1. Texte und Textiles.
Spinnen, Weben, Netze knüpfen- in diesen einfachen Handarbeiten steckt unsere ganze Kultur. Die antike Mythologie erzählt von den Nornen oder Moiren, die den Lebensfaden spinnen.
Und die Geschichte von Odysseus, dem Herrscher von Ithaka, erzählt von der Treue seiner Frau Penelope, die sich am Webstuhl zeigt. Zehn Jahre dauerte der Krieg um Troja, in dem Odysseus kämpfte – und noch einmal zehn Jahre dann seine Irrfahrt. In dieser Zeit musste Penelope sich die vielen Männer vom Leib halten, die an ihr , aber mehr noch an dem Königreich, interessiert waren. Sie tat es, indem sie behauptete, sie müsse zuerst das Totenhemd für ihren Schwiegervater weben. Und so webte sie tagsüber an dem Hemd und löste das Gewebe in der Nacht wieder auf. Das Totenhemd, das nie fertig wurde, erzählte die Geschichte der Verbundenheit zwischen Odysseus und Penelope.
Aber auch Menschen mit Demenzerkrankungen lieben Textilien. Von der Tagung der Grünen Damen neulich habe ich eine Nesteldecke mitgebracht. Ich hätte sie gern schon gehabt, als meine Mutter erkrankt war – denn auch sie liebte es, mit den Fransen ihrer schottischen Wolldecke zu spielen. Ich sah sie dann manchmal am Sterbebett ihrer eigenen Mutter sitzen- damals war ich acht oder neun- und ein Kissen für sie sticken. Wir hatten es später lange auf der Coach liegen. Eine Erinnerung an Stunden der Verbundenheit.
2. Am seidenen Faden
Vielleicht kennen Sie das Gefühl, dass Ihr Leben – oder Ihr Lebensmut – am seidenen Faden hängt. Dass die Energie ausgeht oder die Kräfte bis zum Zerreißen angespannt sind. Mir ging es mit Mitte dreißig so. Damals hatte neben meinem Beruf als Gemeindepfarrerin verschiedene Ehrenämter angenommen und kam immer wieder mal an meine Grenzen. Heute würde man wahrscheinlich von Burnout sprechen. Damals las ich das Tagebuch von Luise Habels Tagebuch „Ich muss nicht immer stark sein“, das 1985 erschien.1 Luise Habel war schon mit einem Jahr an Kinderlähmung erkrankt und seitdem körperbehindert. Sie kämpfte mit dem Wunsch und dem Anspruch, trotz Gehbehinderung und höllischer Rückenschmerzen „mithalten“ zu können- beruflich und gesellschaftlich. Schon mit ihrem ersten Buch, „Herrgott, schaff die Treppen ab“, hatten sie ihren Finger in die Wunden einer Gesellschaft gelegt, die Fitness und Vitalität feiert und oft genug vergisst, welche Barrieren sie aufrichtet.
„Ich fühle mich sehr erschöpft. Meist habe ich sehr über meine geringen Kräfte gelebt“, schreibt Habel. „Jetzt denke ich: Ich erlaube mir meine Schwäche. Ich muss nicht immer stark sein. Ich versuche, mein Selbstwertgefühl nicht aus meinen Leistungen zu beziehen… Nur zu sein, das kommt mich hart an, aber ich will es üben.“ 2 Als ich ihr Buch las, ließ ich mich mitnehmen auf diesen Übungsweg: Es geht darum, die eigene Würde hoch zu halten- egal, was andere denken. Ein alkoholkranker Freund wurde Luise Habel zum Vorbild. Ihr hilft das „nur für heute“ der Anonymen Alkoholiker: Nur für heute meine Schwächen akzeptieren.
Die Vorstellung, dass der Tag kommt, an dem wir auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen sind, ist für die meisten schwer erträglich. Und nicht nur eine Behinderung, auch eine Demenzerkrankung konfrontiert uns damit. Ein Mensch, den wir lieben, braucht Hilfe- um das Essen zu sich zu nehmen, sich anzuziehen, sich nicht zu verlaufen. Das konfrontiert uns mit den Grenzen von Autonomie und Vernunft, den entscheidenden Werten modernen Lebens.
