Newsletter 26 / Oktober 2022

 

 

Newsletter
26/Oktober 2022:

Brennende Themen. Ideen, Inspirationen und Projekte aus Kirche und Diakonie.

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  • Stürme, Farben und Krisen über Krisen
  • Rausgehen! Sprechen! Gemeinschaft schaffen!
  • Innehalten, nachdenken
  • Sammeln, speichern, teilen – und Konflikte klären
  • Herbst des Lebens – Arbeit des Lebens
  • Berufung ist der Kern des Neuen
  • Die stille Krise – Wer schlägt Alarm?
  • Heimaten in einer multipolaren Welt
  • Wir sehen uns an der Tanke 
  • Radio, Bücher, Orte  

Stürme, Farben und Krisen über Krisen

Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Herbststürme die letzten Kastanien von den Bäumen geschüttelt haben. Aber noch leuchten die Blätter in den intensivsten Farben unter oft strahlend blauem Himmel. Doch statt den Herbst zu genießen, würden sich viele in diesem Jahr am liebsten verkriechen. Über die sozialen Medien werden mir dauernd warme Wintersachen angeboten: Wärmekissen, Wolldecken, kuschelige Hausschuhe … Offenbar sind viele schon damit beschäftigt, wie sie den Winter überstehen, wenn die Energie knapp wird. Kaum vorstellbar, wie das in der Ukraine gehen soll, wo schon jetzt mehr als vierzig Prozent der Energieinfrastruktur zerbombt worden sind. Die steigenden Energiepreise, Inflation und Kriegsangst gehen wie Schatten mit durch den Tag. Und sinken die Temperaturen, wird das Wetter regnerisch, dann fragen wir einander, ab wann und wie wir heizen … Dabei ist es noch nicht lange her, dass wir uns über ein bisschen Regen gefreut hätten. Nach den Hitze- und Dürrewellen dieses Sommers haben die Bilder von leeren Getreidehalmen, dem sinkenden Spiegel der Bevertalsperre und liegengebliebenen Rheinschiffen gezeigt, dass die Folgen des Klimawandels längst auch in unserem Land angekommen sind – eine Bedrohung, die alles andere noch überlagert.
Manchmal denke ich an unsere Debatten bei dem Transformationskongress von Gewerkschaften, Umweltverbänden und EKD vor zehn Jahren: Seitdem haben wir zu viel gegrübelt und debattiert und zu wenig entschieden. Das hat, was die notwendige Energiewende angeht, zur Verunsicherung beigetragen. 

 

Rausgehen! Sprechen! Gemeinschaft schaffen! 

Aber nicht alle haben sich in ihr Schneckenhaus verkrochen, viele bekämpfen die Ängste lieber aktiv, etwa indem sie rausgehen auf die Straße und ihre Sorgen rausschreien. Ganz oben steht die Sorge, finanziell an die Grenzen zu stoßen – die Inflation gehört eben zu den Urängsten der Deutschen. Das Vertrauen in die Demokratie schwindet offenbar bei vielen. Mit erneut erstarkenden nationalistischen Tönen suggerieren einige eine Antwort auf die berechtigten Sorgen. Wir sollten aber daraus keine neuen Fronten ableiten – in Ostdeutschland wie in Westdeutschland stehen die Demonstrant*innen nicht nur auf einer Seite. Dass der aktuelle Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider, einen „neuen Blick“ auf Ostdeutschland wirft, dass er dort nicht nur die besonders große Unzufriedenheit zeigt, sondern endlich einmal die Potenziale in den Mittelpunkt rückt, ist sicherlich ein wichtiger Schritt ins Offene. Beeindruckt hat mich aber auch die kleine Demo in Berlin vor dem Kanzleramt unter dem Motto „Genug ist genug“, bei der Menschen in Armut ganz persönlich sprachen. In Deutschland gibt es 13,8 Millionen Menschen, die von Armut betroffen sind. Unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen melden sich einige nun auf Twitter zu Wort – ohne falsche Scham. Ein Blick auf diese Seite macht deutlich, wie Armut das Leben prägt und beschneidet. Auch in den Büchern der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux finden sich eindrucksvolle Bilder dafür, was Armut mit den Menschen macht, und ich freue mich, dass durch den Literaturnobelpreis ihre Texte gerade viel Aufmerksamkeit erfahren. Ihre Tagebücher in Super 8 sind übrigens bis zum 31. Oktober noch auf arte zu sehen.

 

