Newsletter 30 / August 2024

 

Newsletter:
30/August 2024:

Brennende Themen. Ideen, Inspirationen und Projekte aus Kirche und Diakonie.

 
  • Als flögen wir davon
  • Schweigen ist nicht der Weg
  • Aufbrechen und Banden bilden
  • Ehrenamt und Kirchenmitgliedschaft
  • Kirchenentwicklung im Brennglas
  • Die große Lähmung 
  • Zukunft des Sozialstaates
  • Unglaubliche vierzig Jahre 
  • Coaching 
  • Bücher von Freund*innen
  • Gute Orte

Als flögen wir davon

Spätsommer. Die Tage gleichen sich: lange schlafen, draußen frühstücken, lesen und laufen – als würde aus den vielen Tagen einer. Einer wie der andere. Wenn ich mich an solche Urlaube erinnere, spüre ich, wie tief die Bilder gespeichert sind. Ich habe noch den Duft von frischem Gras in der Nase, hocke noch an einem Bergbach in der Schweiz und wir sammeln Steine, um einen kleinen Staudamm zu bauen. Doch heute höre ich die Wellen rauschen, sehe das Meer glitzern. Hier am Großen Belt, oben über der Steilküste, sitze ich auf einer alten Holzbank, lese und schreibe. Die Worte formen sich und ich bin da. Ja, es gibt auch die anderen Urlaube, an denen wir jeden Tag eine neue Sensation sehen: eine alte Stadt, ein Museum, eine Landschaft, die wir noch nicht kannten. Wenn ich später daran denke, wundere ich mich, dass es nur fünf oder sechs Tage waren, so viel Neues, so viel Verschiedenes steckte darin. Und manchmal bin ich froh, dass es die Handyfotos gibt, die noch von allem erzählen. Aber ein richtiger Urlaub muss langweilig sein, hat mir mal ein befreundeter Arzt gesagt: „Wenn du dich erholen willst, musst du dich entspannen und alles vergessen.“

Manche sagen, auch unsere Zeitwahrnehmung verändere sich mit den Jahren. Weil die meisten, wenn sie älter werden, eben nicht mehr so viel Neues erlebten, sondern aus alten Erfahrungen schöpfen. Dann laufe das Leben langsamer – aber im Rückblick rinne die Zeit wie Sand durch die Finger. „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre“, heißt es in der Bibel „… denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“ (Ps 90,10)

Unsere Zeit, die mal sprudelnd schnell, mal langsam dahinfließt und mir in diesen Urlaubstagen wie eine kleine Ewigkeit erscheint, hat doch ein Ende. Am Himmel sammeln sich schon die Schwalben zum Aufbruch. Ihre weißen Brustfedern glitzern in der Sonne, die Vögel rufen einander zu. Der letzte Urlaubstag kommt – was will ich noch tun, noch sehen? Was will ich mitnehmen, was hierlassen? „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, erinnert uns ein Psalm (Ps 90,12). Tatsächlich: Im Urlaub kann man Endlichkeit lernen, auf bezaubernde Weise. 

Schweigen ist nicht der Weg

Doch über die Endlichkeit, über Verletzlichkeit, über das Sterben wird kaum gesprochen. Geradezu befreiend erscheint es mir da, dass der Regisseur Matthias Glasner das Thema in die Kinos gebracht hat. Sein Film „Sterben“ zeigt ein Kaleidoskop deutscher Befindlichkeiten – von der Pflegekrise über Einsamkeit als gesellschaftlichen Normalzustand oder das Neuaushandeln von Geschlechterrollen. „Soziale Beziehungen können schon ein ziemliches Kuddelmuddel sein“, heißt es in einer Kritik – die zugleich beschreibt, wie viel hier die Auseinandersetzung mit dem Sterben über das Leben lehrt.

„Die neoliberale Gesellschaft suggeriert eine Planbarkeit, die existenzielle Fragen wie Trost, Verzweiflung, Hoffnung ausklammert“, schreiben Andreas Heller und Reimer Gronemeyer. Unsere Debatten, nicht zuletzt um assistiertes Sterben, sind individualistisch orientiert und blenden den gesellschaftlichen Raum weitgehend aus. Deshalb sei es nötig, das Tabu zu brechen und über die Bedingungen des Sterbens in unserer Zeit öffentlich wie privat zu sprechen. Dabei geht es nicht allein darum, Sterbende und Pflegebedürftige nicht länger „auszusperren“ in Kliniken und Einrichtungen. Es geht darum, uns unserer Hilflosigkeit zu stellen und wieder sprechen zu lernen: über unsere Beziehungen, unsere Ängste, unsere Hoffnung und unseren Glauben. – Wir reden über Selbstbestimmung, aber wir sind noch immer nicht gewohnt, sterbende Menschen als (Mit)Gestalter*innen ihres Lebens zu sehen. Dazu gehört auch die Verwirklichung spiritueller Bedürfnisse und der eigenen Werte. Spiritualität ist vielleicht das letzte Tabu. Das gilt für die Sterbenden wie für die, die sie begleiten. Darum bin ich so begeistert von Hospizteams, die das Thema in die Firmen bringen oder zum Friseur, wo ohnehin Raum ist, miteinander ins persönliche Gespräch zu kommen. (Über Spiritualität als letztes Tabu habe ich ausführlich in einem Vortrag in Kassel gesprochen.)

Aufbrechen und Banden bilden

Im Frühjahr hatte ich von jetzt auf gleich einen Bandscheibenvorfall und eine Ischias-Entzündung. Nein, daran stirbt man nicht, aber es schmerzt und stoppt das alltägliche Leben. Ich musste mir einen Rollator ausleihen und lief damit über die Leipziger Buchmesse, wo ich auf ein Podium eingeladen war. Eine Woche später wollte ich predigen. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, den Rolli durch den Mittelgang zu schieben wie auf der Buchmesse, jetzt aber im Talar. Und sagte also ab. Aber seitdem beschäftige ich mich wieder – wie vor Jahren bei der Erarbeitung der Orientierungshilfe zur Inklusion – mit der Frage, was wir ändern müssen, um die Beteiligung von Menschen mit Behinderung, auch von Pfarrerinnen und Pfarrern, möglich zu machen. Ich könnte doch im Sitzen predigen, dachte ich. So ähnlich, wie es in den Herrnhuter Gemeinden üblich ist, von einem „Predigtstuhl“ aus. Aber wo stünde der? Vor den Gottesdienstbesucher*innen oder zwischen ihnen? Tatsächlich ist das Thema Inklusion ganz eng mit unserem Kirchenbild verbunden. Und hierzulande ist es immer noch durch Macht und Herrschaft geprägt. (Hierüber schrieb übrigens jüngst Michael Klessmann in seinem Buch „Verschwiegene Macht“.) Ein ganz anderes Modell des Gottesdienstes hat Uwe Habenicht neulich beschrieben. Hier braucht keine*r einen Talar, dieser Gottesdienst ist inklusiv – jenseits einer machtvollen Kirche, ganz aus der Macht der heiligen Geistkraft.