In einer Zeit, in der die Aufklärung unser Weltverständnis bestimmt, werden wir mit„ Gespenstern“ konfrontiert, die mit Erklärungen nicht zu verscheuchen sind. In einer Zeit, in der das Internet jederzeit alles Wissen verfügbar hält und nichts „vergisst“, müssen wir begreifen, dass unser Gedächtnis flüchtig ist. Wer mit Demenzkranken lebt und sie versorgt, kennt die Ohnmacht angesichts von „irrationalen“ Ängsten und wütender Verzweiflung. Das stellt unser Menschenbild in Frage- nicht nur das Bild der Person, die wir kannten.
Mich schickte die Demenzkrankung meiner Mutter auf diesen Übungsweg im Umgang mit Schwäche, mit Angewiesenheit und irrationalen Ängsten – aber auch mit dem Leben im Augenblick. „Nur für heute“ lernte ich, mich daran zu freuen, wenn sie die Enkeltochter auf dem Rollator schob und beide vor Freude kicherten – Minuten ungetrübter Lust und großer Lebendigkeit. Oder wenn sie einen Apfel schälte wie in meiner Kindheit- mit einer langen, bunten Schalenschlange, die sich ringelte. Dazu hatte sie sich lange keine Zeit genommen, aber sie konnte es noch. So lernte ich wieder, ganz im Jetzt zu sein, wenn ich abends aus dem Büro zu ihr kam. Ganz im Augenblick – auch in den dunklen Momenten, wenn die alten Gespenster sie überwältigten. Wenn sie glaubte, Kinder retten zu müssen – vor einem Feuer auf dem Boden ihres Appartements , vor den Soldaten, die sie im Park auf den Bäumen sah. Das waren dann die Momente, wo ich meiner Vernunft Dispens gab und ihr einfach half, die „Kinder“ zu retten, um die sie Angst hatte. Ja, ich fühlte mich verrückt, wenn wir beide mit Kissen und Decken durch den Raum liefen- aber letztlich, dachte ich, ist es eben die Liebe, die uns rettet, nicht der Verstand.
So lange sie stark war, hatte sie ihre Angst im Griff- die Angst der Kriegsbraut, die Bruder und Verlobten verloren hatte. Das machte sie zu einer starken Seelsorgerin, die andere in Todesangst begleiten konnte. Dann aber, in der Demenz, war die Schutzhaut dünn geworden und die Wunden schmerzten erneut. So wurde die Krankheit zur Bewährungsprobe, auch für die Familie – und ich war froh, dass ich sie gut genug kannte, um zu verstehen. Ihre Verletzungen, ihr Ringen um Stärke, die Disziplin und ihre Hellsichtigkeit. „Die Menschen hier brauchen Seelsorge“, konnte sie sagen, als manche Damen angesichts ihrer Verwirrtheit meinten, sie sollte jetzt besser auf dem Zimmer essen. Am Ende löste sich auch der Schmerz der Einsamkeit, weil alles Schmerzhafte ins Vergessen fiel. Selbst die Trauer, die sie so lange festgehalten hatte. Ich sehe sie im Rollstuhl am Grab ihres geliebten Mannes, wie sie ratlos auf den Grabstein sieht und mich anschaut, wie um mich zu trösten. „ Woran ist er denn gestorben?“ fragt sie, wie man nach einem Fremden fragt. Da war sie an ein Ziel gekommen- irgendwann, das ahnte ich, tut es nicht mehr weh. Und ich war froh, sie begleiten zu können auf diesem Weg. Denn, das war jedenfalls ihre Lebenserfahrung, solche Erfahrungen machen uns stark für andere. Wahre Stärke ist ja nichts, was uns für immer gehört- sie ist mit der Liebe verwandt, die wir austauschen, wenn einer sie nötig hat. Sie kommt zum Einsatz, wenn wir schwach sind. 3
An ihrem Todestag, als wir Schwestern im Apartment saßen und alte Fotos anschauen, wollte sie uns den Kaffeetisch decken. Es war Ostersamstag „Ich stehe gleich auf und mache es Euch schön.“ In diesen letzten Tagen haben wir Entdeckungen gemacht, die vom gelebten Leben, von Sehnsucht und Schönheit erzählten. Der Duft ihres gewohnten Parfums, der geliebte Ostfriesentee, eine alte Melodie, das selbst gekochte Apfelmus, ein unverwechselbarer Kosename können Wunder wirken. All das konnte sie ins Leben zurückholen , auch wenn dieses Leben schon am seidenen Faden hing.