Innehalten, nachdenken

Herbst, das ist eben auch Zeit, zu lesen, zu schreiben und Kraft zu tanken. Dieses Jahr hat mein Körper sich und mir diese Zeit geschenkt – eine Krankheit hat das Unterwegssein unmöglich gemacht. Manches musste leider ausfallen bzw. verschoben werden, anderes konnte per Videokonferenz stattfinden, zweimal haben Kolleginnen meinen Vortrag vorgelesen und sich in die Diskussion begeben  – ich danke allen, die mich in dieser Situation unterstützt oder schlicht viel Verständnis und Geduld gezeigt haben! Und habe die Zeit genutzt, um Lesefrüchte für diesen Newsletter zu sammeln. Derweil haben Freundinnen für mich geerntet, Lavendel, Kirschen, Johannisbeeren, haben Marmelade gekocht, mir geschrieben und Päckchen geschickt. Es ist so wichtig fürs Gesundwerden, so hilfreich gegen Ängste, dass wir Menschen haben, die bei uns sind. Viele erleben das in der Familie und unter Freunden, doch auch im Internet können wir Menschen begegnen, die uns guttun. Zum Beispiel bei dem Abendsegen, den Cornelia Egg-Moewes auf Twitter spendet, oder bei den verschiedenen kreativen Angeboten der beiden Theologinnen Anja Siebert-Bright und Lioba Diez unter dem tollen Namen Spirit and Soul. Und die Kirche? Rasant schwindende Mitgliederzahlen zeigen, dass sie inzwischen für eine Mehrheit kein Ort der Gemeinschaft mehr ist. „Es fehlen Institutionen, die Menschen dabei helfen, Halt, Orientierung und Perspektiven zu finden. Oder sie werden als solche nicht anerkannt. Es müssen nicht die christlichen Kirchen sein, aber sie versprechen nun mal genau das, was viele derzeit vermissen“, schreiben die Psychiater Georg Juckel und Paraskewi Mavrogiorgou (Spiegel 16/2022). Ich bin überzeugt: Wir brauchen einen intensiven, alle Ebenen der Institution, vor allem aber auch die Mitglieder umfassenden Prozess des Fragens und der Vergewisserung über die Rolle, die Funktion und die Relevanz der Kirche. Fast noch wichtiger sind aber die neuen spirituellen Gemeinschaftserfahrungen bei Tauffesten, Segensfeiern, in den Wohnzimmerkirchen, die Erfahrungen, nicht allein zu sein. Gemeinsam müssen wir herausfinden, was in diesen Zeiten wirklich zählt, wie Kirche Hoffnung leben kann. Wir müssen Kriterien entwickeln, um den Weg zu klären und die Ressourcen entsprechend einzusetzen. Der Reformationstag am 31. Oktober könnte uns wieder daran erinnern, welche großen Potenziale in der christlichen Gemeinschaft und zugleich in der Beziehung jeder*s Einzelnen zu Gott liegen. Sehr inspirierend fand ich dazu auch das Buch „Der Nachmittag des Christentums“ des katholischen Theologen Tomáš Halík. Der tschechische Autor schreibt darüber, wie die Kirche auch als gesellschaftliche Minderheit (wieder) eine wesentliche, prägende Kraft für die Gesellschaft werden kann. Auch Gerhard Wegners neues Buch ist hierzu ein wichtiger Beitrag (mehr dazu unten bei den Büchern von Freund*innen) und ebenso das von Armin Nassehi, in dem er fragt, was unsere Sehnsucht nach Gemeinschaft beantworten, was die Gesellschaft zusammenhalten kann. „Worin liegt das Potenzial der Religion für unsere Zukunft als Demokratie? Ist es wirklich so klug, auf den reichen Schatz des Religiösen zu verzichten?“, fragt Hartmut Rosa. Während der Coronakrise wurde oft beklagt, dass die Kirche zu wenig sichtbar gewesen sei, kaum Orientierung gegeben habe und in Seelsorge und Trauerbegleitung nicht „nah bei den Menschen“ war. Die Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen – zum Beispiel in Büchern von Annette Kurschus (Bücher von Freund*innen), Thomas Wienhardt (Hg.) und Joachim Negel oder bei der Jahrestagung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD – ist sicherlich hilfreich für eine Positionsbestimmung angesichts der aktuellen Herausforderungen mit dem Krieg in Europa. Immerhin gibt es, anders als während der Pandemie, bereits eine gemeinsame, öffentliche Aktion von Kirche und Diakonie in Deutschland: #Wärmewinter spricht die größten Sorgen wegen Armut und Energieknappheit an.
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Meine Termine zu diesem Themenfeld: 
Festvortrag anlässlich der traditionellen Eröffnung des Kirchenjahres und anlässlich von hundert Jahren Diakoniepfarramt in der Marktkirche Essen am 25. November
Alle Themen für Vorträge, Seminare, Workshops hier. 
Termine, auch die nachgeholten aus 2022, finden Sie in meinem Terminkalender.  

Sammeln, speichern, teilen – und Konflikte klären

Herbst ist auch Zeit zum Innehalten, zum Ernten. Zeit, sich darüber klar zu werden, welche Früchte das Jahr eingebracht hat. Mir geht noch immer ein Motto der Documenta 15 nach: Lumbung – Gathering. Die kollektiven politischen Ideen der Documenta-Kurator*innen haben daran erinnert, dass es nichts nutzt, nur in die eigenen Scheunen zu sammeln – wie der reiche Kornbauer im Gleichnis Jesu. Vielleicht hat die Kapitalismuskritik darin es manchen schwer gemacht, sich damit politisch auseinanderzusetzen – zu dominierend ist hierzulande das Gefühl, der Sozialismus, der im globalen Süden die Befreiungsbewegungen beflügelt, sei längst gescheitert. Dabei üben wir nach langen Phasen des Just-in-time-Managements erneut das Speichern, Sammeln und Horten – beim Gas angefangen. Mir ist bewusst, dass für manche allein die Erwähnung der Documenta sofort auf den alles beherrschenden Konflikt verweist: Den israelfeindlichen und stereotypen Antisemitismus. Künstlerische Arbeiten, die aus der Perspektive des globalen Südens im Wesentlichen Probleme von Kapitalismus, Kolonialismus und Rassismus zum Thema hatten, nahmen in Bildern, Filmen, Aktionen Partei für die palästinensische Befreiungsbewegung. 

Nach vielen Erfahrungen mit jüdisch-christlichen Begegnungen in Deutschland, nach Jahren der Nahost- und Überseearbeit in der EKD und gewachsenen Beziehungen zu den palästinensischen Kirchen war mir klar, in welcher Zerreißprobe die Verantwortlichen standen – in welche sie sich, wohl auch aufgrund nicht hinreichend reflektierter Steuerungsmechanismen, hineinmanövriert hatten. Bei meinen Begegnungen im Nahen Osten ging es immer wieder darum, dass die Erfahrungen der palästinensischen Seite, dass die „Nakba“, im israelischen Geschichtsbild, das von der Shoah geprägt ist, zu wenig Raum hatte. Aber auch wenn der „Nahostkonflikt“ von Beginn an zum internationalen Symbolkonflikt geworden ist: Es ist zu pauschal gedacht und nicht zielführend, hier einfach von Rassismus zu sprechen oder im Zusammenhang mit den besetzten Gebieten und der Siedlungspolitik von einem Apartheidstaat

Wie der Blick aus Indonesien, dessen Bevölkerung sich mit den ehemaligen Kolonialherren aus den Niederlanden und Japan auseinandersetzt, in die deutsche Debatte traf, ist bis jetzt nicht hinreichend reflektiert. Der Belgier David Van Reybrouck, der ein inspirierendes Buch über die Befreiungsbewegungen in Indonesien geschrieben hat, ist jedenfalls der Auffassung, das deutsche Antisemitismus-Framing, das sich aus unserer Geschichte ergibt, sei zu eng gewesen, die Bereitschaft, von Indonesien zu lernen, zu gering. Meron Mendel, der in der Auseinandersetzung immer wieder seine Unterstützung angeboten hatte, um die darin auftretenden Dilemmata fruchtbar zu machen für ein besseres gegenseitiges Verständnis wie für das Erkennen der jeweils eigenen blinden Flecken, hat mit anderen zusammen gerade ein erhellendes Buch herausgegeben, in dem das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus reflektiert wird: Frenemies. Inzwischen hat er auch einen Auftrag des Documenta-Instituts, eine Studie über die zentrale Problematik zu erstellen. 

Eine Leseempfehlung noch zu dem Thema Kolonialismus: Der jüngste Roman des Literaturnobelpreisträgers 2021 Abdulrazak Gurnah, Nachleben, lässt anhand der Schicksale von vier Menschen die Auswirkungen des deutschen Kolonialismus in Ostafrika nacherleben – zugleich eine großartige Lektüre und eine zutiefst beklemmende Erinnerung an einen erst langsam ins Bewusstsein rückenden Teil der deutschen Vergangenheit.

