Newsletter Nr. 09/ Oktober 2017

Brennende Themen. Ideen, Inspirationen und Projekte aus Kirche und Diakonie


THEMENÜBERSICHT IN DIESEM NEWSLETTER:
HERE WE ARE  GENAUER HINSCHAUEN LERNEN  
 MEHR ANERKENNUNG FÜR CAREARBEIT    HERAUSFORDERUNGEN FÜR DIE GEMEINDEN 
MIT ALLEN SINNEN: LESEN, HÖREN, SEHEN 


 

Here we are.

Über Quartiersentwicklung, sicheren Boden für die Pflege und Kunst als Augenöffnerin 

„Here we are“… nach 27 Jahren deutscher Einheit in einem zerrissenen Land. „Here we are“ … achttausend Kilometer von Pjöngjang, wo Kim Jong-un die nächste Mittelstreckenrakete testet. „Here we are“ … sechstausend Kilometer von New York, wo Donald Trump Nordkorea mit der vollständigen Vernichtung drohte. „Here we are“ … sechs Monate, seit der Journalist Deniz Yücel im Untersuchungsgefängnis sitzt. „Here we are“ … fünfhundert Jahre, nachdem Luther seine welt- und lebensverändernden Thesen veröffentlichte. „Here we are“ … in einer unruhigen Welt, in einem immer noch friedlichen Land. Die Performance „Leaking Territories“ von Alexandra Pirici im Friedenssaal zu Münster gibt uns das Gefühl, im Schiffsbauch zu sitzen, während die Wellen hochschlagen. „BEINGSAFEISSCARY“, „Sicher zu sein ist beängstigend“, stand in den 100 Tagen der Documenta am Giebel des Fridericianums. „Here we are“ … nach einer Serie von Hurrikans und Erdbeben in Ostasien, Mexiko und den USA – wer kann die Zeichen der Klimakrise ernsthaft leugnen? „Here we are“ … nach den politischen Beben der Bundestagswahl – und wie geht es weiter mit der offenen Gesellschaft? Wahr ist, daran erinnert die Initiative Die Offene Gesellschaft mit Recht, dass 87 Prozent der Wählenden sich für demokratische Parteien entschieden haben (Lesetipp: Harald Welzer, Wir sind die Mehrheit, Fischer 2017, 8 Euro). Und der Friedenssaal in Münster erinnert daran, dass vor 369 Jahren eine Zeit der schlimmsten Verheerungen in Europa mit dem Westfälischen Frieden beendet werden konnte. Aber, eben, die tektonischen Platten verschieben sich.


Genauer hinschauen lernen

In diesen Tagen nach dem Absturz der „großen“ Parteien und dem Wahlerfolg der AfD fragen sich viele, was wir übersehen haben in der sogenannten Mitte – und ich erinnere mich an meine Vorträge und Besuche im Osten Thüringens und in der Fränkischen Schweiz, bei denen ich es nachempfinden konnte, das Gefühl, vergessen zu sein, an der Grenze zu Polen und Tschechien in schrumpfenden Regionen übersehen und abgehängt zu sein, auch im reichen Bayern. An die Infrastrukturprobleme – ja, man kommt auch schwer hin in diese Gegenden –, den Verlust von Arbeitsplätzen, an die Flüchtlinge, die erst recht keine Perspektive haben.

Den Friedenssaal in Münster verlassen wir nach einer halben Stunde bewusster, verletzlicher, dankbar für den Augenöffner. Es hat gelohnt, eine Stunde zu warten. Dass Kunst Distanz schaffen kann zum Alltag, dass sie aufrütteln und fokussieren kann, haben wir in diesem Sommer immer wieder erlebt – nicht zuletzt bei der Documenta in Athen und Kassel. Ich denke an das verschlossene Haus der Künstlerin Maria Eichhorn in Athen, die an die Probleme des Immobilienmarkts erinnert, an die immer umlagerten Röhren in Kassel, in denen Studenten sich vorübergehend so eingerichtet haben, wie der Künstler Hiwa K. es bei Geflüchteten in der griechischen Hafenstadt Patras beobachtet hat. Dass die Frage „Und wo bleibe ich?“ Konjunktur hat, wundert mich nicht. Und ich weiß, es ist eine Herausforderung, Geflüchtete willkommen zu heißen. Den Obelisken des Nigerianers Olu Oguibe mit der biblischen Aufschrift „Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt“ in Englisch, Arabisch, Türkisch und Deutsch, der während der Documenta auf dem Königsplatz stand, wird die Stadt Kassel wohl nicht übernehmen.