Der Dichter Marcel Prost beschreibt in seinem Buch „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ , wie ihm der Geschmack der Madeleines hilft, sich in seine Kindheit zurück zu versetzen – eine fast mystische Erfahrung. Wer mit Demenzkranken lebt, kennt das. Ein Gericht aus der Kindheit, ein altes Bild, der Duft eines Parfums, eine Blüte – alles beginnt zu sprechen. In jedem Augenblick kann sich ein großes Geheimnis enthüllen.
3. Das Freundschaftsband
Der Dichter Arno Geiger, der die Begleitung seines Vaters literarisch verarbeitet hat, schreibt über den „Alten König“, wie er ihn nennt: „Oft ist es, als wisse er nichts und verstehe alles. Einmal, als ich ihm die Hand gab, bedauerte er mich, weil die Hand kalt war, ich sagte, ich käme von draußen aus dem Regen. Er behielt meine Hand zwischen seinen Händen und sagte: „Ihr könnt tun, was ihr zu tun habt, ich werde derweil diese Hand wärmen.“
Heute, in Zeiten der Pandemie, lese ich das mit Traurigkeit – und denke an all die Menschen, die die Gesichter ihrer Angehörigen und Pflegenden unter der Maske nicht mehr erkannten und schließlich sterben mussten ohne eine Hand, die sie hielt.
Der Fotograf Michael Hagedorn hat Familien besucht, in denen Demenzkranke gepflegt werden. Seine Bilder waren in der Ausstellung „Kunst trotzt Demenz“ zu sehen.4 Viele berühmte Künstler haben freiwillig und ohne Honorar daran teilgenommen. Er habe dabei wunderbare Menschen kennen gelernt, sagt Hagedorn. Und tatsächlich zeigen die anrührenden Fotos eine Schönheit und Würde jenseits der Normalität. Vielleicht brauchte es die Freiheit und Kreativität eines Künstlers, das zu entdecken. Denn die Angehörigen, meint Hagedorn, opferten sich auf und akzeptierten zu wenig Entlastungsangebote. So verlören sie nach und nach die Freiheit, die Kranken in ihrer Besonderheit wahrzunehmen.
„Wenn man gewohnt ist, Probleme zu lösen, indem man einen Haufen Geld hinwirft und plötzlich feststellen muss, dass ein Problem finanziell nicht zu lösen ist, ist das fatal“. Stefan, ein früherer Investmentbanker, hat diese Erfahrung gemacht, als er entdeckte, dass seine Mutter dement wurde. Ihre zunehmende Verwirrung, ihre Depressionen brachten ihn dazu, sein Leben zu verändern. Das war zwei Jahre nach der Finanzkrise. Da hatte er sich, wie mancher in seiner Branche, heftig verspekuliert. Aber das war nicht der Grund dafür, dass er sein Leben umkrempelte. Er liebte den Stress, das Risiko, die Abende an den Hotelbars. Er liebte seine Freiheit. Aber was war diese Freiheit wert, wenn seine Eltern dabei auf der Strecke blieben - die Menschen, denen er Leben und Ausbildung verdankte? Stefan krempelte sein Leben um, er verzichtete auf riskante Börsenabenteuer und aufregende Reisen. Stattdessen zog er in die Stadt seiner Kindheit, kaufte ein altes Fachwerkhaus und gründete eine Stiftung für Demenzkranke, das Haus „Vergissmeinnicht“ „Ich habe alles gesehen und gemacht“, sagt er. „Ich bin bereit, erwachsen zu werden“.5
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„Die Stimme der Demenzkranken erinnert uns daran, dass unsere Gesellschaft zu sehr von Konkurrenz, Vereinzelung und Egoismus geprägt ist“, sagt der Soziologe Reimer Gronemeyer. In einer solchen Gemeinschaft ist es schlecht bestellt um den Schutz der Schwachen, der Kinder, der Kranken.6 Vielleicht hat das damit zu tun, dass wir Freiheit falsch verstehen. Martin Luther, der sehr tiefgehend darüber nachgedacht hat, spricht von der doppelten Natur des Menschen: Von unserer Freiheit und Größe, aber auch von unserer Verletzlichkeit und Gebundenheit. Wer glaubt , er wäre ganz und gar unabhängig, der merkt vielleicht gar nicht, dass er dem eigenen Ehrgeiz oder der eigenen Gier aufsitzt, vergisst, dass er sein Leben nicht selbst geschaffen hat. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan“, schreibt Luther in einer seiner wichtigsten Thesen. Aber dann fährt er fort: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“. 7Die erwachsene Freiheit rechnet damit, dass wir einander brauchen und für einander da sein müssen,
um ganz zu uns selbst zu kommen. Erwachsensein, das heißt, Autonomie und Bindung in eine gute Balance zu bringen.