Wie umstritten Inklusion in unserer Gesellschaft ist, zeigen die Reaktionen auf die Äußerungen und Publikationen von Björn Höcke. Der AFD-Spitzenkandidat in Thüringen bezeichnet Inklusion als „Irrweg“ und als „Ideologieprojekt“ (unter anderem im MDR-Sommerinterview vom August 2023) und will inklusive Schulen abschaffen. Offenbar geht es auch hier darum, sich selbst und die eigenen Leute oder „das eigene Volk“ zu stärken. Menschen mit Behinderung aber erinnern daran, wie verletzlich wir alle sind. Die meisten Behinderungen werden übrigens im Lauf des Lebens erworben. Es geht also nicht um die „anderen“, wenn wir über Inklusion sprechen – es geht um uns alle. Barrierefreies Wohnen hilft alten Menschen ebenso wie Jüngeren, die bewegungseingeschränkt sind, wird aber aktuell aus Kostengründen wieder reduziert. Tatsächlich erleben wir gerade durch den Rückbau von Sozialstrukturen und die Verschärfung von Wettbewerbsdenken eine zunehmende Destabilisierung ganzer Bevölkerungsgruppen. „Denn je mehr wir in einer Wettbewerbsgesellschaft leben, desto größer wird das Risiko, zu den Verlierern zu gehören und durch das soziale Netz zu fallen“, schreibt Giovanni Maio in seiner „Ethik der Verletzlichkeit“. Der Ausschluss der „anderen“, der Schwächeren, ist da nur der nächste Schritt.

Im Rahmen des Bundesprogramms „Menschen stärken Menschen“ des BBE findet am 5. November ein Fachkongress in Berlin statt. Der Titel: „Chancenpat*innenschaften für eine starke Demokratie“. Die Anliegen des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement sind hochaktuell: „Wie steht es um unsere Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Wie können Chancenpat*innenschaften noch stärker zur Vielfaltsgestaltung beitragen? Was benötigen sie dafür? Welche Allianzen brauchen wir, um Grenzen abzubauen, aber auch dort, wo nötig, welche zu ziehen?“

„Es gibt kein Patentrezept, aber ich kann andere inspirieren, ihre Aktivitäten zu verändern. Ich kann in den Strukturen, in denen ich aktiv bin, die Abläufe verändern. Dafür darf und muss ich auch manchmal kritisieren und auch mal Banden bilden gegen Besitzstandswahrung und Machtmissbrauch – im Idealfall konstruktiv und mit klarem Kompass für eine Zukunft, in der viele normative Ziele erfüllt werden können. Es bleibt ein Suchprozess. Aber je mehr wir das als Aufbruch in die Welt von morgen verstehen und nicht als einen Abwehrkampf gegen den drohenden Verlust, umso mehr gewinnen wir dazu“, sagt die Transformationsforscherin Maja Göpel über den Wandel zu mehr Nachhaltigkeit – doch es gilt in meinen Augen auch für unseren Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Mehr noch: Heute beginnt soziale Gerechtigkeit mit Klimagerechtigkeit. Nicht nur weil es die wirtschaftlich besser Gestellten sind, die mit ihrem Konsumverhalten das Klima am meisten schädigen, sondern auch ganz praktisch, weil das geplante Klimageld eine wesentliche Maßnahme gewesen wäre, um die notwendige Bepreisung des CO2-Ausstoßes nicht auf Kosten der Ärmsten gehen zu lassen. Wahrscheinlich wäre uns viel Wut über den „Heizungshammer“ erspart geblieben.

Care neu denken

Im letzten halben Jahr habe ich die Themen Frauen als Care-Givers und Care als Ausdruck von Spiritualität noch einmal neu entdeckt. Für mich hängen beide Themen zusammen. Dabei geht es auch um die Frage, wie viel Raum unser Sozialstaat der wechselseitigen Sorge gibt. Bei einer Tagung in Leipzig ist mir bewusst geworden, dass der Aufbruch, den die feministische Theologie seit den 1960er Jahren bedeutete, heute in den Gemeinden bzw. in der Frauenarbeit kaum noch Kraft ausstrahlt. Verschüttet sind damit auch Texte wie das „Glaubensbekenntnis einer Frau“, das damals andere Gottesbilder in die Gemeinden trug: Gott als Henne, als Gebärende usw. Und verloren gegangen ist vielen auch die spirituelle Seite der Care-Arbeit. Historisch betrachtet ist das gut nachzuvollziehen – das berühmte Diakonissenwort „Mein Lohn ist, dass ich darf“ zeigt das Problem: Ein erfülltes geistliches Leben kann einen guten Lohn nicht ersetzen. Angemessen wäre aber gerade eine mehrfache Wertschätzung des Care-Givings – schließlich sind beispielsweise gute Kindergärten die Voraussetzung dafür, dass beide Eltern berufstätig sein können. Und dass gerade in diesen Zusammenhängen Spiritualität und religiöse Traditionen lebendig werden, tut Kindern und ihren Familien gut. Tatsächlich aber fehlen hier wie in der Pflege Fachkräfte, weil die Bezahlung noch zu wünschen übrig lässt und weil es an gesellschaftlichem Status und Anerkennung für diese so besondere wie wichtige Arbeit fehlt.

Während der Pandemie hat Sabine Rennefanz „Frauen und Kinder zuletzt“ geschrieben, eine Art Tagebuch über die Benachteiligung von Frauen, Familien und Kindern im Brennglas der Pandemie. Und der Zweite Gleichstellungsbericht zeigt: Je mehr Fürsorgearbeit zu leisten ist, je körpernäher diese Aufgaben sind, desto größer die Belastung und Verantwortung von Frauen. Angesichts der haushaltspolitischen Enge, in die sich die Regierungskoalition manövriert hat, ist jedem klar: Der Traum von der Kindergrundsicherung ist wieder einmal geplatzt. Die unterschiedlichen Leistungen der Kinder- und Familienhilfe zu bündeln, war schon Ursula von der Leyens Vorhaben. Zentrales Ziel aber muss sein, die Kinder, ihren Bedarf und ihre Rechte in den Mittelpunkt zu stellen – weil es eben nicht um deren Leistung, sondern um ihre Zukunft geht. Um Chancengerechtigkeit für alle Kinder, unabhängig von ihrer Herkunft.

