleitet wurde. Gert. G. Wagner, neben vielen weiteren Positionen Leiter des sozio-ökonomischen Panels des DIW (1989–2011), ist dieser Tage verstorben. Als Geschäftsführerin der Kammer habe ich viel von ihm gelernt – vor allem, politische Analysen und Konzepte immer auch an der Realität zu prüfen, die sich in Zahlen ausdrückt. „In diesen Zeiten multipler Krisen erweist sich eine stabile soziale Infrastruktur als Hoffnungsanker“, schreibt Maria Loheide, die Vorständin der Diakonie Deutschland, in einer Einschätzung zu Bundeshaushalt 2024 und Finanzplanung der Bundesregierung. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die Beratungsangebote, die als freiwillige Leistung der Kommunen bei knappen Ressourcen gekürzt werden. Bei Schuldnerberatung, Familienberatung, allgemeiner Sozialberatung wird längst gestrichen. Eine Blitzumfrage im Oktober 2023 zeigt: Inzwischen mussten vierzig Prozent der Träger ihre Angebote einschränken oder ganz einstellen. Tatsächlich braucht es in einer Zeit großer Umbrüche gerade solche Angebote, die den Einzelnen helfen, sich in den unübersichtlichen Systemen zurechtzufinden und so das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Die Gesundheitsbistros und -cafés (hier ein Beispiel aus Wetzlar), die Benachteiligten helfen sollten, sich im Dschungel von medizinischen, pflegerischen, Reha-Angeboten zu orientieren, sind ein gutes Beispiel dafür. Sie waren in Pandemiezeiten sehr gefragt – standen allerdings quer zu den bisherigen Strukturen des Sozialsystems und erzeugten neue Doppelstrukturen. Wir brauchen Mut, uns neu aufzustellen. Aber auch Offenheit und Vertrauen. Es wird Zeit, dass wir miteinander reden. Statt uns in Großbuchstaben anzuschreien wie auf X oder Telegram. Denn es hat Konsequenzen, wenn wir uns gegenseitig nicht wahrnehmen und nicht zuhören. Sowohl individuell als auch gesellschaftlich. Armut, Krankheit, Abstiegsängste – das alles wird bedrohlicher. Und die Gewalt nimmt zu. Gegen Polizei und Notfallsanitäter*innen, an Schulen und auf dem Sportplatz, gegen Synagogen und Moscheen. Oft stehen dahinter gesellschaftliche Mechanismen, die bestimmte Gruppen ausschließen – Migrant*innen zum Beispiel oder Menschen, die Bürgergeld empfangen. Das fängt klein an: Wir sehen die anderen nicht, wir sehen sie nicht, wie sie wirklich sind. Wir halten ihre Sorgen nicht für legitim. Kein Wunder, wenn manche sich mit Gewalt Respekt verschaffen. Aber das führt nur zu weiterer Polarisierung. Und vertieft die Hoffnungslosigkeit. Das Bürgergeld-Bingo der Diakonie Deutschland lädt ein, sich einmal vorzustellen, wie man selbst mit dem entsprechenden Budget zurechtkäme. „Zeitenwenden im Deutschlandtempo – Wer kommt da noch mit?“ – darum geht es auch in meiner Sendung Am Sonntagmorgen, jetzt am 18. Februar um 8:35 Uhr im Deutschlandfunk. Fastenzeit – Zeit der UnterbrechungAm Mittwoch hat die Fastenzeit begonnen. Es sind noch sieben Wochen bis Ostern und viele haben sich gedanklich auf den Weg gemacht. „Sieben Woche ohne Alleingänge“ sollen es sein, schlägt die evangelische Kirche vor. „Komm rüber“ heißt das Motto der Fastenaktion, die am 18. Februar um 9:30 Uhr mit einem Gottesdienst in Osnabrück eröffnet wird (wird im ZDF übertragen). Sie lädt ein, uns zu öffnen – für die Hoffnung und füreinander. So wie in Stuttgart. Zum dreißigsten Geburtstag der Vesperkirche öffnen zwischen dem 14. Januar