Wer mit Demenzkranken lebt, wird allein schnell zum hilflosen Helfer. In einer solchen Situation brauchen wir Unterstützung, um uns nicht selbst zu verlieren – Freundinnen, Nachbarn, Krankenschwestern, die einen anderen Blick mitbringen. Und unsere Gesellschaft braucht Menschen wie Stefan, die begreifen, dass Freiheit ohne Verantwortung ins Leere läuft – freiwillig Engagierte, Stifterinnen, die ihr Vermögen einsetzen, Politiker, die sich um das Gemeinwohl kümmern, Menschen, die für andere da sind und ihnen helfen, das eigene Leben zu leben. Denn wer Menschen mit Behinderung helfen will, möglichst lange selbständig zu leben, wer demenzkranke Ältere oder Sterbende begleitet, der wird auf Dauer nur dann erfolgreich sein, wenn der andere sich ernst genommen fühlt. Und das heißt: auch die Freiheit der Kranken will anerkannt werden. Ihr eigenwilligen Lösungen, ihr Hinweis auf Grenzen, ihre inneren Bilder – das alles will respektiert sein.
Menschen, die uns lange kennen, verstehen die Bedeutung unserer Worte, wo ein Fremder nur noch Kauderwelsch hört. Wenn es darum geht, was wirklich wichtig ist, wenn so vieles zerbricht und weggeräumt werden muss, oder was auf unserem Nachtisch steht, wenn wir sterben – wenn es darum geht, wie wir sterben, dann brauchen wir Angehörige und Freundinnen, die unsere kulturellen Prägungen, religiösen Überzeugungen, unsere einzigartige Geschichte kennen. Ich träume deshalb von Pflegeeinrichtungen, in denen die Mitpflege von Freunden und Angehörigen denkbar ist. Von einer Zukunft, in der die Sektorengrenzen zwischen ambulanter, teilstationärer und stationärer Pflege sich auflösen. Wohnung, Medizin und Pflege, Dienstleistungen und Beratung müssen zu einem je individuellen Hilfepaket geschnürt werden. Aber dieses „ Paket“ muss offen bleiben für die schönen Überraschungen, die die Begleitung eines Menschen bis zum Schluss bringen kann.
