Das Gold, das die Hoffnung stärkt – Zusammenhalt in Brüchen

1. Neuentdeckung der Gemeinschaft

Während der Pandemie gab es an vielen Orten in Deutschland ehrenamtliche Netzwerke, um einsame, ältere Menschen oder Menschen mit Behinderung  zu unterstützen- mit Einkaufsdiensten, bei Arztbesuchen, bei Fahrten zum Impfzentrum.  Eines davon war besonders erfolgreich. Es startete in Witzenhausen bei Kassel unter dem Motto: „Dich schickt der Himmel“. Ich denke, zum Erfolg trug bei, dass sich ganz verschiedene Träger zusammengeschlossen hatten:  die evangelische Gemeinde mit der Stadt, den katholischen  Pfadfinder*innen und dem Kreisjugendring.  So kamen innerhalb von drei Tagen über 150 Ehrenamtliche und 230 Hilfesuchende zusammen. Jeder gehörte dazu , jeder konnte sich melden. „ Dich schickt der Himmel“ war ein  offenes Netzwerk mit einem gemeinsamen Auftrag. Und vielleicht hat auch da Motto zum Erfolg beigetragen: Die Sehnsucht nach Begegnung und Gemeinschaft war selten so groß wie in diesen Monaten.

Nach einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt es in Deutschland 16,8 Millionen Singles zwischen 18 und 65 Jahren – das sind immerhin 30 Prozent der Frauen und Männer im mittleren Alter.  40 Prozent der Älteren über 70 leben allein.17 Prozent der Deutschen geben an, dass sie sich regelmäßig einsam fühlen. Während der Pandemie allerdings gaben 42 Prozent der Deutschen an, dass sie sich gelegentlich einsam fühlen. [1]

Einsamkeit gehört denn auch zu den Begriffen, die während der Corona-Pandemie aus der Tabuzone herauskamen. Ein zweiter, für die meisten neuer Begriff kam hinzu: Vulnerabilität war das Wort dieser Zeit. Es repräsentierte unsere Verletzlichkeit und erinnerte uns – wie die Statistiken- täglich an unsere Sterblichkeit. Für viele eine neue Erfahrung. Zugleich wurde uns bewusst, wie schlecht wir mit Einsamkeit und Verletzlichkeit umgehen können. Gerade in den Langzeitpflegeeinrichtungen starben besonders viele ältere Menschen und in den Quartieren fehlen Strukturen, die den Generationen helfen, einander zu unterstützen. So engagieren sich nun viele ehrenamtlich in der Nachbarschaftshilfe oder sie beginnen, ihre Unterstützungsnetzwerke selbst aufzubauen.

Auf Schloss Blumenthal in Bayern haben sich Menschen zusammengetan, um anders miteinander zu leben. Eine bunte Mischung von Individualisten vom Parkettpfleger über die Medizinerin, die Hotelkauffrau bis zur Steuerfachangestellten oder zur Yogalehrerin. Ihre Zukunftsvision ist ein Grundeinkommen für jedes Mitglied aus den Gewinnen der Betriebe und eine gemeinsame Altersversorgung „Wir stehen hier immer vor der Frage, wie sieht unsere Balance zwischen Ökonomie und Gemeinschaft aus“, sagt der Geschäftsführer von Schloss Blumenthal, Martin Horack, der mit acht Familien begann und inzwischen in einem kleinen Dorf lebt – mit Kindern und Älteren und Menschen aus allen Berufsgruppen. Schloss Blumenthal ist eine GmbH und Co KG; die wirtschaftliche Basis bildet ein Hotel mit achtzig Betten in einem alten Herrenhaus, ein Gasthaus sowie Gärten und Parks. Wohnprojekte, Wohngenossenschaften und Mehrgenerationenhäuser ziehen vor allem Senior*innen und junge Familien an, aber auch Singles oder Menschen mit Behinderung. Eben alle, die auf eine funktionierende Nachbarschaft angewiesen sind. Alle.  die den richtigen Mix aus Selbstbestimmung und wechselseitiger Hilfe suchen.