und dem 2. März Ehrenamtliche und Gäste ihre Wohnungstüren und kochen füreinander ihre Lieblingsrezepte: Himmel und Erde, Gulaschsuppe, Schlesischer Mohn. Sie erzählen sich die Geschichten, die dazugehören, lernen sich besser kennen und es entstehen neue Freundschaften. In einem Kochbuch sind die Rezepte und Geschichten nachzulesen. „Wenn ein System weit vom Gleichgewicht entfernt ist“, greift der Organisationsentwickler Otto Scharmer einen Satz des Chemienobelpreisträgers Ilya Prigogine auf, „haben kleine Inseln der Kohärenz […] die Fähigkeit, das ganze System in eine höhere Ordnung zu heben.“. Da entsteht eine neue Energie, die uns zusammenschließt und weiterbringt. Ja, es gibt sie, die Projekte und Initiativen, in denen das Neue im Keim schon sichtbar wird. Es fängt damit an, dass wir wahrnehmen, was ist und mit welchen Menschen wir leben – und wer an den Rand gedrängt oder vergessen wird. Zukunft gewinnen wir nur miteinander. Wenn wir die Einsamkeit durchbrechen, rausgehen und einander zuhören. Auf den vielen Demos gegen Rechtsextremismus kann man das spüren. Das ist eine Kraft, die nach vorn trägt und den Stillstand überwindet – gegen Rechtsextremismus und für ein Miteinander der Vielfalt in einer lebendigen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Nie wieder ist jetzt
Die Gräuel des 7. Oktober und die Antwort Israels darauf haben die Auseinandersetzungen auch in Deutschland verschärft. Für mich sind es nicht zuletzt israelische Autor*innen, die mir helfen, die Zusammenhänge dort und hier zu verstehen. Eine wichtige Stimme ist der Philosoph Omri Boehm, der für die Universalität der Menschenrechte eintritt und sich oft auch mit unakademischen Beiträgen in die Debatte einbringt (im Interview mit der Süddeutschen Zeitung spricht er über den Terror der Hamas und die Lebenslügen der israelischen Politik). Eva Illouz‘ Arbeit über Emotionen und deren Instrumentalisierung in der Politik wirft einen scharfen Blick auf die Radikalisierung in der israelischen Gesellschaft und Politik. Doch ihre Überlegungen helfen auch, einige Polarisierungen hierzulande einzuordnen, denn vieles von dem, was wir hier als Skandale beobachten, ist Ergebnis von Affektpolitik: Politische Gruppierungen sprechen mögliche Anhänger*innen über gesellschaftliche „Aufreger“, über „Triggerpunkte“ an. Das gleichnamige Buch von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westerheuser analysiert hellsichtig, dass es zu den drängenden Grundfragen unserer Zeit einen weitgehenden gesellschaftlichen Konsens gibt, diskursive Zuspitzungen aber immer wieder Fronten entstehen lassen. Doch wahr ist, rechtsextreme Einstellungen verbreiten sich, auch unter Jugendlichen: Während die Demos zum Aufbruch gegen Rechtsextremismus einluden, wurde bekannt, dass eine Schülergruppe aus Hannover eine Chatgruppe eingerichtet hatte, um zu einer „Rassenfahrt“ mit Björn Höcke einzuladen. Mir fiel dabei die Diskussion um Aiwangers „Jugendsünden“ ein, jenes Flugblatt von damals Siebzehnjährigen, das sich über Ausschwitz lustig machte. Was bedeutet es eigentlich, frage ich mich, für die heute Siebzehnjährigen, wenn die Älteren ein solches Skript als Dumme-Jungen-Streich abtun, als Jugendsünde, mit der sie abgeschlossen haben? Tatsächlich ist nichts abgeschlossen. Unsere Erinnerungskultur muss offen bleiben für die Fragen der Gegenwart – wir brauchen den Dialog der Generationen. ___