Denn es gibt ja eine Gegenwart auch für Demenzkranke und es wäre vollkommen falsch, sie auf die Vergangenheit festzulegen. Vielleicht entwickelt jemand eine Zärtlichkeit, die er früher immer gescheut hat. Entdeckt einen Genuss, den er sich lange verboten hatte. „ Wir gehen davon aus, dass man bei uns noch eine Zukunft hat, etwas erleben und etwas lernen kann“, sagt die Heimleiterin Andrea Siegl. „Es kann ja auch ein großer Segen sein, den ganzen anerzogenen Ballast loszuwerden, alles Anerzogene und Übergestülpte, wo wir oft gar nicht wissen, wer wir eigentlich selbst sind, was unser Eigenes ist. Das loszuwerden kann im geeigneten Umfeld ein Segen sein. „Ich denke wieder an meinen Übungsweg mit meiner Mutter und ich bin unendlich dankbar für die Monate und Jahre, die mich geprägt haben- von Tag zu Tag mehr. Neulich habe ich entdeckt, dass es neuerdings Erinnerungsbändchen gibt – so wie Freundschaftsbänder, in die man den Namen oder eine Erinnerung an die verstorbene Person eintragen kann. Was mir an Freundschaftsbändchen gefällt, ist die Verflochtenheit von einem mit dem anderen- für mich ein Bild der wechselseitigen Stärkung. Einer mag überwältigt werden, aber zwei können widerstehen“ , heißt es einmal in der Bibel, „ und eine dreifache Schnur reißt nicht leicht entzwei“ (Prediger 12). Und tatsächlich wäre auch unser Miteinander nicht gelungen ohne das Team in dem Stift und ganz sicher nicht ohne die Freundinnen, die sich an den Nachmittagen abwechselten – und ohne das Team an meinem Arbeitsplatz, das Verständnis hatte, wenn ich nicht immer voll einsatzfähig war.
4. Das Gewebe der Gemeinschaft :
Heute ist es medizinisch möglich, chronisch Kranke noch lange aktiv, ja sogar berufstätig zu erhalten, sodass der Tod dann oft sehr plötzlich kommt. Prominentes Beispiel war der Düsseldorfer OB Joachim Erwin, der noch wenige Tage vor seinem Tod eine Dienstreise nach Japan unternahm – trotz einer schweren Krebserkrankung. Ganz anders verhalten sich Menschen mit der Diagnose Alzheimer: So wandte sich der ehemalige amerikanische Präsident Ronald Reagan mit einem Abschiedsbrief an sein Volk, als er spürte, dass die Demenzerkrankung ihn veränderte. Der soziale Tod beginnt oft lange vor dem physischen. Mit körperlichen Erkrankungen und Behinderungen haben wir gelernt, zu leben; der geistige Verfall isoliert und macht einsam.
Das Schwierigste“, schreibt der Soziologe Norbert Elias,“ ist die stillschweigende Aussonderung der Alternden und Sterbenden aus der Gemeinschaft der Lebenden, das allmähliche Erkalten der Beziehung zu Menschen, denen ihre Zuneigung gehörte, der Abschied von Menschen überhaupt, die ihnen Sinn und Geborgenheit bedeuteten.“
Umso wichtiger ist es, dazu beizutragen, dass auch demenziell erkrankte und pflegebedürftige Menschen gute Stunden haben können: Unter der Voraussetzung nämlich, dass sie in einer Umwelt leben, die anregt und fördert und ein ausreichendes Maß an Zuwendung gewährleistet. Dazu braucht man Humor und tragfähige Beziehungen zu anderen Menschen. Stella Brahm, die ein Buch über das Leben mit ihre Alzheimerkranken Vater geschrieben hat, hat ans Ende einen Forderungskatalog gesetzt und beschrieben, was sich gesellschaftlich ändern muss. Kurz vor Drucklegung las sie ihm diese Seiten vor. Und er sagte strahlend :„ Du liest es mit solch einer Begeisterung vor, dass ich denke: das ist es.“ Arm in Arm saßen sie da ihre Gesichter berührten sich.„ So schön warm“, murmelt er zufrieden, „gemeinsame Dinge helfen uns. Lass uns versuchen, füreinander eine sichere Zuflucht zu sein. Die Begegnung mit einem anderen ist für mich von ekstatischem Wert.“ Sie ahnen es: der Vater war Psychologe – und hier knüpfte er ganz existenziell an seine Arbeit an. Und Stefan Beyer, der in seinem Buch „ Demenz ist anders“, die einfühlsame Begleitung seiner Mutter schildert, erlebt sie in ihrer Demenz zu seiner eigenen Überraschung als„ stark, sehr lebendig, echt und berührend, vielleicht sogar mehr als vorher.“8
Demenzkranke Menschen vermissen längst verstorbene Angehörige, ihre Eltern und Ehepartner, aber auch Familienmitglieder, die anderswo leben – oft so sehr, dass sie sie in ihrer Phantasie „herbeizaubern“ und mit ihnen leben, wie sonst nur kleine Kinder das tun. Zeit und Raum verlieren ihre Bedeutung. Ob der Sohn ,die Tochter am Telefon mit ihnen spricht, oder körperlich anwesend ist, kann dann nicht mehr unterschieden werden. Alles geschieht gleichzeitig, die Welt ist bevölkert mit den eigenen Lieben, aber auch mit bösen Mächten – und dann wieder erschreckend leer und ohne jeden Sinn. Irgendwo auf dem Weg „nach Hause“ hat das Leben sich
verloren – Menschen warten im eigenen Zimmer wie in der Fremde auf ein Zeichen des Vertrauten, auf einen Menschen, dem sie vertrauen können. Vergessen und vom Dasein ausgespuckt – ein Bild für das „Geworfensein des Menschen in die Welt“, von dem Jean Paul Sartre Sartre einst sprach. Pflegekräfte, Angehörige und Ehrenamtliche stehen dann vor der Herausforderung, sich dieser Einsamkeit zu stellen und sie, soweit das möglich ist, wenigstens für kurze Zeit zu teilen.