Bernd Siggelkow, der Gründer des Kinderprojekts Arche, hat gerade über „Das Verbrechen an unseren Kindern“ geschrieben. Er beleuchtet dabei das Leiden der Kinder, die mit dem sozialen Elend ihrer Eltern allein gelassen werden – und macht zugleich deutlich, dass diese Kinder als Fachkräfte, überhaupt als Bereicherung unserer Gesellschaft fehlen werden. Und: „Ein Aufwachsen in Armut bringt Kinder um die Chance, die Demokratie als solidarische Gesellschaftsform zu erleben. Wenn wir nicht gegensteuern, wird das langfristig das Vertrauen in den Sozialstaat und unsere demokratischen Institutionen schwächen“sagt Britta Altenkamp vom Zukunftsforum Familie. Mir gefällt übrigens, wie die ARD die Sichtweise von Kindern in den Alltag bringt mit ihrer Reihe Kinder stören. Denn die „Altenrepublik“ wie Stefan Schulz unser Land nennt, hat wenig Raum und Fantasie für Kinder – und lässt auch für die Hoffnungen und politischen Visionen der mittleren Generation zu wenig Raum. Die geringe Geburtenrate in unserem Land könnte jedoch auch ein Protest gegen die Situation von Kindern und Familien sein. Jedenfalls ist klar: Mit dieser Kinder- und Familienpolitik wird Deutschland den demografischen Wandel und damit den Fachkräftemangel selbst dann nicht aufhalten können, wenn man die Migration einfach weiter hochrechnet. Das konnten wir längst wissen. Schulz spricht von demografischer Naivität. 

Mit dem demografischen Wandel wächst auch die politische Macht der Älteren. Ob daraus aber ein Kampf der Generationen wird, ist auch eine Frage der Einstellung und der Perspektive. Viele Boomer*innen bringen sich ehrenamtlich in die Quartiere ein oder spenden Millionen für die nächsten Generationen, nicht nur in der eigenen Familie.

Zum Bild gehört zudem, dass es keineswegs allen Älteren gut geht. Ökonomisch nicht – und auch psychisch nicht. Ich denke an die niedrigen Durchschnittsrenten vor allem der Frauen, die ein Leben lang Care-Arbeit geleistet haben und deshalb nicht voll erwerbstätig waren, aber auch an die Einsamkeit, die uns seit Corona immer deutlicher bewusst geworden ist – sie trifft vor allem junge und ältere Menschen. Vor einigen Jahren wurde in Groß Britannien ein Einsamkeitsministerium gegründet Inzwischen hat bei uns das Familienministerium ein Kompetenznetz Einsamkeit (KNE) ins Leben gerufen. Als Lektüre empfehle ich Manfred Spitzers Buch „Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit“ . Mit einem mehr persönlichen Zugang reflektiert Bärbel Schäfer das Thema in ihrem schönen Buch „Avas Geheimnis. Meine Begegnung mit der Einsamkeit“.

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Tipps und Termine zum Thema Alter

  • Beim Fachtag „Im Alter für die Seele sorgen“ der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen halte ich am 3. September in Soest einen Vortrag zum Thema „Buntes Alter braucht vielfältige Angebote“.
  • Vom 9. bis 13. September halte ich Morgenandachten im Deutschlandfunk. Diesmal widme ich mich dort ebenfalls dem Thema Alter.
  • Am 10. Oktober lese ich in der fübs in Fürth aus meinem Buch „Noch einmal ist alles offen“.
  • Von einem neuen Denken des Alters, vielleicht auch von einem neuen Selbstbewusstsein zeugen auch zahlreiche Bücher, die gerade erscheinen. Besonders gern gelesen habe ich in seiner Mischung aus Nachdenklichkeit und Witz Elke Heidenreichs „Altern“. Thomas Frings hat einen „Spirituellen Reisebegleiter“ geschrieben. „Endlich alt“ ist der Titel seines Buchs. Erinnern möchte ich auch noch mal an Heinz Budes inzwischen zum Klassiker gewordenen „Abschied von den Boomern“.
  • Der beste Ort für das Altern ist das Quartier, in dem man auch zuvor gelebt hat. In der Fortbildung Qualifiziert fürs Quartier des Evangelischen Johanneswerks erwerben Interessierte Kompetenzen, um eine Kultur des Miteinanders zu unterstützen. Los geht’s wieder am 25. November.
  • Auch die neuen Programme der Wohnschule WQ4 sind nun online, wieder mit Ausflügen zu bestehenden Projekten sowie Weiterbildungen.
  • Ein tolles Beispiel für die Entwicklung des Quartiers durch den Zusammenschluss von Kirche und Diakonie mit anderen Akteuren ist Aufbruch Quartier in Stuttgart.
  • Bei der Initiative 60 plus in Maisach halte ich am 21. September einen Vortrag mit Gruppenarbeit zum Thema Begegnung, Freizeit und Kultur.
  • Und auch in meinem Vortrag am 6. November in Oldenburg bei evasenio geht es um das Gestalten generationenübergreifender Gemeinschaften.
  • Über Wohn-Raum im Sozial-Raum denken Kirche und Diakonie auf einer Fachtagung nach, auf der es auch um die Rolle der Gemeinden geht. Das ist das Thema meines Impulses am 22. November in Berlin.
  • Die aktuelle Ausgabe von Spiritual Care. Zeitschrift für Spiritualität in den Gesundheitsberufen widmet sich den Caring Communities. Ich habe einen Text über „Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und das Herz des Quartiers“ beigetragen.

Ehrenamt und Kirchenmitgliedschaft

Die aktuelle Kirchenmitgliedschafts-untersuchung ergab: Menschen engagieren sich vor allem deshalb in der Kirche, weil sie Gemeinschaft erleben und für andere Menschen da sein möchten. Knapp die Hälfte aller katholischen und evangelischen Kirchenmitglieder engagiert sich ehrenamtlich – unter den Konfessionslosen tut dies nur etwa jede*r Dritte. Die Kirchen bilden also weiterhin einen wichtigen Knotenpunkt zur Stärkung der Zivilgesellschaft in Deutschland und tragen damit entscheidend zu mehr ehrenamtlichem Engagement bei.