Es hat mich nicht erstaunt, dass das Spannungsfeld zwischen den Kirchen des Südens und dem Konflikt in Israel/Palästina auch kurz darauf bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen Thema war. Die Veranstaltung, bei der auch der neue Generalsekretär Jerry Pillay aus Südafrika präsent war, fand vom 31. August bis 8. September in Karlsruhe statt, zum ersten Mal seit der Gründung des ÖRK 1948 auf deutschem Boden. Und natürlich ging es auch hier darum, die unterschiedlichen Sichtweisen von mehr als viertausend Delegierten aus verschiedenen Ländern und Kirchen der Welt ins Gespräch zu bringen. Eines der Abschlussstatements ist dem Nahen Osten gewidmet und es lässt das – lange vor der Versammlung begonnene – Ringen erahnen, das mit einem Begriff wie „Apartheid“ verbunden ist. Der neu gewählte Vorsitzende des Zentralrats, der bayerische Bischof Heinrich Bedford-Strohm, hatte wesentlichen Anteil daran, dass es am Ende gelungen ist, die verschiedenen Sichtweisen gelten zu lassen und über sie hinaus sich gemeinsam zum Engagement für einen gerechten Frieden in der Region und für gleichberechtigte Bürgerschaft zu bekennen. „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt“, dieses Wort hatte man als Thema für das Treffen gewählt. Die Hoffnung, ein öffentliches Gespräch zwischen den orthodoxen Kirchen Russlands und der Ukraine in Gang zu bringen, wurde allerdings – erwartbarerweise – enttäuscht. 

Zugleich bin ich froh, dass in einer Konferenz des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung in Berlin gerade noch einmal ein Akzent auf die Leistungen der Kirchen des Südens gelegt wurde. Gerade von ihnen kann und muss der Norden lernen, die Transformation zu bewältigen, zu der uns die Klimakrise zwingt. 

„Es knospt unter den Blättern …“. Zu den großen Veränderungsprozessen unserer Zeit gehört auch der demografische Wandel. Als Ältere erlebe ich die damit verbundenen Herausforderungen auch ganz persönlich, als Coach spüre ich sie in Übergangsprozessen. Es kommt, so denke ich, darauf an, sich auf das zu besinnen, was trägt – aber auch auf den Kern, aus dem neue Früchte wachsen können. Wo wir in Krisen auf die Frage stoßen, was wirklich zählt, da entstehen auch Kräfte zu einem starken Neuanfang. Und wir wissen – Hilde Domin hat es in einem ihrer berühmtesten Gedichte pointiert: Unter den abfallenden Herbstblättern sitzen doch schon die Knospen für das neue Jahr.

 

Herbst des Lebens – Arbeit des Lebens

In den kommenden zehn Jahren gehen in Deutschland mehr als sieben Millionen Babyboomer*innen aus den Geburtsjahrgängen 1955 bis 1969 in Rente. Eine hohe Lebenserwartung bei einer durchschnittlich sehr guten Gesundheit, dazu ein durchschnittlich ebenfalls sehr gestiegener Bildungsstand verheißen vielen gute und erfüllte Jahre. Was Bildung und Einkommen betrifft, haben auch Frauen aufgeholt – allerdings führen Teilzeitarbeit, unbezahlte Carearbeit und die neuen Gesetze zu Scheidung und Versorgung vielfach in die Altersarmut. Geringere Geburtenraten und die „Unterjüngung“ unserer Gesellschaft führen nun allerdings zu einem erheblichen (Fach-)Kräftemangel. Nicht nur im Handwerk, auch bei Erzieherinnen, Sozialarbeitern, Pflegekräften und Pfarrpersonen oder auch in der Gastronomie fehlt der Nachwuchs. Selbst wenn es gelingt, junge Zuwander*innen in die Arbeitsprozesse zu integrieren, selbst wenn Digitalisierung und Robotik voranschreiten: Verwaltungen und Unternehmen müssen sich dringend der Frage stellen, wie sie ältere Mitarbeitende lange gesund und motiviert im Arbeitsprozess halten. 

Wir können es uns nicht leisten, „die erfahrensten Menschen aufs Abstellgleis zu schicken, obwohl sie noch voller Energie sind“, sagte Marc Freedman, der sich als Soziologe mit dem Engagement älterer Menschen in der amerikanischen Gesellschaft beschäftigt, in einem Interview zum sogenannten Sputnik-Moment. Das macht deutlich, dass mit dem Paradigma des „aktiven Alterns“ auch ein neuer sozialer Druck einhergehen kann. „Rausholen, was noch geht, um bloß nicht zu den gebrechlichen Alten zu gehören“, pointierte der Psychotherapeut Klaus Gürtler im selben Band. Vielleicht entspricht diese Vorstellung dem ökonomischen Wunsch nach dauerndem Wachstum – so wie die körperliche „Maloche“ den Wirtschaftswunderjahren entsprach. Zur Arbeit des Lebens gehört aber auch die Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen, mit Scheitern und Endlichkeit. Die Erfahrungen der eigenen Generation – auch die Schuld- und Verlusterfahrungen – in Offenheit und Demut weiterzugeben und damit auch gesellschaftlich Neuanfänge zu ermöglichen, ist darum eine wesentliche gesellschaftliche Aufgabe des Alters. Wie wichtig das ist, erleben wir ja gerade an der – zum Teil verweigerten – Aufarbeitung des deutschen Verhältnisses zu Russland nach 2014. Und sind es nicht gerade die Älteren, die noch aus der Nähe zum Krieg wissen, was für unsere Freiheit, unser Miteinander wirklich wesentlich und bewahrenswert ist?

Die Älteren sind kaum noch daran beteiligt, wirtschaftliches Kapital aufzubauen. Aber sie mehren das kulturelle und das soziale Kapital. Denn beim Wechsel in den Ruhestand sind wir frei, vieles auf den Prüfstand zu stellen und neue Anfänge zu wagen: Wie wird in Zukunft die Arbeitsteilung in der Partnerschaft aussehen? Wo werden wir wohnen? Welche ungelebten Träume warten noch auf Erfüllung? Wo finde ich Mitstreiter und Mitstreiterinnen, wo werde ich gebraucht? – Fragen, die nicht nur einmal zu beantworten sind, sondern im Älterwerden immer neu. Getreu dem Motto: „Es kommt nicht darauf an, was man machen will, sondern wer man sein will.“ 
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Meine Termine zu diesem Themenfeld: 
„Noch einmal ist alles offen“ – Vortrag im Haus der Begegnung in Ulm am 15. November 
In der epd-Doku Nr. 42/22 erscheint mein Beitrag „Hospizbewegung im Umbruch“
Ein Onlinevortrag am 9. Februar widmet sich dem Gestalten des Alters: resilient und zukunftsoffen
Alle Themen für Vorträge, Seminare, Workshops hier. 