Dazu ist zuerst und vor allem der Respekt vor der Individualität des gelebten Lebens notwendig; die je eigene Sprache, Bilder und Erinnerungsfetzen, Gewohnheiten , Vorlieben und Ängste eines Menschen müssen auf diesem Hintergrund begriffen werden. So wie die Falten im Gesicht das Leben spiegeln, so ist die Kultur eines Menschen durch die Furchen seines unverkennbaren Weges geprägt „Es ist noch immer eine Person da, die diese Situation erlebt und in irgendeiner Weise bewältigt“, schreibt Beyer. Bücher, Bilder und Erinnerungsstücke erzählen davon genauso wie der Umgang mit Mahlzeiten, Tagesrhythmen und Kleidungsgewohnheiten. Auch wenn Gestaltungskraft und Energie zum eigenständigen Leben fehlen – das Selbstkonzept, das kulturelle Gerüst der Identität, kann einen Menschen noch lange aufrecht halten. In einer guten Kooperation mit Angehörigen und Freunden lässt sich herausfinden, welche Lieblingsspeisen, oder Kleidungsstücke, welche Musik dazu beitragen können, belebende Erinnerungen aufzufrischen und auch neue, wohltuende Erfahrungen zu machen. In Gudrun Piechottas Buch „ Das Vergessen erleben“ 9 erzählt Edith Gabler, wie sehr sie es genießt, einfach nur aus dem Fenster zu schauen – und eben nicht mehr für andere da sein zu müssen.
Damit das gelingt, ist eine Atmosphäre von Schutz und Sicherheit wesentlich. Dazu zählen nicht nur die Sturzprophylaxe oder der Schutz vor dem Weglaufen. So hilfreich Medikamente sein können, die die Angst nehmen, wichtiger ist die Geborgenheit in einer überschaubaren Gruppe, in der sich Lebensrhythmen und Gewohnheiten entwickeln können und das Gefühl der Fremdbestimmung und Verlorenheit eingegrenzt wird. Keine Dokumentation oder Teamübergabe kann die Erfahrung ersetzen, die Pflegende und Bewohner in einem nahezu täglichen Miteinander machen. Dabei gilt es, Eigenaktivität und soziale Teilhabe auch schwer Demenzkranker zu fördern. Gebraucht zu werden, sich mit anderen auszutauschen, bleibt für jeden Menschen wichtig. Das Tablettessen im Zimmer, das gut gemeinte Vorenthalten von Informationen verstärkt nur die Isolation. Demenzkranke brauchen Pflegende, die offen, im übertragenen Sinne suchend und Bedeutung gebend auf Äußerungen und Aktivitäten reagieren können, sie brauchen eine integrierte, erlebnisorientierte Pflege.10
Die Altenpflegerin Sonja Schilf 11spricht von magischen Momenten in der Altenpflege, Momente, die ihr Herz berühren und neue Energie geben. In denen sie mit der gepflegten Person auf einer Ebene ist, mit ihr schwingt- mit und ohne Worte. Ich denke dabei an Freya Klier und ihren Demenzchor; gerade während der Corona-Pandemie hatten wir Gelegenheit zu sehen, wie sie den Chor aufgebaut hat. Mit Betroffenen und ihren Angehörigen. Mit Volksliedern, Schlagern – mit Solisten und Pianisten. Alle, die ein Instrument spielten, waren mit Herz und Seele dabei. Und mit den Liedern kam die Erinnerung, wuchs die Verbundenheit – da entstand eine Gemeinschaft, die jeden und jede aus der Isolation holte.