Boden unter den Füßen. Neue Wege für die Carearbeit

Nach den Abgründen, in die wir bei und nach der Bundestagswahl geschaut haben, wünschen sich nun wohl manche, über das Wasser gehen zu können oder zumindest tragenden Grund zu finden wie bei der Installation von Ayşe Erkmen am Hafen in Münster. Bei strahlendem Spätsommerwetter sahen wir ganze Pilgerscharen von einem Ufer zum anderen wandern. Ob Menschen Boden unter den Füßen haben auch in unsicheren Zeiten, das bleibt auch eine Frage an die Sozialpolitik. Erst in den letzten Tagen des Wahlkampfs sind Alterssicherung und Pflege thematisiert worden – von Müttern mit niedriger Rente, pflegenden Angehörigen und jungen Männern aus der professionellen Pflege. Einer von ihnen, der einundzwanzigjährige Krankenpflegeschüler Alexander Jorde, hat mit seinen kompetenten und hartnäckigen Fragen an die Kanzlerin in der sogenannten Wahlarena der ARD die Agenda neu gesetzt. Ohne Frage ist einiges geschehen in der letzten Legislaturperiode – von der (lange umstrittenen) integrierten Pflegeausbildung bis zur Einbeziehung Demenzkranker in die Pflegeversicherung –, und trotzdem wird immer deutlicher spürbar, dass dieses Feld unterfinanziert ist, dass Carearbeit zu wenig geachtet wird. Nach einer internationalen Pflege-Vergleichsstudie aus dem Jahr 2012 müssen sich Pflegende in Deutschland im Schnitt um 13 Patienten kümmern, während in den USA durchschnittlich 5,3 Patienten auf eine Pflegefachkraft kommen, in den Niederlanden 7, in Schweden 7,7 und in der Schweiz 7,9. Auch in Deutschland, wo die sogenannte Nurse-to-Patient-Ratio oft schlechter ist als in vielen anderen Industrieländern, könnten gesetzlich festgelegte Mindestschlüssel Arbeitsüberlastung und Qualitätsmängel lindern, so eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie. Die gesetzlichen Vorgaben in den USA und Australien seien auf Kampagnen der in Gewerkschaften und Berufsverbänden organisierten Pflegekräfte zurückzuführen, so die Autoren.  

Wann immer ich bei einem Vortrag zu Quartiersarbeit oder Pflege Bilder von Diakonissen und Gemeindeschwestern zeige, spüre ich Faszination und Sehnsucht. Ist es die Sehnsucht nach Empathie und Hingabe, die sichtbare Gewissheit einer Berufung, die fast vergessene Schönheit des Berufs? Ist es das Symbol einer diakonischen Kirche oder das Urbild der Gemeindeschwester als Quartiersmanagerin? Sowohl das Pflegestrukturgesetz, in dem Hauswirtschaft und Betreuung endlich wieder im Blick sind, als auch der Altenbericht der Bundesregierung vom Anfang des Jahres zeigen: Pflege hat eine Quartierskomponente und muss deshalb viel stärker kommunalpolitische Aufgabe werden – zusammen mit Wohnen und Infrastruktur. Dass auch die „alten“ Gemeindeschwestern nicht nur eine kirchliche, sondern auch eine politische Perspektive hatten, zeigt die Geschichte der Kasseler Diakonisse Katharina. Ihr wurde in Rotenburg an der Fulda nicht zuletzt deshalb ein Bürgerdenkmal gesetzt, weil sie in den letzten Kriegstagen 1945 auf einem dortigen Kirchturm die weiße Fahne hisste. Für ihre Patientinnen und Patienten, für ihre Stadt. Lange gab es gerade in der Kirche die Vorstellung, ja die Forderung, Pflegende sollten eigentlich nicht politisch sein: nicht streiken, keine Lobbyarbeit machen, im Zweifel für das Ganze ein- und selbst als Personen zurücktreten. Das scheint sich gerade zu ändern, mit den Pflegekammern, mit den Männern in der Pflege, die nun sehr wohl nach den Arbeitsbedingungen der Berufsgruppe fragen. Gut so.