Zusammenhalt, von dem wir leben: Care
Das Thema steht nicht zuoberst auf der Agenda, wenn in diesen Tagen für die Stärkung der Demokratie gekämpft wird. Doch letztlich geht es um die Basis unseres Miteinanders: Care-Arbeit und ihre gesellschaftliche – und wirtschaftliche! – Würdigung und gerechte Verteilung. Seit Jahren hören wir regelmäßig neue, alarmierende Zahlen aus der Pflege: vor allem zu fehlenden Fachkräften, was die Leistungsfähigkeit der Träger extrem beeinträchtigt, zu wachsenden Zuzahlungen, die für viele Familien nicht mehr tragbar sind, und zur Armut von (zumeist) Frauen, die sich für die Versorgung von Kindern und die Pflege von Familienangehörigen eingesetzt und darum nicht genügend in die Rentenkasse eingezahlt haben. Immer deutlicher wird, dass eine grundlegende Veränderung notwendig ist. Wir brauchen einen neuen Mix aus familiär-nachbarschaftlicher und professioneller Hilfe – unter dem Stichwort Caring Communities beschäftigen wir uns seit bestimmt zwanzig Jahren damit. Es geht also einerseits um Gleichstellung, andererseits um Entlastung in den herausfordernden Zeiten privater Sorge (Kindererziehung, Pflege). „Der Gender Care Gab ist kleiner in den Ländern, in denen mehr Geld für die formelle Pflege ausgegeben wird“, heißt es in einem Bericht über eine Studie des DIW. Doch eine solche Entwicklung ist in Deutschland nicht in Sicht. Nach Corona scheint sich hier etwas verändert zu haben: Die Hoffnung auf eine gerechte Aufteilung von Erwerbs- und Care-Arbeit schwindet. Dabei geht es um die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung als soziale Leistung ebenso wie um die Frage, wie wir die private und ehrenamtliche Care-Arbeit im Verhältnis zur Erwerbsarbeit wertschätzen. Das hat auch einen gesamtwirtschaftlichen Aspekt, denn solange vor allem Frauen die unbezahlte private Care-Arbeit mehr oder weniger allein zusätzlich zur Berufstätigkeit leisten, wird es nicht möglich sein, das Arbeitskräftepotenzial so auszuschöpfen, wie es angesichts des demografischen Wandels notwendig ist. Es geht also einerseits um Gleichstellung, andererseits um Entlastung in den herausfordernden Zeiten privater Sorge (Kindererziehung, Pflege). Nach Corona scheint sich hier etwas verändert zu haben: Die Hoffnung auf eine gerechte Aufteilung von Erwerbs- und Care-Arbeit schwindet. In ihrem Blog Zwischenzeiten schreibt Teresa Büker: „2015 zählte noch ein gutes Drittel zu den Befürwortern einer aktiven, offensiven Gleichstellungspolitik, heute sind es nur noch ein knappes Viertel. Auf der anderen Seite wuchs im gleichen Zeitraum der Anteil der Gegner einer weiter gehenden Gleichstellungspolitik auf ein gutes Fünftel.“ Dabei sind die Positionen offenbar klar zwischen den Geschlechtern aufgeteilt. „In vielen privaten Gesprächen erlebe ich bei Männern immer wieder entgeisterte Gesichter, wenn ich die Möglichkeit ins Feld führe, für eine lange Elternzeit oder Teilzeitstelle die materiellen Ansprüche eine Zeitlang zurückzuschrauben, während Studien zufolge Frauen die finanziellen Nachteile von Elternschaft und Teilzeit sogar bewusst in Kauf nehmen, weil sie Zeit für sich oder für Familie einen höheren Wert zuweisen, der ihnen diese Entscheidung auch kognitiv erlaubt“, schreibt Büker weiter. Für mich lugt da hinter Care die Caritas hervor, die der Ökonomie den ersten Rang streitig macht.