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5. Die silbernen Klammern am Freundschaftsband.
„Wenn ich das Sagen hätte, würde ein Staatssekretär für die Emanzipation von Menschen mit Alzheimer eingesetzt und die Politik träfe Vorbereitungen für die Demenz-Explosion. Dann stünden unsere Wünsche bei der Pflege im Mittelpunkt und auch der Demenzkranke hätte das Recht auf Privatsphäre und Freiheit. Ruhe-Medikation ( würde ) verboten und der Kranke könnte jeden Tag ausgiebig schmausen“. Das sind nur einige der Forderungen , die Stella Braam in ihrem Buch „ Ich habe Alzheimer- Wie die Krankheit sich anfühlt“ stellvertretend und in Kooperation mit ihrem Vater aufgeschrieben hat. Das Buch zielt auf eine maßgeschneiderte Pflege für jeden Einzelnen und bezweifelt zugleich, dass die dazu notwendigen Veränderungen aus dem Pflegesektor selbst kommen können.
An den Zitaten und Erzählungen wird deutlich: Längst ist neue Angehörigenbewegung entstanden, die die Versorgung Demenzkranker aus der Tabuzone ins öffentliche Interesse rückt wie einst die Hospizbewegung das Sterben. Neben Stella Braam und Stefan Beyer gehörte auch Tilmann Jens zu denen, die die Erkrankung eines prominenten Vaters offen thematisiert haben. Das ist alles andere als selbstverständlich. Denn Demenz konfrontiert uns mit den Grenzen von Autonomie und Vernunft, den entscheidenden Werten modernen Lebens. In einer Zeit, in der die Aufklärung unser Weltverständnis bestimmt, werden wir mit„ Gespenstern“ konfrontiert, die mit dem Verstand nicht zu verscheuchen sind. Die Vorstellung, dass auch wir selbst wie jeder Dritte in der Bevölkerung in Zukunft betroffen sein können, dass wir auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen sein könnten, damit wir nicht fallen, uns nicht verlaufen, das Essen zu uns nehmen, ist schwer erträglich. Nicht nur die Versorgungsfrage ist eine Herausforderung.
Die Hochbetagten, Dementen und Pflegebedürftigen sind von zunehmender Exklusion betroffen und brauchen Unterstützung, um auch weiterhin Teil der Gemeinschaft zu bleiben“, sagt Prof. Eckart Hammer aus dem Beirat des Projekts „Alter neu gestalten“ der Evangelischen Kirche in Württemberg.12 Denn es gibt auch eine gegenläufige Entwicklung. Mit der Entdeckung der dritten Lebensphase, des jungen, aktiven Alterns, rückte die Hochaltrigkeit als vierte Lebensphase weiter nach hinten – und wird oft
genug verdrängt. Die Angst vor Pflegebedürftigkeit und Demenz ist gewachsen und wird von den Debatten um Pflegenotstand und assistierten Suizid befeuert. Viele fürchten, nicht gut versorgt zu sein, wenn sie sich selbst nicht mehr versorgen können. Umso mehr genießen sie die geschenkten, gesunden Lebensjahre. Reisen, Sport, neue Freundschaften und Beziehungen, ehrenamtliches Engagement – die Power Ager sind aktiv. Wir wollen als Gestalter ihres Lebens wahrgenommen und eben nicht auf die zunehmende Gebrechlichkeit und Verletzlichkeit reduziert werden
Und tatsächlich bedeutet alt zu werden ja nicht unbedingt Pflegebedürftigkeit und Demenz. Nur 15 Prozent der 80-84-jährigen und 26 Prozent der 85-89-jährigen sind von Demenzerkrankungen betroffen. Und auch Pflegebedürftigkeit nimmt zwar mit dem Alter zu – bei den 80 bis 86-jährigen sind es 20 Prozent, aber erst über 85 steigt der Anteil auf 40 Prozent. Die meisten möchten sich allerdings erst einmal nicht damit beschäftigen, wenn das Alter beginnt. Auch deshalb besteht die Gefahr, dass diese Gruppe vom gemeinsamen Leben ausgeschlossen wird. Nicht nur im Pflegeheim, sondern auch in der Nachbarschaft.