Berufung ist der Kern des Neuen  

In diesem Sommer habe ich meine Coaching-Fortbildung abgeschlossen. Wohin es mich gerufen hat: Reisebegleiterin zu sein in Übergangsprozessen. Beim beruflichen Aufstieg, bei Kündigungen, Umstrukturierungen und beim Wechsel in einen anderen Arbeitsbereich oder ein anderes „System“, bei der Rückkehr nach der Erziehungszeit und eben beim Übergang in die dritte Lebensphase. Meine Coachees können dabei neben der vielschichtigen Ausbildung auch von meinen Erfahrungen aus eigenen beruflichen Veränderungsprozessen profitieren, den unterschiedlichen Stationen in verschiedenen Systemen – ich weiß um die Wechselwirkungen zwischen Person und Organisation. Dabei will ich die Coachees darin unterstützen, die eigene Position in der Organisation zu verstehen, sie zu akzeptieren oder zu verändern oder die Einrichtung gegebenenfalls zu verlassen. Und es ist mir wichtig, auch die Bedeutung der verschiedenen Lebensphasen (wie Familienphase oder letzter Berufsabschnitt) gemeinsam zu reflektieren. Und zugleich offen zu sein für Entwicklungen, die sich der rationalen Planung zu widersetzen scheinen. 

Brauchen wir nun alle Coaching? Natürlich nicht. Aber wir brauchen Resonanz. Eine meiner Lieblingsfiguren in der Geschichte ist Florence Nightingale, die mit großer Geduld und Hartnäckigkeit ihrer Vision gefolgt ist und damit den Beruf der professionellen Krankenschwester erfunden hat. Sie hat immer wieder betont, dass sie den Ruf Gottes ganz unmittelbar gehört habe. Einen Pfarrer oder Priester habe sie dazu nicht gebraucht und selbstverständlich auch keinen Coach. Aber eine Reihe Mentor*innen und Förderer.

Bei der Tagung „Einfach machen“ im Frühsommer habe ich Frauen getroffen, die sich zur Priesterin berufen wussten. Sie suchten nun eine Antwort, ein Echo, eine Bestätigung von außen, dass ihre Berufung real ist – also eine offizielle Ordination ins Amt. Dass die katholische Kirche ihnen mit dem Amt zugleich dieses Zeugnis verweigert, lässt manche verzweifeln, manche umso entschlossener kämpfen. Die Biografien, die Philippa Rath in dem von ihr herausgegebenen Buch „Weil Gott es so will“ versammelt hat, zeugen von großem Leidensdruck, vielfach aber auch von großer Energie. Tatsächlich hat ja der synodale Prozess dieses Thema in seinem Beschluss „Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche“ aufgenommen. Doch das Thema Berufung geht weit über das geistliche Amt hinaus. Und vielleicht ist es gerade in Zeiten der Transformation so wesentlich, dass Menschen den Kern ihres Auftrags, ihrer Gaben entdecken. Dass wir wissen: Wir sind gefragt und wir werden gebraucht. Darum geht es im Beruf genauso wie im Ehrenamt. Für Frauen genauso wie für Männer. Ich freue mich, dass die Diakonie Deutschland gerade beschlossen hat, bei der Besetzung aller Gremien auf Parität zwischen Männern und Frauen zuzugehen
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Meine Coachingangebote

Coaching ist so individuell wie Sie und Ihre Situation. Generelle Informationen finden Sie hier. Das konkrete Vorgehen für Ihr Anliegen klären wir telefonisch oder per Mail.
Das Thema Berufung ist auch wichtig in meinem Vortrag in Bremen am 3. Februar 
„Fit für den Aufsichtsrat“ (Vortrag in Pforzheim am 4. März) ist ebenfalls ein Thema, bei dem es um Berufung geht 

Die stille Krise – Wer schlägt Alarm? 

„Die Corona-Krise kann eine Chance sein, wenn die Gelegenheit genutzt wird, unsere Gesundheits-, Sozial- und Wohlfahrtssysteme und somit die Gesamtheit von Care-Arbeit gesellschaftlich solidarischer zu organisieren und zu finanzieren“, haben Barbara Thiessen und andere 2020 in ihrem Thesenpapier „Care.Macht.Mehr“ geschrieben. Was ist daraus geworden? Was haben wir aus der Situation in Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe gelernt? Mehr als fünfzig Prozent der an Covid 19 Verstorbenen waren Heimbewohner*innen. Sie starben ohne Berührung, ohne eine Hand, die sie hielt. Ohne die Begleitung, die wir seit Beginn der Hospizbewegung als guten Standard entwickelt haben. Während des Lockdowns schien das alles zweitrangig. Die Debatte drehte sich um Intensivbetten und Beatmungssysteme. Aber auch in den Pflegehaushalten hat die Pandemie die ohnehin vorhandenen Herausforderungen noch einmal zugespitzt. Die zeitweilige Schließung von Tagespflegeinrichtungen, Einreisestopps für mittel- und osteuropäische Pflegekräfte im Frühjahr 2020 und Engpässe bei den ambulanten Diensten, aber auch fehlende Masken, Tests und Schutzkleidung bewirkten, dass die pflegenden Angehörigen noch mehr auf sich allein gestellt waren. Dabei nehmen sie in ihrem Alltag ohnehin eine drastische Einschränkung von sozialen Kontakten und Entlastungsangeboten hin. „Es hat Konsequenzen, wenn wir uns nicht gegenseitig begleiten. Sowohl individuell als auch gesellschaftlich wird der Tod damit immer belastender“, sagt der Transplantationsmediziner und Medizinethiker Eckhard Nagel im Gespräch mit Elke Büdenbender.

Eine der häufigsten Sorgen, die Patient*innen Pflegepersonen anvertrauen, ist, anderen nur noch zur Last zu fallen. Wenn ich nur noch Last bin, sagen sie, dann will ich lieber sterben. Viele, die sich in der Hospizarbeit engagieren, fürchten nun, dass die Straffreistellung des assistierten Suizids durch das Bundesverfassungsgericht die Situation noch schwieriger machen wird. Sie fürchten den „Dammbruch“, wenn in einer Pflegeeinrichtung die erste Ausnahme zugelassen und bekannt wird. Andere können sich nicht vorstellen, dass Sterbende die Einrichtung verlassen müssen, weil sie Sterbehilfe wünschen. Ein Papier der BAGSO zur Suizidprävention gibt hier eine sehr hilfreiche Orientierung. Die persönliche Haltung zu diesen grundlegenden Fragen ist nicht nur durch professionelle ethische Prinzipien, sondern auch durch existenzielle Erfahrungen geprägt. Im Hören aufeinander entstehen im besten Fall tragfähige Sorgenetze von Angehörigen, Freund*innen, Pflegenden und Ärzt*innen rund um die Sterbenden, in denen sich Sterbende gehört und gesehen wissen, in denen aber auch die Gemeinschaft trotz unterschiedlicher Auffassungen trägt.