Zugleich beschäftigen sich Pflegende mit der Frage, was vom spezifisch kirchlichen Profil der Diakonissenarbeit bleibt. Neue Formen der Gemeinschaft und des Dienstes entstehen. Noch sind es meist kleine, zarte Pflänzchen, doch ich glaube, dass hier ein entscheidender Wandel beginnt. In Bremen ist die „Weggemeinschaft“ entstanden. Ich durfte sie begleiten bei einer Wochenendtagung des Mutterhauses mit jungen Mitarbeitenden aus Altenhilfe und Krankenhaus und alt gewordenen Diakonissen und ich konnte den Aufbruch spüren. In Speyer startete im Juni eine neue Form der Ausbildung für Diakonissen und Diakone der Diakonissen Speyer-Mannheim – mit einem großen Fest der Erneuerung zu Pfingsten. Und in Witten werden Gemeindeschwestern für neue Tätigkeitsprofile ausgebildet, die schon an verschiedenen Stellen im Ruhrgebiet arbeiten: Dreißig Frauen mit ihren vielfältigen Einsatzorten und Schwerpunkten bei ihrer nebenamtlich ausgeübten Tätigkeit konnte ich bei einer Tagung dort kennenlernen – und ich war beeindruckt von der Fantasie und Begeisterung für ihre Projekte für Familien, Kinder, Kranke und einsame Ältere. Was diakonisches Profil in der Diakonissentradition auf dem heutigen Gesundheits- und Sozialmarkt heißt, darum geht es beim Jubiläum in Aprath am 5. Oktober, aber auch am 16. November beim Fachtag der Diakonie in Halberstadt


Herausforderungen für Familien und Gemeinden 

Quartiersarbeit beschäftigt Gemeinden unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten: Es geht um die Entwicklung „Sorgender Gemeinschaften“, um bessere Rahmenbedingungen für Familien oder auch um Gemeindediakonie in benachteiligten Stadtteilen – zugleich aber um die Schließung von Kirchen und Gemeindehäusern oder ihre Umwidmung in Nachbarschaftszentren. Gemeinden fusionieren, kirchliche Häuser werden an die Diakonie oder andere Akteure abgetreten, zugleich aber intensiviert sich die Vernetzung der Gemeinden im Stadtteil. All dies stellt durchaus auch ein Spannungsfeld dar. Solche Prozesse brauchen Informationen und Fantasie, gute Kontakte auch zwischen Kirche und Diakonie und, wo möglich, Begleitung. Bei zwei Tagungen in Opladen und in Kiel hatte ich Gelegenheiten, die durchaus konfliktreichen Spannungsfelder, aber auch die Chancen solcher Veränderungsprozesse hautnah zu erleben und mit zu reflektieren. Noch immer habe ich die kleinen Kunstwerke vor Augen, die dabei in Kiel entstanden: den Wunschbrunnen, die Bauklötze auf dem gezeichneten Stadtteil Wik und nicht zuletzt das Zeltdach über den drei Säulen der Gemeinde. Auch in Kiel waren Künstlerinnen am Workshop beteiligt: Chili und Ute weckten frische Energie!

Wo solche Impulse nicht von Gemeinden ausgehen, sind es andere Träger wie Familienzentren oder Mehrgenerationenhäuser (hier ein eindrucksvolles Beispiel aus Stuttgart-Heslach). Denn es sind nicht zuletzt die Veränderungen in den Familien, die solche Prozesse nötig machen. Auch die Gründung der Schwesternschaften im 19. Jahrhundert war ja eine Reaktion auf die Überforderung von Familien und die Defizite in der Pflege. Mit den Wandlungsprozessen von Familie habe ich mich ausführlich in einem Beitrag zu dem von Gerd Wegner herausgegebenen Buch „Von Arbeit bis Zivilgesellschaft. Zur Wirkungsgeschichte der Reformation“ beschäftigt. Mich lässt das Thema nicht los, seit ich die Geschäftsführung der EKD-Familienkommission innehatte. Diesmal nehme ich es auf beim 60jährigen Jubiläum der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Familienfragen (eaf) in Nürnberg am 6. Dezember. „Die Segel setzen. Familie und Familienpolitik im Fluss der Zeit“ ist die Überschrift, unter der wir erkunden wollen, wie Kirche Familien heute unterstützen kann.

Was möglich ist, wenn sich verschiedene Akteure in einem Stadtteil zusammentun und ihre Fantasie spielen lassen, zeigt der Gesundheitskiosk in Hamburg-Billstedt. In dem sozialen Brennpunkt bietet das von dem Netzwerk Gesundheit in Billstedt und Horn initiierte und von der Universität Hamburg wissenschaftlich begleitete Projekt niedrigschwellig und in zahlreichen Sprachen ganzheitliche Gesundheitsversorgung an.