Angesichts der wachsenden psychosozialen Bedarfe werden Nachbarschaft, Quartiere und auch die Kirchengemeinden aber neu gefordert. Das Gemeinwesen mit seinen Institutionen sind so etwas wie die Klammer, die das Freundschaftsband zusammenhält. Der vierte Teil der vierfachen Schnur. Das geistliche Zentrum für Menschen mit Demenz in Berlin ist ein gutes Beispiel für die Chancen, die im Quartier liegen. Dort hat ein Sozialunternehmer ein Tanzcafé für Demenzkranke eingerichtet hat. Mit Musik, die zurück in die goldenen 20er und An30er führt. Auch Gottesdienst wird dort gefeiert: einfach, sinnlich und sehr lebendig. Menschen geben Zeit und setzen Phantasie ein, um ihn vorzubereiten – und viele davon sehen darin ein Stück Lebenssinn. Arbeitslose, Hartz.IV:-Empfänger und Ältere haben hier ihren Einsatzort gefunden. Das ist eine Gemeinde auf dem Weg zur Caring Community.
Caring Communities entstehen, wo Familie, Freunde, Nachbarschaft , Ehrenamtliche und professionelle Organisationen Hand in Hand arbeiten und Netzwerke im Quartier bilden. Wenn ich davon erzähle, erinnere ich mich immer an meine Erlebnisse in Marbach am Neckar, wo ich dabei sein durfte, als verschiedene Pflegevereine, Sportvereine, soziale Organisationen eine gemeinsame Homepage entwickelten und sich vernetzten- unterwegs zur demenzfreundlichen Stadt. Nicht nur Angehörige und Nachbarn, nicht nur soziale Organisationen sollten beteiligt sein, nicht nur Ärzte und Apotheken, sondern auch Supermärkte, Kinos und Verkehrsmittel. Eine Vorstellung, die alle in Bewegung setzte. Vielleicht auch uns.
Cornelia Coenen-Marx, Frankfurt, 20.9.22
1 Luise Habel, Ich muss nicht immer stark sein, München 1985
2 S. 43
3 2Kor 12,9b: „Darum will ich mich am liebsten meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi bei mir wohne. (10)
4 Kunst trotzt Demenz, Edition Chrismon, Hansesches Druck- und Verlagshaus 2009
5 Stefans Geschichte wird erzählt im „ Stern“-Sonderheft Gesundheit zum Thema „ Raus aus dem Stress“, 4/2010
6 Prof. Dr. Reimer Gronemeyer, Gießen, in der Einleitung zu „ Kunst trotzt Demenz“, Edition Chrismon, Hansesches Verlagshaus 2009
7 Martin Luther, „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen. Ein Arbeitsbuch. Bd. III. Hg. Von Heike A. Obermann, Neukirchen 1981
8 Stefan Beyer: Demenz ist anders. Über den Versuch einer einfühlenden Begleitung. Balance, Bonn 2007
9 Gudrun Piechotta: Das Vergessen erleben. Lebensgeschichten von Menschen mit einer demenziellen Erkrankung, Frankfurt 2008
10 vgl. z.B. Cora van der Kooij, Ein Lächeln im Vorübergehen, erlebnisorientierte Altenpflege mit Hilfe der Mäeutik, Bern 2007
11 Schilf, Sonja, Magische Momente in der Altenpflege , 2019
12 Dokumentation des Projekts „Alter neu gestalten“ der Landesarbeitsgemeinschaft Ev. Senioren in Württemberg, 2017