Dieses Gefüge von ehrenamtlichem Engagement und Kirche(nmitgliedschaft) hat in Deutschland eine ganz eigene Prägung. Das fiel mir noch mal besonders bei der Vorbereitung eines Workshops mit Auslandspfarrpersonen der EKD in Hofgeismar auf. Als Kirche in Deutschland fühlen wir uns dem bürgerschaftlichen Engagement und den Wohnquartieren sehr verpflichtet – viele Gemeinden schließen beispielsweise Allianzen in der Arbeit mit Geflüchteten, auch dann, wenn die Bündnispartner nicht zur Kirche gehören. Sich in einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung zu sehen, das war schon charakteristisch für die fast immer kirchlich geprägten Ehrenamtsbewegungen im 19. Jahrhundert. Im Ausland sind die Christ*innen aus Deutschland naturgemäß immer eine Minderheit und die gemeinsame Sprache, Kultur und Konfession spielen eine entscheidende Rolle, um sich in einer Gemeinde zusammenzufinden. Dabei gibt es enge Brücken zwischen Kirchenmitgliedschaft und Engagement: Wer Mitglied ist, wird schnell nach seinem Engagement gefragt, Engagierte wiederum, ob sie nicht Mitglied werden wollen (auch weil das Gemeindeleben nur zum Teil aus deutschen Kirchensteuern finanziert wird).

Wem also soll das freiwillige Engagement in der Kirche dienen? Geht es in den Auslandsgemeinden vor allem um Kindergottesdienst oder Konfirmandenarbeit – oder auch um Angebote für einsame Ältere oder für junge Mütter, die sich vielleicht im Ausland besonders allein fühlen? Und was wird aus diesen Gemeinden, wenn hierzulande die Kirchensteuern rapide zurückgehen? Und gleichzeitig immer mehr Menschen in das englischsprachige Miteinander internationaler Kirchen eintauchen, zumal sie am Arbeitsplatz ohnehin englisch sprechen? Ein tolles Beispiel jenseits der Sprachen habe ich von dem Workshop mitgebracht: In Lissabon lassen junge Leute ältere Menschen auf einem Anhänger Rikscha fahren, mit viel Lachen und Jauchzen – denn viele Ältere kommen nicht mehr aus ihren Wohnungen raus, weil es keine Aufzüge gibt.

Auch bei uns sind – angesichts des Rückgangs von Pfarrstellen – Ehrenamtliche immer mehr gefragt, wenn es um Gottesdienste oder um Seelsorge geht. Trotzdem haben die meisten Gemeinden und Regionen hier auch gesellschaftliche Notlagen im Blick, wie etwa die Situation von armutsgefährdeten Familien. Ob wir das auch als Minderheitenkirche weiter zusammenhalten – eine schrumpfende Kirche mit einem offenen Engagement, darauf wird es ankommen. Denn das Ehrenamt ist immer nah an den Brennpunkten der Veränderung, an neuen Bewegungen. Zu hören und zu unterstützen, was freiwillig Engagierte von ihrer Kirche erwarten, ist wesentlich für die Zukunft der Kirche – als Ehrenamtskirche. Und es ist zugleich ein Anknüpfungspunkt für die vielen Ehrenamtlichen aus anderen Organisationen – oder zu denen, die sich einfach jenseits etablierter Institutionen selbständig organisieren. Das zeigt sich beispielsweise bei dem Ehrenamtsabend, den der Kirchenkreis Walsrode gerade durchführt mit Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Oder auch bei der Telefonseelsorge, wo längst auch Menschen mitmachen, die keiner Kirche angehören. Bei der Boomertagung im Dezember in Hannover wird es erneut um die große Kraft und Kreativität der Älteren im Ehrenamt gehen.

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Tipps und Termine zu Kirche und Ehrenamt

  • Bei einer Fortbildung zur Telefonseelsorge der Regionalkonferenz Bayern gebe ich am 21. Oktober einen Impuls zum Ehrenamt in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen.
  • In meinem Vortrag beim traditionellen Sommerabend des Kirchenkreises Walsrode geht es um die Frage „Wie stehen wir zum bezahlten Ehrenamt?“
  • Bei einer Ehrenamtskonferenz des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung in Hannover zum Thema Boomer gebe ich am 10. Dezember einen Impuls zum Thema „(K)ein Potenzial für Engagement und Ehrenamt“?
  • Am 20. September beginnt wieder die Woche des Bürgerschaftlichen Engagements – genau genommen sogar bis zum 30. September stellen sich Initiativen in ganz Deutschland vor. Hier ist der Kalender, in den auch noch weitere Projekte eingetragen werden können.

Kirchenentwicklung im Brennglas: Wickrath

Neulich ist mir klar geworden, welche Umbrüche unsere ehemalige Gemeinde in Wickrath in den letzten dreißig Jahren erlebt hat, denn mein Mann hat sein Buch über die Kommunalgemeinde überarbeitet und neu herausgebracht: „Wickrath. 1900 bis 1974“. Als ich 1979 in die Gemeinde kam, herrschte Pfarrer*innenmangel. Die erst wenige Jahre zuvor geschaffene Pfarrstelle im zweiten Bezirk konnte erst nach einem Jahr wieder besetzt werden. Aber dann entstand in den 1980er Jahren ein Boom: Eine Sozialpädagogin brachte sich in die Entstehung des Gemeindeladens mit ein, eine neue Jugendleiterin baute die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen neu auf, dazu kam auch die Zusammenarbeit mit jungen Pfarrer*innen, die die Arbeit in der Gemeinde unterstützten, weil ich zugleich Kreisdiakoniepfarrerin war. Fast immer gab es einen Vikar oder eine Vikarin. Ja, wie bei den Lehrer*innen sprach man von einer Pfarrerschwemme und viele gingen damals in andere Arbeitsfelder. – Leider wurde deren Blick von außen zu wenig wertgeschätzt. Die Achtziger waren die große Zeit der Teamarbeit: Mit der Leiterin des Gemeindeladens, der Leiterin des Kindergartens und der örtlichen Vertreterin der Diakoniestation entstand ein multiprofessionelles Team, zu dem immer auch die ehrenamtlichen Leitungen verschiedener Projekte gehörten. Wir hätten uns damals gewünscht, dass auch die Pädagog*innen sich hätten ordinieren lassen können.