Die vielleicht größte Last in unserem Pflegesystem liegt auf den Angehörigen, die oft das Gefühl haben, sie hätten kaum eine andere Wahl – aus normativen, aber auch aus ökonomischen Gründen. Beginnend mit kleinen Dienstleistungen und Nothilfe rutschen viele nach und nach in die Vollzeitpflege hinein, bis Carearbeit und Beruf nicht mehr zu vereinbaren sind. Frauen mit niedrigen Bildungsabschlüssen und prekärer Tätigkeit geben häufiger ihren Beruf zugunsten familiärer Carearbeit auf. Aber auch Teilzeittätigkeiten oder zeitweiliger Ausstieg aus dem Beruf führen zu Altersarmut. „Solange von vornherein damit gerechnet wird, dass Familienmitglieder diese Aufgabe übernehmen, gilt sie als Selbstverständlichkeit“, schreibt Bernhard Emunds in „Häusliche Pflegearbeit gerecht organisieren“. Zur Rolle von Frauen bei der Carearbeit sind gerade zwei spannende Bücher erschienen: Susanne Garsoffky, Britta Sembach, „Die Kümmerfalle“ mit ihrem Appell für „Equal Pay“ und Teresa Bücker, „Alle Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit“.

„Das bisherige System der Pflegeversicherung basiert in der häuslichen Pflege, in der 70 Prozent der zu Pflegenden versorgt werden, darauf, dass Familienangehörige – und hier sprechen wir insbesondere von den Frauen – einen Großteil der Pflegeleistungen zu Hause erbringen. Doch dieses Familienmodell funktioniert angesichts gesunkener Geburtenraten, einer größeren beruflichen Mobilität und neuer Rollenbilder nicht mehr. Da müssen wir uns ehrlich machen. Deshalb müssen wir auch hier einen neuen Ansatz finden“, sagt der Präsident der Diakonie, Ulrich Lilie, und spricht sich für eine Entgeltleistung für die häusliche Pflege aus. Einen Modellversuch dazu gibt es bereits in Österreich. Nach meiner Wahrnehmung wird dort auch sehr deutlich, wie kompliziert es ist, tragfähige Lösungen für diese privaten Zusammenhänge zu finden. Was nur heißen kann, dass wir hier hier noch kreativer werden müssen!

Von einer gerechten Organisation im Pflegesystem sind wir weit entfernt. Schon jetzt ist ein großer Teil der Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen wieder auf Sozialhilfe angewiesen. 1995 war dies ein Grund, die Pflegeversicherung einzuführen. „Wir sprechen bei der Pflege von der drängendsten Herausforderung, die unsere Gesellschaft des langen Lebens vor sich hat. Die Zeit des Durchwurschtelns ist vorbei, ansonsten fährt das System an die Wand. Wir brauchen jetzt einen großen Wurf“, sagt Lilie. Die Diakonie Deutschland schlägt schon seit 2019 eine Vollversicherung mit Eigenanteilen für die Pflege vor. 

Neben Energiekrise, Ukrainekrieg, Klimakrise haben wir es hier offenbar mit einer weiteren, einer stillen Krise zu tun. Die Dramen spielen sich hinter verschlossenen Türen ab – nur während der ersten Pandemiemonate wurden sie für kurze Zeit öffentlich. Inzwischen erschrecken viele angesichts des wachsenden Fachkräftemangels und manchen wird auch bewusst, dass Corona eben nicht vorbei ist. Seit Oktober gilt wieder Maskenpflicht in Pflegeeinrichtungen – für viele Bewohner*innen bedeutet das, in der eigenen Wohnung eine Maske zu tragen. 

Maria Loheide, sozialpolitische Vorständin von Diakonie Deutschland, fordert nun einen Pflegegipfel – auch vor dem Hintergrund, dass die Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege und die ihnen Anvertrauten mit den steigenden Energiekosten vor existenziellen Problemen stehen. Einen Pflegegipfel also, auf dem auch Lauterbachs Pläne zur Entlastung der Pflegenden in den Kliniken (z. B. durch Überwindung der Fallpauschalen oder mehr Tagesbetten ohne Krankenhausübernachtung) diskutiert werden sollten. Wir brauchen einen Pflegegipfel, aber auch einen Bildungsgipfel, der ebenso dringend nötig ist, wie die Untersuchung zu den absinkenden Leistungen der Schüler*innen in der vierten Klasse gerade gezeigt hat. Oder die Tatsache, dass 384.000 Kitaplätze fehlen. Offenbar muss überall da, wo vom Bund bis zu den Kommunen die unterschiedlichen staatlichen Ebenen gemeinsam verantwortlich sind, neu justiert werden. Von der Energiewende bis zur Verkehrswende legen die aktuellen Krisen jahrelang vernachlässigte Probleme schonungslos offen. Zugleich allerdings werden die Ressourcen knapp. Allein für die maroden Schulgebäude stehen 45 Milliarden in Rede. Der Weg hinaus führt nicht über die Wiederherstellung vergangener Muster, sondern über eine zukunftsorientierte Bestandsaufnahme dessen, was heute nötig ist. Wir brauchen eine strukturelle und politische Neuordnung. Ein Bild für die Art der Neuerung liegt für mich darin, wenn die langen Flure in Schulen und Pflegeeinrichtungen ersetzt werden durch Quartierspflege bzw. durch Stadtteilschulen: mit unterschiedlichsten Akteuren, vielschichtigen Netzwerken, digitalisiert, aber auch voller vielfältiger Begegnungen. Ein tolles Interview zum notwendigen Neudenken hat gerade übrigens die Transformationsforscherin Maja Göpel gegeben.
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Meine Vorträge und Termine zu diesem Themenfeld:

Zum Nachlesen: Die vierfache Schnur. Sorgenetze in Nachbarschaft und Quartier
Alle Themen für Vorträge, Seminare, Workshops hier. 

Heimaten in einer multipolaren Welt 

Vor ein paar Tagen sah ich bei Sandra Maischberger ein Gespräch mit Omid Nouripour und der Frankfurter Bürgermeisterin Nargess Eskandari-Grünberg. Beide sind als Teenager aus dem Iran hierhergekommen, sind nach wie vor mit den Befreiungsbewegungen in dem Land verbunden und schauen mit Dankbarkeit auf die hiesige Verfassung. (Hier ein Bericht über Eskandari-Grünbergs Rede bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse.) Als Nargess Eskandari-Grünberg die letzten 37 Jahre im Iran Revue passieren ließ bis hin zu dem mutigen Aufstand, den wir gerade beobachten, dachte ich an unsere Begegnungen 2005/2006 beim christlich-islamischen Dialog in Teheran. Damals, in den Jahren des Chatami-Regimes, gab es zaghafte Hoffnungen auf Öffnung – und entsprechend locker trugen die Studentinnen dort die Kopftücher. Mir ist wieder einmal bewusst geworden, wie wichtig solche Erfahrungen für die freiheitliche Entwicklung auch unseres Landes sind. Wir profitieren von denen, die in zwei Ländern Heimat haben und deshalb Brücken bauen können. Das gilt auch für Navid Kermani und genauso für Deutsche aus der Ukraine wie Marina Weisband oder für den großen Pianisten Igor Levitt, der ursprünglich aus Russland kommt. Ein wunderbarer Film über ihn ist gerade in unseren Kinos zu sehen. 