Frauen haben ihren Platz in der Erwerbsarbeit erkämpft, aber die Sorgearbeit ist noch nicht gerecht verteilt und refinanziert. Wir leben in einer Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft und müssen vielleicht neu lernen, dass Gesundheit und Bildung unsere eigene Mitarbeit brauchen – nicht nur weil Fachkräfte fehlen, sondern weil wechselseitige Sorge auch unsere Verbundenheit miteinander stärkt. Sorgende Gemeinschaften können dazu beitragen, Einsamkeit zu überwinden und das Miteinander der Generationen zu stärken. Sie knüpfen an die alltäglichen Lebensvollzügen in Familie und Nachbarschaft an: Zusammen arbeiten, essen und feiern, einander unterstützen, miteinander wohnen, den Lebensraum gestalten. Ich denke an Seniorenwohngemeinschaften und Mehrgenerationenhäuser, an Projekte, die jungen Familien in überalterten Dörfern Wohnraum zur Verfügung stellen – die Kreativität, die sich entfaltet, wo Menschen Sorge als Teil des Lebens annehmen, ist beeindruckend. Ja, solche „kleinen Inseln der Kohärenz haben die Fähigkeit, das ganze System ganzes System in eine höhere Ordnung zu heben“. Die Sehnsucht nach (Zusammen-)Halt in einer fragmentierten Welt findet ihren Ausdruck auch in den neuen monastischen Gemeinschaften. Die meisten verstehen sich als Ergänzung zu den Kirchen vor Ort, schreibt Hella Thorn in einem Artikel auf Fresh X. „Manche dieser neuen Gemeinschaften organisieren sich vor allem um ein gemeinsames Projekt herum: Entweder voll oder Teilzeit engagieren sie sich im Sozialraum, sind als Gemeinschaft unternehmerisch tätig, indem sie ein Gästehaus o.ä. betreiben. Andere leben verbindlich als Gemeinschaft zusammen, gehen aber gänzlich unterschiedlichen ‚normalen‘ Berufen nach. Und wieder andere leben noch nicht mal in der Nähe voneinander, sondern […] gestalten Wochenenden, Ferien und spirituelle Abende (Digitalität sei Dank). Sie leben in Plattenbauten, in Einfamilienhäusern in einem Wohngebiet, in Privathäusern, auf alten Gehöften, in urigen Bauernhäusern eines Dorfes rund um den Kirchturm, in ausgedienten Klöstern, Kasernen oder Schulen. Von Nord bis Süd. Von West bis Ost.“ Interessant aus meiner Sicht auch: Solche Communities fordern die „alten“ diakonischen Gemeinschaften von Kaiserswerth bis Zehlendorf heraus, die sich – explizit und sehr selbstbewusst berufsorientiert – eng an die Pflege- und Erziehungsarbeit in den Einrichtungen gebunden haben. ___
Herausforderungen auch für die Kirche
Seit der EKD-Synode im vergangenen Herbst ist die evangelische Kirche wieder ins öffentliche Interesse gerückt. Vor allem die ForuM-Studie „Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche“ rüttelte am Selbstbild. Dabei wurden erschreckende Zahlen genannt. Mehr noch aber ging es um die Berichte der Betroffenen, die tiefe Einblicke in fürchterliche, lange tabuisierte Erfahrungen geben – und damit in Schattenseiten der kirchlichen Kultur. Gleich nach der Veröffentlichung begann leider eine um sich selbst kreisende Organisationsdebatte um die Rollen von Landeskirchen und EKD. Inzwischen haben EKD, Diakonie und Landeskirchen ihre Position zu den Ergebnissen und zur Weiterarbeit auf ihrer Homepage veröffentlicht. Ich selbst finde vor allem die Kommentare anregend, die nicht aus dem unmittelbaren kirchlichen Umfeld kamen, wie beispielsweise von dem Religionssoziologen Detlef Pollack, der in der FAZ darauf aufmerksam gemacht hat, dass es im allergrößten Teil der Fälle um männliche sexualisierte Gewalt geht – gleich ob im Zölibat oder im evangelischen Pfarrhaus. Da ist es schon bemerkenswert, wie eine Facebook-Freundin schrieb, dass nun ausgerechnet die Frauen an der Spitze der evangelischen Kirche im Fokus kritischer Aufmerksamkeit stehen – wie Annette Kurschus, die kurz nach der EKD-Synode wegen der öffentlichen Debatte um einen Fall in Siegen zurücktrat, die amtierende Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs oder die Präses Anna-Nicole Heinrich. Spannend für mich ist auch der soziologische Blick von Armin Nassehi, der ein zentrales Problem in der institutionell verankerten moralischen Selbstüberhöhung der Kirchen sieht. Und der fragt, ob die Kirchen überhaupt modernitätsfähig sind. Im Priestertum aller, das doch eigentlich wesentlich ist für die evangelischen Kirche, scheint mir letztlich die zentrale Antwort auf diese beiden grundlegenden Fragen zu stecken. Doch dafür müssen wir einiges lernen, auch um nicht länger, wie es Philipp Greifenstein fasst, der vom Forscherkollektiv diagnostizierten „Verantwortungsdiffusion“ zuzuschauen. Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU), die zur Herbstsynode vorgestellt wurde, zeigt, wie der Religionswandel der Gesellschaft auch das Verhältnis zur Kirche verändert. Die Debatte um kirchenleitende Konsequenzen folgt den alten Mustern – welche Schlüsse man zieht, hat mit dem jeweiligen Kirchenbild zu tun. Klar ist: Kirchenbindung und Religiosität gehen zurück, zugleich aber spielen die Kirchen nach wie vor eine wichtige zivilgesellschaftliche Rolle und stärken die Demokratie (die zentralen Ergebnisse der KMU sind hier zusammengefasst). Klar ist aber auch: Es braucht Räume und Treffpunkte, Ankerpersonen und Öffentlichkeitsarbeit, um Ausstrahlung zu entwickeln, aber auch eine verlässliche Struktur und ein Mindestmaß an Verbindlichkeit. Angesichts der rasanten Veränderungsprozesse, die wir erleben, ist unsere Gesellschaft „hyperpolitisiert“ – und die unterschiedlichen Gruppen suchen je eigene Wege, oft genug gegeneinander. Die Veränderungsprozesse machen die Kirche liquider – aber um Neues zu entwickeln und, wo nötig, auch nachhaltig Widerstand zu organisieren, braucht es ein Mindestmaß verlässlicher Organisationsstrukturen. Tatsächlich aber haben wir es mit einer Erosion des Vertrauens in Institutionen zu tun. Nach Jahrzehnten des Stillstands liegen die Veränderungsnotwendigkeiten offen zu Tage. Wie Corona und der Krieg in der Ukraine die liegen gebliebenen Reformen in Pflege, Bildung oder in der Infrastruktur ans Licht brachten, so geht es den Kirchen mit sexualisierter Gewalt, knapper werdenden Ressourcen, schwindenden Mitgliedszahlen und Fachkräftemangel. Bei einem Seminar für leitende Mitarbeitende in der Diakonie Württemberg erzählten kürzlich alle Beteiligten, warum sie gern bei der Diakonie arbeiten – trotz erheblicher Kirchenkritik in ihrem Umfeld. Und zum ersten Mal nach vielen Jahrzehnten habe ich in Westerburg erlebt, mit wie viel Begeisterung Kolleg*innen aus Kirche und Diakonie sich vernetzten und die Chancen der Zusammenarbeit entdeckten. Eine Kultur, die auf Gabenorientierung, Teamentwicklung und Beteiligung setzt, bekommt neue Attraktivität. Es verändert sich etwas. Umso bitterer, wenn gerade jetzt Synoden den kirchlichen Beitrag zur Diakonie kürzen und damit die Entwicklung von Projekten erschweren, die nicht staatlich gefördert sind. ___
Meine Zeit – Zeitgeschenke und Entscheidungen
Ja, es sind interessante Zeiten. Mit vielen Krisen und Herausforderungen, aber auch mit vielen Chancen, sich einzubringen. Mir scheint es am wichtigsten, dass ich mir immer mal wieder Zeit nehme, die Prioritäten zu sortieren – auch meine persönlichen. Das Jahr 2024 ist ein Schaltjahr. Den 29. Februar, den es nur alle vier Jahre gibt, können wir auch als ein Zeitgeschenk erleben: einen Tag, um zu tun, wozu man sonst nicht kommt. Fresh X schlägt vor, ab dem Abend dieses 29. einen Inspirationstag zu feiern: re:generativ für Kirche und Gesellschaft ist das Motto. Wie will ich leben, welchen Sinn will ich der Zeit geben, die mir geschenkt ist? Eine immer wiederkehrende Frage, die gerade in Phasen des Umbruchs virulent wird. In gesellschaftlichen – aber auch in den persönlichen Umbrüchen. Im Coaching begleite ich Frauen und Männer in der Lebensmitte, mit Mitte vierzig, Anfang fünfzig, bis hin in die Sechziger. Sie spüren genau, wenn Zeit ist, eine Entscheidung zu treffen, wenn es nicht mehr weitergehen kann wie bisher – wenn es Zeit ist für neue Wege. Immer öfter nehme ich wahr, dass Kolleg*innen auch mit sechzig noch mal aufbrechen in eine neue Position, wo Menschen den Übergang in die dritte Lebensphase bewusst gestalten. Wenn Sie für Ihre Entscheidungen Unterstützung suchen – ein paar Sessions Coaching können helfen, die Orientierung zu schärfen. Am besten funktioniert es Face to Face, aber auch per Zoom lässt sich etwas in Bewegung bringen. Vielleicht passt ja eins meiner Coachingangebote für Sie? Meine Zeit in unserer Zeit: Alter
Das Nachdenken über die eigene Zeit ist nicht losgelöst von gesellschaftlichen Debatten, gerade wo es um das Altern geht. Und auch diese Debatten organisieren sich entlang von Schlagworten. Nach den Silver-Agern stehen jetzt die Boomer im Mittelpunkt. Heinz Bude hat dieser Generation gleich ein ganzes Buch gewidmet. Gerade in den letzten Jahren haben die Boomer ganz schön viel Hass abbekommen – zu Unrecht, findet Bude: „Ich glaube, dass wir das Boomer-Denken und die Boomer-Lebenseinstellung heute wieder ganz gut gebrauchen können.“ Das denke ich auch. Bei einer Tagung zu diesem Thema im Haus kirchlicher Dienste in Hannover war ich beeindruckt, wie viele faszinierende Ideen und Projekte die Teilnehmenden gesammelt haben.