Hin zur Jahrtausendwende begann dann auch schon der Abbau – der Haushalt zwang zum Rückzug aus Arbeitsfeldern, die zweite Pfarrstelle wurde aufgehoben. Immerhin wurde der Gemeindeladen ökumenisch und ist Begegnungsort in der Innenstadt geblieben. Bei der Planung und Steuerung hat geholfen, dass im Rheinland die Kirchensteuer bei den Gemeinden eingeht, die ein starkes eigenes Haushaltsrecht haben. Damals allerdings, als so viel Bewegung und Aufbruch in der Gemeinde war, hätte ich mir gewünscht, dass die wachsende Gemeinde auch strukturell gestärkt würde: mit Stellenanteilen, wo neue Aufgaben anstanden, oder bei Bau oder Umbau von Immobilien – das arbeitende Team sollte agieren können, nicht nur reagieren müssen.

In Wickrath kann ich diese Entwicklungen wie in einem Brennglas sehen, weil ich selbst beteiligt war. Und wieder einmal fällt mir auf, wie langsam der Wandel in der Kirche ist – im Vergleich zu den schnellen Veränderungen in der Gesellschaft. So werden Chancen verpasst. Schon in den 1980ern wünschten sich Traupaare, dass sie stärker mitbestimmen könnten, wohin ihre Kirchensteuern gingen. Jetzt kämpfen Kirchenleitungen, Synoden und Regionen um die richtigen Prioritäten bei der Verteilung von immer weniger Pfarrstellen, aber auch bei Erhalt oder Abgabe von Immobilien, Tagungshäusern, Hochschulen. Ein Beispiel für einen offenen und zukunftsorientierten Umgang mit Ressourcen der Kirche ist in meinen Augen die aktuelle Debatte um die Umwandlung der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, an der ich auch studiert habe.

Und was wird etwa aus den Kirchengebäuden, die die Gemeinden nicht mehr brauchen und nicht mehr bespielen können? „Kirchen sind Gemeingüter!“ lautet das Motto einer Initiative, die an die Verantwortung von Staat und Gesellschaft appelliert und dazu auffordert, Stiftungen bzw. eine Stiftungslandschaft für den Erhalt dieser Häuser zu schaffen. Ich gehöre zu den Erstunterzeichnenden – vielleicht möchten Sie sich anschließen? Steffan Bauer untersucht in seiner Publikation „Landeskirchen unterwegs“, wie die Kirchen den vielschichtigen Herausforderungen begegnen können. Gerade hat er ein neues Kapitel angekündigt. Die Überschriften „Aufbrüche“, „Regio-Lokale Kirche“, „Die Not wird größer“, aber auch „Macht“, „Beamtenstatus“, „landeskirchliche Fusionen“, „Kirchenmitgliedschaft“, „Leitungsversagen“ klingen vielversprechend, klingen nach einem wirklich offenen Blick auf die Verhältnisse. Von Diensten, Werken und Einrichtungen jenseits der Ortskirchen handelt der Band „Fluide Formen von Kirche“, den Philipp Elhaus und Uta Pohl-Patalong herausgegeben haben – auch dies ein Beitrag für die Kirche des 21. Jahrhunderts.

Warum sehen wir und handeln nicht? – Die große Lähmung

Vier Fünftel der Befragten gaben bei einer weltweiten Erhebung der UN an, dass sie für mehr Klimaschutz sind. Zugleich aber haben viele das Gefühl, die Politik tritt auf der Stelle. Ein Beispiel ist der Streit um den Verbrenner. Was wird aus dem europäischen Green Deal in der zweiten Amtsperiode der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen? Und was wird aus der deutschen Industrie, wenn es nicht gelingt, die immer kostspieligere Energie zu subventionieren, was aus unseren Städten, wenn sie im Sommer aufheizen? Schon jetzt erleben wir ein streitiges Hin und Her in der politischen Planung, während eine Krise der anderen folgt. `

Der letzte Sommer war der heißeste seit Beginn der Aufzeichnungen. In Deutschland führte das bei zahllosen Menschen, vor allem Älteren, zu gesundheitlichen Problemen, nicht selten sogar zum Tod. Dabei hätten sich viele dieser Todesfälle vermeiden lassen, wenn die Behörden schneller in der Lage gewesen wären, Schutzmaßnahmen umzusetzen, für die die Pläne längst in den Schubladen liegen. Bei der Ahrflut und beim Starkregen im Süden zeigte sich allerdings auch: Weil man aus Erfahrung darauf vertraute, dass es selten zu solchen „Jahrhundertfluten“ käme, wurde diese Planung vernachlässigt. Aber das „alte Normal“ gilt nicht mehr.

Die Demokratie wird durch die Klimakrise gefährdet, weil sie die Gesellschaften in eine Kaskade von Notständen treibt, in denen der demokratische Rechtsstaat zwar formal weiter existieren mag, faktisch allerdings von einem Notstandsregime in Permanenz außer Kraft gesetzt wird. Die Demokratie wird in diesem Falle nicht etwa durch ihre geistigen Feinde gefährdet, sondern durch ihre materiellen Emissionen, sie wird sich selbst zum Feind, ohne dass dabei ein böses Wort fallen muss.“ Das schreiben Hedwig Richter und Bernd Ulrich in ihrem Buch „Demokratie und Revolution“. Wir schauten mit den Augen des 20. Jahrhunderts auf das 21., analysieren sie. Dazu gehört auch: Wir haben politische Routinen entwickelt, die nun nicht mehr passen. So folgt den Ankündigungen oft keine Umsetzung, sondern nur der nächste Streit. Und das gilt nicht nur für das Klima: Ähnlich war es beim Bürgergeld, das, kaum beschlossen, wieder zurückgefahren werden sollte, und auch bei der Kindergrundsicherung.

Eine solche Unfähigkeit zu handeln zeigt sich auch im Blick auf extremistische politische Positionen. So wird seit Monaten über ein AFD-Verbot diskutiert und debattiert, was wir tun können, um die Demokratie zu schützen und zu stärken. Dabei kommt es aber selten zu konkreten Handlungsschritten. Immerhin haben die beiden großen Kirchen – mit Initiative der Deutschen Bischofskonferenz – ein AFD-Verbot für Gremienmitglieder und Mitarbeitende ausgesprochen – „Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar“ lautet der klare Titel der Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz. Und in Thüringen und Sachsen sind breite Bündnisse mit Akteur*innen der Zivilgesellschaft, der Industrie, Gewerkschaften und anderen entstanden, die Kirchenkreise Altenburg, Gera und Greiz haben einen Demokratie-Kurier herausgegeben. Wie wird es weitergehen nach den Landtagswahlen dort? Werden die neuen Bündnisse tragen?