In den letzten Wochen fielen wieder politische Kampfbegriffe zu Flucht und Vertreibung wie „Sozialtourismus“ und „Pull-Faktoren“. Ja, ich beobachte durchaus – und kann sehr gut verstehen! –, dass manche Ukrainerinnen hierherkommen, um Zuflucht zu finden vor dem Krieg, noch ohne genau zu wissen, wie lange sie bleiben wollen. Und ich kann mir gut vorstellen, dass viele Geflüchtete aus anderen Regionen der Welt auch gern noch einmal kurz zurückgingen, um die kranken Eltern zu sehen. Es ist ja kein einfacher Schritt, die Heimat hinter sich zu lassen, für immer. Als ich vor einigen Jahren im Schlesischen Museum in Görlitz war, habe ich ein Schlüsselbrett gesehen – mit Haustürschlüsseln, die Deutsche auf der Flucht mitgenommen hatten. Als Erinnerung, aber auch um ihr Eigentum nachweisen zu können. Wie viele waren glücklich, nach 1989 noch einmal dorthin zu reisen. Bei der Vorbereitung zur Volkstrauertagsveranstaltung hier in Garbsen hat mir eine Frau erzählt, dass auch sie einen solchen Schlüssel zu Hause hat, von ihrem Vater. In palästinensischen Familien werden ganz ähnliche Geschichten erzählt. Bis heute leben viele Palästinenser*innen in Flüchtlingslagern im Libanon, unter der Armutsgrenze und ohne Bürgerrechte. Eine Rückkehr für alle wird praktisch und politisch nicht möglich sein – aber um Frieden zu gewinnen, muss eine Lösung entwickelt werden.  

Auch im heutigen Europa erleben wir, was es bedeutet, wenn Geflüchtete zur politischen Waffe werden. Aljaksandr Lukaschenka hat Menschen aus fast allen Ländern des Nahen Ostens nach Belarus kommen lassen, um sie an die polnische Grenze zu schicken. Und aktuell beobachten wir, dass der sogenannte Flüchtlingsdeal mit der Türkei durchlässig wird, während wieder mehr Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten über die Balkanroute nach Europa kommen. Bei uns in Garbsen wie an vielen anderen Orten wird gerade wieder über die Belegung von Sporthallen diskutiert. In manchen weckt dies den Impuls zur Abwehr und es kommt wieder zu Ausschreitungen und Demonstrationen gegen Geflüchtete aus der Ukraine wie aus anderen Regionen der Welt. Man möchte den Menschen einfach nur mal vorlesen, wie Andrej Kurkow in seinem Tagebuch einer Invasion beschreibt, was es heißt, in diesem Krieg zu leben …

Migration, erzwungen oder auch freiwillig, ist zunächst eine Tatsache. Angesichts der Folgen von Klimawandel und Gewalt wird sie es immer mehr. Sie zur politischen Waffe zu machen, egal in welche Richtung, vermehrt nur die Fronten, erschwert das Leben aller. Zugleich ist Zuwanderung gerade für unser Land mit dem starken demografischen Wandel und dem Fachkräftemangel eine große Chance. Damit diese Chance konkrete Wirklichkeit wird, müssen wir allerdings investieren: in Kitas und Schulen, den Erhalt der Sprach-Kitas, in Wohnungen und in gute Berufsausbildungsprogramme. Auch wenn ich den Menschen etwa aus der Ukraine, aus Syrien, Afghanistan oder dem Iran nichts mehr wünsche, als dass sie bald in ihr Heimatland zurückkehren und dort in Frieden leben können: Viele werden bleiben, neue Nachbar*innen und Mitbürger*innen sein. Und unser Land mitgestalten. 

Illusionen schüren Ressentiments. In den deutschen Vertriebenenverbänden hat es sehr lange gedauert, bis man mit der neuen politischen Wirklichkeit leben lernte. Doch aus der Arbeit des BdV ging schließlich in den letzten Jahren die Einrichtung eines Dokumentationszentrums für Flucht, Vertreibung, Versöhnung hervor – ein Lernort, um sich mit der Realität und den möglichen Folgen von Migration auseinanderzusetzen.
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Meine Termine zu diesem Themenfeld:

Rede auf einer Feierstunde zum Volkstrauertag in Garbsen 
am 13. November.
Alle Themen für Vorträge, Seminare, Workshops hier. 

Wir sehen uns an der Tanke

Der Schriftsteller Saša Stanišić, der aus den Jugoslawienkriegen in einen Vorort von Heidelberg geflohen war, erzählt von Emmertsgrund. Dort reichen Menschen aus Bosnien und der Türkei, aus Griechenland, Italien, Russland, Polen und Deutschland einander die Hand. Sie sind Nachbar*innen oder kennen sich aus der Schule, der Arbeit, dem Sport. „Die Supermarktschlange sprach sieben Sprachen. Die soziale Einrichtung, die sich für unsere Integration am stärksten einsetzte, war eine abgerockte ARAL-Tankstelle. Sie war Jugendzentrum, Getränkelieferant, Tanzfläche, Toilette. Kulturen vereint in Neonlicht und Benzingeruch. Auf dem Parkplatz lernten wir voneinander falsches Deutsch und wie man Autoradios wieder einbaut. Die ARAL-Tanke war Heidelbergs innere Schweiz – neutraler Grund, auf dem die Herkunft selten einen Konflikt wert war.“ So also kann die Tanke zur Heimat werden. Oder eine Bushaltestelle, ein öffentlicher Platz oder auch eine Bücherei.

„Wir sollten alles dafür tun, soziale Marktplätze zu erhalten oder neu aufzubauen“, meint Jutta Allmendinger. Gerade Menschen, die kaum privaten Lebensraum haben, brauchen öffentliche Orte in der Stadt. Wenn wir Kommunen nicht nur als Wirtschaftsstandorte, sondern als Orte des guten Lebens begreifen wollen, dann sind sie auf soziale Investitionen angewiesen. Das Land Schleswig-Holstein hat das mit dem Konzept der Markttreffs aufgenommen. Es fußt auf den vielen genossenschaftlichen Dorfläden, die in den letzten zwanzig Jahren entstanden. Nun gibt es eine Chipkarte, die den Mitgliedern rund um die Uhr Zutritt verschafft – und viele Marktleitungen, die im Laden auch einen Treffpunkt oder ein Bistro eröffnet haben. An manchen Orten findet sich gleich daneben eine Arztpraxis oder auch ein Fußpflegedienst. Dorfladen plus Dienstleistung plus offener Treff, das ist das äußerst erfolgreiche Prinzip. Anderswo sind ländliche Coworkingspaces entstanden, immer häufiger mit Kinderbetreuung, die die notwendige Vereinbarkeit ermöglichen und auch entfernt vom Büro in der Stadt ein Miteinander ermöglichen, das im Homeoffice fehlt. Aber auch die traditionellen Markt- und Kirchplätze werden neu entdeckt: als offene Räume der Begegnung mit einem Flohmarkt, einer Telefonzelle zum Büchertausch, einem Café-Kiosk. Solche Projekte leben von Verbundenheit in einer verwundbaren Gesellschaft – und schaffen gerade durch ihr ganz praktisches, aber eben gemeinsames Denken Innovation. 