Mit allen Sinnen: Lesen, hören, hinsehen

Um Pflege, Familie und Quartiersarbeit geht es auch in meinen jüngsten Büchern, für die ich hier gern noch einmal werbe, zumal Lesungen anstehen: Am 5. Oktober um 19 Uhr in Kaiserswerth im Hotel MutterHaus: „Noch einmal ist alles offen“ (hier übrigens noch eine schöne Rezension dazu) und am 10. November um 18 Uhr in der Evangelischen Familienbildungsstätte Oldenburg zu „Aufbrüche in Umbrüchen“. Gern komme ich auch zu Ihnen. Als „Bücherfrau“ hat mich bei der Documenta der Parthenon der Bücher von Marta Minujín besonders beeindruckt – vielleicht, weil wir kurz zuvor den Tempel auf der Akropolis erklettert hatten. Aber wer die irgendwo auf der Welt verbotenen Bücher in den Plastikfolien ansah, konnte eigene Lieblingslektüren entdecken, vielleicht ist die beste Literatur die, die sich durchkämpfen musste durch Zensur und die Schere im Kopf. Und trotzdem muss es nicht immer das Große sein. Inspirierend war es auch, zuzusehen, wie der rumänische Künstler Daniel Knorr in seiner Arbeit „Materialization“ Alltagsfunde von den Straßen Athens in Bücher presste – archäologische Tagebuchfunde. 

Zum Schluss noch zwei Hinweise zum Thema Ehrenamt. Bei der EKD ist gerade eine neue Broschüre zum Thema Hilfe für Flüchtlinge erschienen, die Diakonie informiert in diesem Zusammenhang über Patenschaften. Und bis zum 20. Oktober 2017 findet die Abstimmung über den Publikumspreis des Deutschen Engagementpreises statt. 680 Projekte und Personen können den mit 10.000 Euro dotierten Preis erhalten. Das Projekt mit den meisten Stimmen gewinnt. Außerdem erhalten die besten 50 eine kostenfreie Weiterbildung in Berlin. Und natürlich ist auch unser Buch zum Ehrenamt in der Kirche noch immer ein guter Tipp. Am 29. November findet dann in Berlin die Verleihung des Innovatio-Sozialpreises statt.

Und schließlich für Radiohörer: Am 1. November, Allerheiligen, von 15:05 bis 16:55 Uhr können Sie mich im WDR5 im Feiertagsgespräch mit Gisela Keuerleber hören – und weil hier im Norden kein Feiertag ist, finden Sie mich am Nachmittag bei einem Inklusionsvortrag an der Hochschule des Rauhen Hauses. Meine Sendung „Am Sonntagmorgen“ vom 17. September im Deutschlandfunk gibt es leider nur noch zum Nachlesen: „Auftanken! Über diakonische Orte als Kraftquelle“. Unterschiedliche Stimmen bringen darin die Potenziale diakonischer Kraftorte zu Gehör. Orte wie diese können Sie mit einer neuen App auch aufspüren oder weiterempfehlen. Schauen Sie dazu doch auch mal in die Interviews auf meinem Kraftorte-Blog.

Am Tag zuvor, dem Reformationstag, der diesmal bundesweit Feiertag ist, geht das Reformationsjubiläum zu Ende. Ich fand es großartig, dass Künstlerinnen und Künstler sich daran beteiligt und in diesem Kunstsommer noch einmal eindrücklich gezeigt haben, wie Religion, Kunst und Politik zusammengehören. Bei „Luther und die Avantgarde“ in der Karlskirche in Kassel zeigten Massimo Ricciardo und Thomas Kilpper unter dem Lampedusa-Leuchttum „Inventuren der Flucht“ – vergessene, verlorene, zurück gelassene Gegenstände aus Fluchtbooten vom Ausweis bis zum Bibelteil. In den vernachlässigten Gegenständen, so die Künstler, können wir „unser Menschsein, die sozialen Verhältnisse und die Zerbrechlichkeit unseres Lebens erkennen und reflektieren“. So kann Kunst helfen, klug zu werden – und auch achtsamer, wenn es um soziale Herausforderungen und politische Entscheidungen geht. Dafür gilt es immer wieder zurückzukehren zu uns, einzukehren und zu reflektieren, wo wir sind. Der Feiertag am 3. Oktober und die kommenden Herbstferien geben vielleicht besondere Gelegenheit dazu. „Here we are“.


Cornelia Coenen-Marx
, Pastorin und Autorin, OKR a. D.

Robert-Koch-Str. 113 d, 30826 Garbsen-Osterwald

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Texte und Bilder © Cornelia Coenen-Marx