Doch manchmal irritiert mich der Ruf nach schnellen Maßnahmen auch. Nachdem kürzlich ein junger Polizist von Sulaiman A. aus Afghanistan umgebracht wurde und erneut jetzt nach der fürchterlichen Messerattacke in Solingen steckt mir noch der Schreck in Herz und Kehle, als schon wieder die Rufe nach Abschiebungen und Einreisestopps laut werden. Doch es gibt hier keine einfachen Lösungen. Und das Entsetzen, die Trauer, die Wut und Verzweiflung, sie brauchen andere Kanäle. In Solingen war Superintendentin Ilka Werner sofort mit weiteren Notfallseelsorger*innen präsent, in der Stadtkirche, aber auch am Rand des Tatortes, des Fronhofs. Beim Trauergottesdienst reichten kaum die Stühle. Selbstverständlich ist auch die Politik gefragt. Dabei sind es viele Ebenen, um die es hier geht. Wie kann es geschehen, dass so viele Menschen sich einsam radikalisieren? Und wenn das Geld für Sprach- und Integrationskurse eingespart wird, wenn Geflüchtete quälend lange in einem unklaren Status verharren, statt arbeiten zu dürfen, dann ist das sicher Teil des Problems. Andererseits: Die Zusagen, die unser Land beim Abzug aus Afghanistan dortigen Ortskräften, Journalist*innen und Frauenrechtlerinnen gegeben hat, sind immer noch nicht eingelöst. – Wir brauchen auch in der Außen- und Migrationspolitik eine neue Dialogfähigkeit, die es uns erlaubt, die Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu sehen. Dabei können uns gerade die helfen, die in zwei Kulturen zu Hause sind – wie Friederike Weltzien, die in Beirut aufgewachsen ist und lange dort Pfarrerin war. Ein paarmal durfte ich sie dort besuchen. Sie schrieb mir: „Die Freunde und Freundinnen, die im Libanon geblieben sind oder auch gar nicht weg könnten, sagen mir immer wieder, sie lassen sich nicht so sehr beeindrucken von der Bedrohung. Sie haben ihre eigenen Verhaltensweisen, wie sie im Ernstfall reagieren könnten. Und es gibt ja auch immer wieder Hoffnung, dass der ‚große‘ Krieg ausbleibt. Ich jedenfalls gehöre zu der Fraktion der Hoffenden! Und gleichzeitig erwischt mich immer wieder die Angst und in der Nacht höre ich im Traum die Bomben schon fallen.“

Zukunft des Sozialstaates

Eine wichtige Diskussion auf der diesjährigen re-publika ergab: Unser Sozialsystem ist zwar hochprofessionalisiert, aber auch überreguliert. Die Träger der freien Wohlfahrtspflege fühlen sich oft wie Bittsteller*innen an den Staat.

Faktisch entstehen aber gute Entscheidungen aus gelungenen Beziehungen, nicht aus der Abfolge normierter Schritte. Es braucht also Mitarbeitende, die ihrer Kompetenz, aber auch ihrer Motivation sicher sind. Und es braucht gute Beziehungen, die die Institutionen tragen. Kirche und Diakonie können hier aus meiner Sicht eine wichtige Rolle spielen. Neues entsteht nur, wo wir ehrlich sind – mit uns selbst, mit der Situation und mit anderen. Und das braucht Mut!

Damit gute Beziehungen entstehen, braucht es offene Räume. Wie wesentlich der Raum für die soziale Arbeit ist, wurde uns während der Pandemie schmerzlich bewusst: Wir brauchen Straßen und Plätze, auf denen sich Kinder, Jugendliche, aber auch Ältere bewegen können. Wir brauchen einen funktionierenden Nahverkehr und gute Gemeinschaftseinrichtungen – nicht nur Schulen, sondern auch Schwimmbäder, Museen und Bibliotheken. In der aktuellen Finanznot der Kommunen stehen vor allem die freiwilligen Leistungen wie Schwimmbäder und Jugendclubs, aber auch Beratungsangebote unter Druck. Ich denke, es wird entscheidend sein, bei Sozialpolitik nicht nur an die konsumtiven Hilfen für Einzelne zu denken, sondern auch an die Grundlage eines Gemeinwesens für alle. Und die Kirchen sind gefragt, ob sie den Raum, den sie noch haben, reduzieren und verkaufen oder ob sie ihn möglichst vielen zugänglich zu machen.

Eine seltsame Zuspitzung fanden aktuelle Debatten in dem Vergleich von Björn Höcke mit Jesus. Die Stern-Reporterin Miriam Hollstein hat dies neulich in einer bemerkenswerten Glosse aufgegriffen und dabei das Evangelium ausgelegt. Wobei: Es war Höcke selbst, der diesen Vergleich gezogen hatte! Sein Kommentar, nachdem das Landgericht Halle ihn kürzlich wegen der Verwendung einer verbotenen SA-Parole verurteilte: „Ich denke an Jesus Christus, der gekreuzigt wurde, nachdem kurzer Prozess gemacht wurde.“ So etwas kannten wir bisher nur aus den USA. Nach dem Attentat, aus dem er sich blutend erhob, wurde Trump von seinen Anhängern als Messias gefeiert. Nicht anders als Bolsonaro in Brasilien, der das „Evangelium des Erfolgs“ vertritt. Und in Moskau bezeichnete Kyrill den Angriffskrieg gegen die Ukraine von Anfang an als Heiligen Krieg. Derweil bringt hier die „Kalifat“-Demonstration in Hamburg und die Rolle der dortigen Blauen Moschee die Auseinandersetzung mit dem Islam zum Kochen. All dies zeigt: Die Religion ist in die Politik zurückgekehrt – als deren autoritäre und hierarchische Seite. Ich sehe das als einen Ausdruck von Hoffnungslosigkeit und Zukunftsangst – und als Wunsch, dass ein anderer die Lösungen „liefert“ und uns schützt. Aber Miriam Hollsein hat recht: Was dort verkündet wird, das ist nicht die Religion Jesu. Für ihn stehen die Menschen an erster Stelle: Wir können uns zu Verletzlichkeit und Angewiesenheit bekennen, weil es Gemeinschaft gibt und ein hilfreiches Miteinander. Und wir haben oft genug erlebt, dass es eben keine Belastung, sondern eine Bereicherung ist, für und miteinander zu lernen, zu feiern, zu leben. Die Bestrebungen der AfD dagegen führen in die völlig andere Richtung: „Käme die AfD an die Macht“, schreibt Hendrik Cremer, „würde sie die Prinzipien der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit abschaffen, wonach jede(r) über eigene Rechte verfügt.