Wie Quartiere gestärkt werden können, dazu gibt es inzwischen immer mehr Wissen und entsprechende Lernangebote. Gerade neu gegründet wurde das Kompetenzzentrum Quartier in den diakonischen Werken Baden und Württemberg. Inspirieren lassen kann man sich auch von den Projekten, die für den Deutschen Nachbarschaftspreis 2022 nominiert wurden. Eine meiner eigenen Vorträge zu dem Thema ist hier verlinkt.
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Meine Vorträge und Termine zu dem Themenfeld:

Workshop Quartier in Ulm am 
16. November.
Vortrag über Kirche im ländlichen Raum beim Fachtag zu Quartier in Dierdorf am 19. November.
Zum Nachlesen mein Vortrag 
„Wir sehen uns an der Tanke“. Treffpunkte, Netzwerke und Sorgegemeinschaften auf dem Lande“ 
Alle Themen für Vorträge, Seminare, Workshops hier. 

Es ist Herbst und viele fragen nach den Kräften, die uns tragen und stärken. Nach der eigenen Geschichte und Identität – gerade hier in Deutschland –, nach der eigenen Rolle – gerade auch der Kirche –, nach unserer ganz persönlichen Berufung in diesen Zeiten des Wandels. Wir stellen scheinbar Selbstverständliches in Frage, probieren Neues aus und hoffen, dass mehr möglich ist, als wir glauben. Manchmal ahnen wir ja schon im Herbst etwas von der Frühjahrsblüte. Bei der Vorbereitung von Texten für Weihnachten ist mir aufgefallen, wie aktuell gerade die Nikolausgeschichten sind. Sie erzählen von Armut, von Eltern, die ihre Kinder nicht ernähren können, von Hunger und ausbleibenden Weizenschiffen, von der Rettung aus Seenot – und uns fallen aktuell zu allem Zeitungsnachrichten und Bilder ein aus so vielen Ländern und Meeren der Welt. Doch die Geschichten handeln auch davon, dass Schluss sein muss mit dem „Zwarten Piet“ und dem Rassismus, der damit verbunden war.
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Meine Radiosendungen:
Gedanken zur Woche am 11. November im DLF (6.35 Uhr) 
Ein Interview zur Seele des Sozialen im ÖRF zum Nachhören

Bücher von Freund*innen

     
  Lars Charpentier, Anke Pech, Franziska Woellert (Hg.) Familienorientierung stärken. Evangelische Arbeitgeber zwischen Innovation und Tradition. „Sinnerfüllt zu arbeiten und zufrieden zu leben sind Kennzeichen dessen, was die Bibel ‚Leben in Fülle‘ nennt“, schreibt Peter Burkowski in seinem Vorwort zu diesem Band – ein wichtiger Hinweis auf das große Ganze der Arbeit generell. Ein hilfreiches Buch für kirchliche (und andere) Arbeitgeber, die angesichts des Wettbewerbs um Fachkräfte attraktiv sein wollen. Mein Beitrag „Kirche ohne Ehrenamt?“ nimmt sich der Frage an, was die neue Rollenverteilung in der Familie für das Ehrenamt bedeutet.
     
  Mechtild Erpenbeck Mitschwingen und Dazwischengehen. Systemisch-gruppendynamische Prozesskompetenz in Beratung und Training. Ein Tanz um Macht und Vertrauen und Wirksam werden im Kontakt. Die systemische Haltung im Coaching. Mechtild Erpenbeck war eine meiner Dozentinnen in der Coaching-Ausbildung. Ihre Bücher habe ich als besonders hilfreich und inspirierend für meine Fortbildung empfunden. Zu verstehen, was in einem Gruppenprozess „hakt“, welchen eigenen Anteil wir möglicherweise haben und wie man in einer Beratungsfunktion in dieser Dynamik sinnvoll agieren kann, das ist nicht nur fundamental wichtig für Coaches, sondern aus meiner Sicht auch für Führungskräfte oder auch in privaten Zusammenhängen. Das Bild des Tanzes hilft dabei immer wieder, starre Vorstellungen zu überwinden. Für die Reflexion der eigenen Haltung beispielsweise zwischen Verantwortung und Gefühl, Aufmerksamkeit und Macht liefert ihr Buch über das Wirksamwerden im Kontakt fundamentale Einsichten und Impulse. 
     
  Annette Kurschus, Traugott Jähnichen, Vicco von Bülow (Hg.) Nach Gott fragen angesichts der Pandemie: Von Gott reden – mit Gott reden. „Krisenerfahrungen theologisch zu deuten heißt nicht, Antworten auf alle Fragen zu wissen –, sondern vor allem: nach Gott zu suchen und mit Gott zu reden. Das Gebet rückt wieder ins Zentrum. Und der Mensch als Helfer Gottes“, dieser Satz aus dem Programmtext formuliert prägnant die These des Buchs. Es liefert einen wichtigen Beitrag zur Position der Kirche in krisenhaften Zeiten.
     
  Gerhard Wegner Substanzielles Christentum. Soziotheologische Erkundungen. Die Diagnose einer schwindenden Vertrautheit mit Religion, Kirche und ihren Symbolen nimmt Gerhard Wegner zum Ausgangspunkt, um nach dem zu fragen, „was am Glauben begeisternd und nährend ist“. Dass er dabei mit einem soziologischen Ansatz zugleich die Veränderungen in der (Haltung zur) Kirche seit den 1960er Jahren in den Blick nimmt, erscheint mir sehr produktiv. „Erfahrungen eines Kraftfelds des Geistes kommen ebenso zum Tragen wie Fragen der Armut in der Theologie“, beschreibt dies der Klappentext.
     
  Jutta Ataie, Carmen Berger-Zell, Astrid Giebel (Hg.) Leben. Selbstbestimmung und Lebensschutz, Ambivalenzen im Umgang mit der Beihilfe zur Selbsttötung. „Wie begegnen wir einander persönlich oder gesellschaftlich als Menschen, von denen – ganz menschlich – sich eine oder einer mit Sterbewünschen, suizidalen Gedanken oder dem Wunsch nach Suizidassistenz beschäftigt? Wie gehen wir damit um, wenn sich jemand Beistand angesichts ihrer oder seiner Lebensmüdigkeit wünscht?“ Der Band versammelt unterschiedlichste Perspektiven auf die nun gesetzlich eingeräumte Möglichkeit des assistierten Suizids – ein Überblick über die Debatte und zugleich eine hilfreiche Orientierung.
     