In einem Workshop in Mühlhausen ist mir kürzlich aufgefallen, dass die Erwartung, sich auch im Alter noch einmal neu zu erfinden, auch eine anstrengende Seite hat: Als stünde nun nach all den Transformationserfahrungen der letzten Jahrzehnte auch noch das Alter, traditionell die Phase des „Ruhestands“, unter Druck. Ich selbst bin ja kurz vor der Rente in die Selbständigkeit gegangen und will auch andere ermutigen, in der „dritten Lebenshälfte“ dem Unausgelebten Raum zu geben – ganz nach dem Motto meines Buches „Noch einmal ist alles offen“. Aber manche sind nach Jahrzehnten harter Arbeit so erschöpft, dass der Freiraum für neue Ideen und Projekte fehlt. Es ist eine historische Leistung, gesellschaftlich eine dritte, freiere Lebensphase zu ermöglichen. Flexiblere Berufskarrieren und ein flexibles Rentensystem, zu dem auch eine Mindestsicherung gehört – auch die Rentendebatte ist ja leider eine liegen gebliebene Herausforderung –, könnten es aber mehr Menschen ermöglichen, ihre Gestaltungskraft zu erhalten – für berufliche oder eben andere Felder. So kommt es individuell auch darauf an, dass wir Freiheit, Selbstbestimmung und Kreativität früh einüben – und dass wir die Angewiesenheit wie die Schönheit des hohen Alters nicht verleugnen. Anlässlich der Wahlen zum Europäischen Parlament hat die BAGSO ein wichtiges Positionspapier herausgegeben, das die politischen Rahmenbedingungen anspricht, die für die gesellschaftliche Teilhabe älterer und alter Menschen erforderlich sind. Ich freue mich, wenn auch in der Öffentlichkeit alte Menschen auftreten und die Kraft und Würde des Alters ausstrahlen. Gerade wurde Joni Mitchell mit dem Grammy 2024 für das beste Folk-Album ausgezeichnet. Bei der Verleihung saß sie mit ihren achtzig Jahren auf der Bühne und sang – für mich ein heimliches Zentrum unter den tanzenden, flippigen Jüngeren. „In ihrer Stimme, die von den höchsten Registern am Beginn ihrer Karriere bis zu irritierenden Tiefen an deren Ende reicht, schwingt schon der ganze Mythos Joni mit. Die kanadische Sängerin ist eine feministische Ikone, aufrechte politische Kämpferin und bahnbrechende Songwriterin“, heißt es zu einem Feature über Mitchell – und es ist sehr berührend, dem Wandel dieser Stimme über ein Leben zu folgen (DLF-Mediathek). Über eine weitere musikalische wie politische Ikone nicht nur der sechziger Jahre gibt es jetzt einen spannenden Dokumentarfilm: Joan Baez I Am a Noise. ___
„Wer keine Kraft zum Träumen hat, der hat auch keine Kraft zum Erkennen und zum Kämpfen.“ Oskar Negt (1934–2024) Auch Oskar Negt ist in diesen Tagen gestorben. Schon seiner Sprache merkt man an, wie sehr er sich mit seinem tiefen gesellschaftspolitischen Denken auch immer in den Realitäten – und für die Visionen der Gegenwart engagiert hat. Von Träumen, Erkenntnissen und Kämpfen erzählen auch wieder die Bücher von Freund:innen, die ich hier vorstelle. Mit Stephanie Schardien, Johannes Rehm und anderen habe ich gern zusammengearbeitet und dabei immer wieder auch neue Impulse bekommen. .