Unglaubliche vierzig Jahre

Voriges Jahr bin ich siebzig geworden. Seit vierzig Jahren verfolge ich, was sozial- und gesellschaftspolitisch geschieht, mische mich ein und suche mit nach dem, was Kirche und Diakonie beitragen können. Spirituell, mit Bildungsangeboten, mit Dienstleistungen und Gemeinschaftserfahrungen – mit Beten und Handeln. Angesichts der großen gesellschaftlichen Umbrüche hatte ich eine Weile den Eindruck, dass eigentlich Zeit für große Reformen wäre. Tatsächlich aber erlebe ich Stillstand. Zugleich geht es immer öfter um die Zukunft des Sozialstaats, um Einsparungen und Moratorien und um die Hilfe für die, die es „wirklich nötig“ haben. Was eben noch als fortschrittlich galt, wird plötzlich in Frage gestellt. Nicht zuletzt nach den Erfahrungen von Corona erleben wir einen Backlash in Familien- und Arbeitsmarkpolitik oder auch im Blick auf Altersbilder. Statt über soziale Rechte sprechen wir wieder über Barmherzigkeit. Statt über Kinderrechte darüber, wie ihre Eltern in Arbeit kommen. Aber wie sieht der Weg nach vorn aus?

Ich denke, wir haben es mit einem alternden Sozialstaat zu tun, der an die Grenzen seiner Möglichkeiten gekommen ist. Manche sprechen von Überdehnung, andere sehen, wie der Sozialstaat sich in Perfektionismus und Widersprüchen selbst blockiert (vgl. auch die Studie „Wege aus der Komplexitätsfalle. Vereinfachung und Automatisierung von Sozialleistungen“, die der Nationale Normenkontrollrat herausgegeben hat). Doch kann nicht gerade die Krise der Auslöser für Erneuerung sein? So viele gute Ansätze liegen dafür schon vor! Ich habe in diesem Sommer meine Tagebücher aus den Krisenjahren durchgeblättert wie alte Fotos. Und ich bin den Fragen nachgegangen, die sich aus meinen Beobachtungen ergeben: Wie soll zum Beispiel in Zukunft die Unterstützung für Familien aussehen, wie kann sich die Rente entwickeln, wie sorgen wir für eine gute Pflegeversicherung … und was habe ich aus den Debatten der letzten vierzig Jahre gelernt? Was eröffnet neue Wege, wie helfen Glaube und Spiritualität in dieser Situation und was kann in diesen Umbrüchen die Rolle der Kirche sein, einer schrumpfenden Kirche? Auch neue Modelle und frische Ideen habe ich aufgenommen, die mir auf vielen Tagungen und Workshops begegneten. Erneuerung hat allerdings oft auch mit Verzicht zu tun. Dass das nicht einfach ist, habe ich gerade in diesem Jahr auf der persönlichen Ebene erlebt, als ich auf die eine oder andere Reise verzichten musste. Manche begreifen ja das Altern selbst als Einübung ins Loslassen – aber das ist nur die eine Seite. Denn mit dem Loslassen wird das Neue sichtbar. Vielleicht geht es einfach darum, die Grenzen wahrzunehmen und neue Prioritäten zu setzen. Das gilt vermutlich auch für unser Nachdenken über das (sozial-)politische Handeln, das nun nötig ist. „Der alternde Sozialstaat, die schrumpfende Kirche und ich“ ist zurzeit der Arbeitstitel für mein Buch. Im nächsten Newsletter kann ich sicher darüber berichten.

Coaching

Veränderung lebt von Lust auf das Neue, von Motivation und lebendigen Beziehungen. Und gerade erlebe ich eine Menge Veränderungen in der Kirche. Sie gehen von Menschen aus, die sich umschauen, wohin es gehen kann. Die ihre Netzwerke pflegen und sich wechselseitig unterstützen. Und die Freiräume nutzen, die gerade jetzt in der schrumpfenden Kirche entstehen – so wie manchmal in einem alten Parkhaus Pop-up-Stores eingerichtet werden, spielerisch und mit Lust.

Im Coaching habe ich seit ein paar Jahren das Glück, einige dieser Menschen zu begleiten. Sie pendeln zwischen Kirche und Diakonie, wie ich das selbst getan habe, oder stehen vor einem Aufstieg und reflektieren ihre Führungserfahrung und ihr Führungsverständnis. Oder sie nehmen sich zwischendurch einmal zurück, um sich der eigenen Haltung zu vergewissern – lebendige Veränderung, die unter der Oberfläche in Bewegung ist. Im Coaching unterstütze ich Menschen dabei, auf dieser Fahrt ihre Orientierung zu finden, auf Wunsch übrigens gern auch per Zoom. Auf meiner Website erfahren Sie mehr dazu.

Bücher von Freund*innen

In diesem Newsletter biete ich Ihnen viele Lesefrüchte an. Da ich weniger reisen konnte, blieb mir mehr Zeit zum Lesen. Ich hoffe, etwas von dem, was ich empfehle, schmeckt auch Ihnen!

Noch einmal ist alles offen – das ist ja mein eigener Zugang zum Älterwerden. Margarete Heckel stellt in ihrem neuen Buch in zahlreichen Geschichten vor, wie das konkret werden kann, etwa von dem Sparkassenchef Kurt, der nach Beginn seiner Rente als Flugkurier arbeitet. Sehr nützlich sind auch die praktischen Tipps zu Steuern, Rente und Sozialversicherung.

Sterben die Eltern, so bricht oft Streit zwischen den Kindern aus. Schon im Titel Gezwisterliebe tastet Chrismon-Chefredakteurin Ursula Ott die komplexen Beziehungen zwischen Geschwistern aus. Das Buch erscheint am 11. September, aber ich durfte es schon lesen: Überzeugt hat mich schon die einfache Feststellung, wie kurz doch die Zeit des gemeinsamen Aufwachsens ist und dass die Einstellungen, die wir damals entwickelten, heute gar nicht mehr stimmen müssen. Mit ihrem frischen Blick, viel Wissen von Expert*innen und ihrer einfühlsamen Art zu schreiben kann die Autorin hoffentlich einigen aus dem Zwist zurück zur Liebe helfen.