  Teresa A. K. Kaya (Hg.) Von Frau zu Frau: Praxishandbuch Biografiearbeit aus weiblicher Perspektive. Professionell begleitete Biografiearbeit ist längst eine anerkannte Methode der Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, die beispielsweise hilft, mit Schwierigkeiten zurechtzukommen oder neue Handlungsräume zu erkennen. Teresa Kayas Buch ist eine Unterstützung, die besonderen Bedingungen von Biografiearbeit von/mit Frauen zu reflektieren. Neben theoretischen Überlegungen gibt die Vorstellung durchgeführter Projekte produktive Impulse. Ich konnte einige Erfahrungen aus der Gesprächsreihe „Oma trotzt Corona“ beitragen, in der zahlreiche Frauen von höchst innovativen und kreativen Initiativen berichteten.
     
  Sarah Jäger, Eberhard Pausch (Hg.) Kampf der Kulturen und gerechter Frieden. Samuel Huntingtons These zwischen Identitätspolitik und Friedensethik. Huntingtons These von den großen Kultur(räum)en der Welt, die miteinander im Kampf lägen, hatte bei ihrem Erscheinen 1996 eine große Debatte ausgelöst. Die Autor*innen des Bandes hinterfragen für historische Episoden ebenso wie für die Gegenwart zunächst die Grundannahmen von den eindeutig abgrenzbaren, in sich identischen Kulturen und erforschen weiterhin, wie in multilateralen Gesprächen und Beziehungen Frieden zwischen Verschiedenen gehalten oder geschaffen werden kann.
     
  Frauenkalender: Lass leuchten!  „Lass leuchten! – Ein Zuruf, der gerade in schweren und dunklen Zeiten nicht laut genug sein kann. Lass leuchten: deine Zuversicht, deine Begeisterungsfähigkeit, dein Wohlwollen, deine Stärke …“ Mit dieser Aufforderung lädt der neue Frauenkalender schon ein ins neue Jahr. Sehr gern habe ich zwei Kalenderblätter dazu beigetragen und diesmal an Rosa Park erinnert.
  Andi Weiss, Martina Weiss Trauer sucht Trost Eine einfühlsame Annäherung an das Gefühl der Trauer bei Verlust mit zahlreichen Impulsen dafür, was vielleicht Trost geben kann. Online bieten die beiden auch einen Dialog zur Trauer an.
     
 

Aufbrüche in Umbrüchen. Christsein und Kirche in der Transformation. Während ich für diesen Newsletter verschiedenste Bücher über die aktuellen gesellschaftlichen Umbrüche las, wurde mir bewusst, wie intensiv ich selbst mich schon mit den großen Transformationsprozessen – und der möglichen Rolle der Kirche darin beschäftigt habe. Gern möchte ich daher noch mal an mein Buch „Aufbrüche in Umbrüchen“ erinnern.

 

Besondere Orte

 

Zum Arp Museum im Bahnhof Rolandseck fährt man direkt mit dem Zug. Der klassizistische Bahnhof ist selbst ein Höhepunkt des Eisenbahnbaus. Zusammen mit einem Gebäudekomplex des Architekten Richard Meier beherbergt er seit 2007 ein Museum, in dem die Werke von Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp, aber auch Wechselausstellungen zu zahlreichen anderen Künstler*innen oder einzelnen Themen gezeigt werden. Von der Terrasse aus gibt es einen wundervollen Blick auf den Rhein und das Siebengebirge. Vielleicht haben Sie auch Glück und es gibt ein Konzert, wenn Sie in der Nähe sind.

Haus Venusberg liegt auf dem gleichnamigen Berg in Bonn. Es ist eine Begegnungsstätte für junge Menschen aller Kulturen und Religionen. Das Team hier bietet an, notfalls beim Anzünden des Lagerfeuers zu helfen oder besonders unheimliche Wege im dortigen Kottenforst für die Nachtwanderung zu verraten!

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Das Kardinal König Haus in Wien ist eine Einrichtung der Jesuiten und der Caritas und es ist sowohl Bildungszentrum als auch Tagungshaus. Das „Anliegen der Bildung fachlich und spirituell reifer Persönlichkeiten aus christlicher Verantwortung für die Gesellschaft“, von dem im Leitbild die Rede ist, vermittelt sich auch, wenn man einfach nur zu Gast ist. Angenehm gestaltete Räumlichkeiten, ausgewählte Kunstwerke und vor allem das so aufmerksame Personal tragen zu einem erfüllten Aufenthalt bei.

Das persische Wort baraye bedeutet für. Der iranische Musiker Shervin Hajipour hat aus dem einfachen Wort ein Lied gemacht, das sofort zur Hymne der aktuellen Aufstände gegen das Mullahregime wurde. Zwei Tage nach Veröffentlichung seines Lieds wurde er inhaftiert, wenn auch kurz darauf gegen Kaution wieder aus der Haft entlassen – wegen eines Lieds Für. Die ersten Zeilen des Textes, wie sie ins Englische übersetzt wurden, möchte ich Ihnen am Ende dieses Newsletters mitgeben. Oder Sie hören Shervin Hajipour selbst auf seinem YouTube-Kanal

Und haben Sie es gesehen? Der Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan, von dem ein Gedicht meinen letzten Newsletter beendete, ist inzwischen mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Hier die Aufzeichnung seiner Dankesrede.

Ich wünsche Ihnen eine warme Decke der Liebe und Empathie, einen Schutzraum voll Gemeinschaft.

Ihre Cornelia Coenen-Marx
Seele und Sorge GBR
Impulse – Workshops – Beratung

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Baraye 

For dancing in the alleys and the streets,

For the thrill and the fear of getting caught kissing

For my sister, my brother, and unity

For all the times we tried to change their minds and stale beliefs

For the loss of pride, and poverty

For the dream of just a normal life for you and me

Shervin Hajipour
übersetzt von Vainelämää auf lyricstranslate

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Informationen zu Terminen, guten Orten und Büchern
finden Sie auch auf meiner Homepage www.seele-und-sorge.de
Dort sind auch einige Vorträge nachzulesen.

In unregelmäßigen Abständen, etwa zwei- bis dreimal im Jahr, informiert der Newsletter über Aktivitäten von Seele und Sorge. Der nächste Newsletter wird zum Frühjahr 2023 erscheinen.

Ich freue mich auch über eine persönliche Nachricht: 
coenen-marx@seele-und-sorge.de

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Vielen Dank für Ihr Interesse.

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Cornelia Coenen-Marx, Pastorin und Autorin, OKR a. D.
Robert-Koch-Str. 113 d, 30826 Garbsen-Osterwald

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Texte und Bilder, wo nicht anders angegeben: © Cornelia Coenen-Marx
Lektorat: Dr. Dagmar Deuring | Büro für Texte in der textetage  
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