MarburgIn Marburg war das Begegnungszentrum Haus Sonneck ein wohltuender Rahmen für eine Hospiz-Tagung der Diakonie Hessen. Die Fotos auf der Website laden bereits ein in die angenehmen Räumlichkeiten und auf die herrliche Terrasse unter alten Bäumen. Die Seite bietet auch viele Tipps für Wanderungen und Radtouren, die sich direkt vom Haus aus in die wunderschöne Umgebung unternehmen lassen. Empfehlen möchte ich vor allem den Spazierweg durch die Stadt auf den Spuren Martin Luthers und der für die Stadt sehr prägenden Reformation sowie einen Weg, der an die NS-Geschichte der Stadt erinnert – die Anhängerschaft für die Nazis war in Marburg besonders stark, auch nach 1945. Mühlhausen in ThüringenEin besonders einladendes Veranstaltungshaus im thüringischen Mühlhausen ist die alte Superintendentur, das ehemalige Pfarrhaus von Thomas Müntzer. Die dortige Marienkirche ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie sich ein solches Gebäude nach seiner Säkularisierung – hier schon 1975 erfolgt, zu DDR-Zeiten – nutzen lässt. Das Museum St. Marien umfasst neben anderen Ausstellungen die Müntzergedenkstätte, in der sich nachvollziehen lässt, wie der Reformator Thomas Müntzer im Lauf der Zeit von verschiedenen Seiten vereinnahmt wurde. Nächstes Jahr ist das Gebäude einer der Austragungsorte des landesweiten Gedenkjahres „freiheyt 1525. 500 Jahre Bauernkrieg“. HannoverIn der Marktkirche in Hannover wurde letztes Jahr am Reformationstag das von Markus Lüpertz gestaltete Reformationsfenster eingeweiht. Mit großem öffentlichem Engagement, beharrlichen Verhandlungen und Kreativität konnten hier schwierige Konflikte überwunden werden. Vorausgegangen waren jahrelange Streitigkeiten über die Urheberrechte des Architekten des Wiederaufbaus der Kirche sowie über die Finanzierung des Fensters, die mit Altkanzler Gerhard Schröder verbunden war – der wegen seiner Haltung zu Putin und dessen Krieg gegen die Ukraine in der Kritik steht. Auf der Website der Kirche sind die Chronologie der Ereignisse sowie einige Positionen dazu nachzulesen. Vielleicht kommen Sie ja mal nach Hannover und erleben den Raum mit dem neuen Fenster selbst. .„Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?“, hat Schalom Ben-Chorin gedichtet. Tatsächlich ist der Frühling da draußen Trost und Ermutigung in diesen Zeiten – gerade für Menschen, die in ihrem Umfeld gerade Gewalt, Zerstörung und Tod erleben. Deswegen möchte ich ein ganz besonderes Frühlings- und Lebensgedicht ans Ende dieses Newsletters setzen. Selma Merbaum, die es schrieb, wurde nur achtzehn Jahre alt. Ich lese ihren wunderbaren Text zugleich als ein großes Dennoch und als eine Ermutigung zum Leben.
Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Fastenzeit auf Ostern zu und „Sieben Wochen ohne Alleingänge“!
Ihre Cornelia Coenen-Marx ______ Die Zeilen stammen aus dem Gedicht „Poem“ von Selma Merbaum, die in diesem Jahr hundert geworden wäre. Sie starb mit achtzehn Jahren in einem NS-Arbeitslager. Ich möchte leben. Schau, das Leben ist so bunt. Es sind so viele schöne Bälle drin. Und viele Lippen warten, lachen, glühn und tuen ihre Freude kund. Sieh nur die Straße, wie sie steigt: so breit und hell, als warte sie auf mich. Und ferne, irgendwo, da schluchzt und geigt die Sehnsucht, die sich zieht durch mich und dich. Der Wind rauscht rufend durch den Wald, er sagt mir, dass das Leben singt. Die Luft ist leise, zart und kalt, die ferne Pappel winkt und winkt. Selma Merbaum Die 57 Gedichte, die Selma Merbaum (auch Meerbaum-Eisinger) hinterlassen hat, sind unter anderem nachzulesen in dem Band „Blütenlese. Gedichte“, herausgegeben von Marcus May, Stuttgart, Reclam, 2013. ______ |