Ursula Weidenfeld, Das doppelte Deutschland. Eine Parallelgeschichte 1949–1990

Seit langem schaue ich nach Büchern über die Sozialgeschichte der DDR – was sollte ich als Wessi wissen, was können wir alle noch lernen? Die Journalistin Ursula Weidenfeld, die auch im Beirat der Bischofskonferenz zur Sozialpolitik saß und dort nicht zuletzt für uns Vertreter*innen der EKD eine wichtige Gesprächspartnerin war, hat hier ein eindrucksvolles Buch vorgelegt: entlang der Chronologie erzählt, doch auch voller wenig bekannter Geschichten und Hintergründe und sehr umsichtig angeordnet.

 

Der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm gibt auf dem Hintergrund seiner inspirierenden Arbeit als Bischof wichtige Impulse für die öffentliche Theologie wie für die ökumenische Arbeit. Der Titel Radikal lieben lässt schon etwas von dem begeisternden Ton des Buches ahnen.

Sirkka Jendis, die ich noch aus ihrer Zeit als Geschäftsführerin des Kirchentags kenne, ist heute Geschäftsführerin der Tafel Deutschland. Sie ist vertraut mit den Vierteln und Feldern, wo Armut bedrohlich wird. Nun hat sie ein Buch vorgelegt, das von ihren Erfahrungen erzählt und zugleich ein dringender Appell an die Politik ist: Armut hat System: Warum wir in Deutschland eine soziale Zeitenwende brauchen.

Wer schon jetzt über ein Weihnachtsgeschenk nachdenken will: Der Frauenkalender 2025 ist aus der Druckerei gekommen. „Wunderlust“ ist diesmal das Motto! Ich bin auch wieder mit Beiträgen dabei.

 

Gute Orte

 

Loccum

Die Akademie Loccum ist einer der Orte, die die evangelische Kirche 1946 gründete, um angesichts ihrer Mitschuld an Diktatur und Gewalt während der NS-Zeit nunmehr Raum für gesellschaftspolitische Debatten zu geben – als ein Beitrag zu einer freiheitlichen Gesellschaft. Ich habe dort viele inspirierende Tagungen erlebt, stets exzellent vorbereitet – und mit getragen von der Atmosphäre der herrlichen Umgebung mit der Klosteranlage und dem Wald. In diesem Jahr ist dort Julia Koll als neue Direktorin angetreten. Möge ihr gelingen, was sie sich vorgenommen hat: das Grundgefühl der Hoffnungslosigkeit zu bearbeiten – im Team und im Gespräch mit den Tagungsgästen. Loccum ist ein großartiger Ort dafür!

Hofgeismar

Die Evangelische Akademie und das Evangelische Studienseminar in Hofgeismar sowie weitere Einrichtungen haben ihren Sitz in einem Gebäude, das einst fürstliche Gäste beherbergte. Eine während des Dreißigjährigen Kriegs entdeckte Mineralquelle, der Gesundbrunnen, ist das Zentrum der Anlage. Das Tagungshaus in dem wunderschönen Park kann auch von externen Gruppen gemietet werden. Ich habe es neulich bei der Auslandspfarrtagung genossen.

Herrnhut

Die Siedlungen der Herrnhuter Brüdergemeine in vier Ländern wurden dieses Jahr zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Der Ursprungsort der Gemeinde ist das sächsische Herrnhut, wo heute ein Museum von den missionarischen Aktivitäten der Herrnhuter*innen erzählt. Die dort angegliederte Sternemanufaktur ist öffentlich zugänglich. Und noch immer ist die Herrnhuter Brüdergemeine weltweit mit ihren täglichen Losungen präsent. Das dortige Tagungshaus ist sicher ein guter Tipp für Gemeindefahrten!

 

An der Steilküste am Großen Belt habe ich Blumen gesammelt und auch einige dieser wunderbaren runden Steine, die das Meer hier angeschwemmt hat. Ich habe aber auch Tagebuchnotizen gesammelt – und manche leuchteten genauso farbig, waren so geschliffen wie die Steine. Beides nehme ich mit, wenn wir zurückfahren. Und Sie? Was trägt Sie in den Herbst? Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Spätsommer.

Ihre Cornelia Coenen-Marx
Seele und Sorge GBR
Impulse – Workshops – Beratung

Zum Abschluss finden Sie unten statt eines Gedichts diesmal einen Auszug aus dem aus meiner Sicht sehr weitsichtigen Gründungsaufruf zum Neuen Forum vom 10. September 1989 – es war schon so viel da, vor 35 Jahren!

„In Staat und Wirtschaft funktioniert der Interessenausgleich zwischen den Gruppen und Schichten nur mangelhaft. Auch die Kommunikation über die Situation und die Interessenlagen ist gehemmt. […] Auf der einen Seite wünschen wir uns eine Erweiterung des Warenangebots und bessere Versorgung, andererseits sehen wir deren sozialen und ökologische Kosten und plädieren für die Abkehr von ungehemmtem Wachstum. Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in eine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben. Wir wollen geordnete Verhältnisse, aber keine Bevormundung. Wir wollen freie, selbstbewußte Menschen, die doch gemeinschaftsbewußt handeln.“

Informationen zu Terminen, guten Orten und Büchern
finden Sie auch auf meiner Homepage 
www.seele-und-sorge.de

Dort sind auch einige Vorträge nachzulesen.

In unregelmäßigen Abständen, etwa zwei- bis dreimal im Jahr, informiert der Newsletter über Aktivitäten von Seele und Sorge. Der nächste Newsletter erscheint voraussichtlich zur Jahreswende.

Ich freue mich auch über eine persönliche Nachricht: 
coenen-marx@seele-und-sorge.de

Wenn Sie den Newsletter bestellen möchten, senden Sie mir bitte eine Mail an newsletter@seele-und-sorge.de .
Vielen Dank für Ihr Interesse.

Cornelia Coenen-Marx, Pastorin und Autorin, OKR a. D.
Robert-Koch-Str. 113 d, 30826 Garbsen-Osterwald

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Texte und Bilder, wo nicht anders angegeben: © Cornelia Coenen-Marx
Lektorat: Dr. Dagmar Deuring | Büro für Texte in der textetage  
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