Das Spannungsfeld zwischen Gemeinschaft und Wirtschaftlichkeit ist alt – und spielt heute wieder eine große Rolle. Wir spüren das in den diakonischen Unternehmen, wo kaum noch Zeit für Beziehungsarbeit, Team – und Kulturentwicklung bleibt – geschweige denn für gemeinschaftliche Angebote. Wir spüren das aber auch in der Gesellschaft, die insgesamt auf Erwerbsarbeit ausgerichtet ist. Für Menschen, die alleinerziehend mit Kindern leben, die in die dritte Lebensphase eintreten und damit rechnen, mehr Hilfe zu brauchen, oder für Singles, die einen Ort der Zugehörigkeit suchen, wird es wichtiger, darüber nachzudenken, wo und wie sie leben.

Ich denke an eine diakonische Initiative von Eltern behinderter Kinder, die zusammen einen Reiterhof gründen. An die Ehrenamtlichen in der Hospizarbeit, die einen Jugendlichen aus einer Migrantenfamilie im Sterben begleitete- und seitdem die deutsche Oma der ganzen Familie geworden ist. Oder an die Angehörigen, die eine Wohngemeinschaft für Komapatienten gegründet haben, und die Mitarbeitenden dort als Familien unterstützen. An die Diakonie-Hotels, in denen Menschen mit Behinderung das Serviceteam stellen. Solche neuen Gemeinschaften wachsen an vielen Orten, vielleicht weil wir spüren, dass Professionalisierung und Funktionalisierung allein  nicht genügen.  

Sorgende Gemeinschaften  basieren auf wechselseitiger Unterstützung – sie sind aber zugleich ein Mix aus Selbsthilfe, freiwilligem Engagement und beruflicher Arbeit. Sie entwickeln sich vor allem in den Nachbarschaften, in Wohnprojekten und sozialen Initiativen von Angehörigen und Betroffenen – manchmal auch in Kirchengemeinden, zumeist aber jenseits der unternehmerischen Diakonie, die sich nach Angeboten und Strategien sortiert und wirtschaftlich arbeiten muss wie andere Dienstleister auch. Sorgende Gemeinschaften haben  einen anderen Umgang mit Zeit und Gefühlen – nicht alles kann und muss geplant und  kalkuliert werden, nicht alles kann refinanziert werden. Gerade deshalb passen „Sorgenden Gemeinschaften“,  Caring Communities in unsere Zeit. Gemeinschaft entsteht hier aus der wechselseitigen Sorge.

Damit erinnern die Caring Communities an die diakonischen Gemeinschaften des 19. Jahrhunderts – mit einigen entscheidenden Unterschieden: Es handelt sich um Wahlgemeinschaften auf Zeit –  mit selbstgewählten Verpflichtungen. Sie werden öfter von den Betroffenen als von  Organisationen oder Profis getragen. Dabei wird die Vielfalt der Beteiligten als Gewinn verstanden.

2. Engagement für die Verletzlichen

Nicht nur die Corona-Krise, auch die Klimakatastrophe und der Krieg gegen die Ukraine haben unser Lebensgefühl, den Lebensstil und auch das Engagement verändert. Auch bei der Flut an der Ahr und  bei der Unterstützung von Flüchtlingen  gingen die Initiativen in aller Regel von freiwillig Engagierten in der Zivilgesellschaft aus. Soziale Netzwerke und Websites haben dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Menschen ließen sich anrühren von den erschütternden Bildern in der Nachbarschaft – sie fuhren für ein oder zwei Wochenenden, manchmal aber auch für ein paar Wochen an ihren Einsatzort, nahmen den Jahresurlaub, organisierten weitere Hilfe. Sie fuhren an die Grenze der Ukraine, holten unbekannte Geflüchtete ab, nahmen Fremde in ihre Häuser auf- manchmal für Monate. Viele erzählten von dem Gefühl, gebraucht zu werden, etwas weitergeben zu können, Gemeinschaft zu erfahren. Und oft hatte ich beim Zuhören das Gefühl, hier geht es um Spiritualität und Lebenssinn.

Wir sprechen seit 40 Jahren vom so genannten neuen Ehrenamt- von Menschen, die sich eben nicht mehr an Organisationen binden, sondern an eine Aufgabe, an ein Projekt. Das ist auch in diesen Fällen so – anders aber als bisher sind Menschen jetzt bereit, sehr viel mehr Zeit aufzubieten, ihre Häuser und ihr Leben zu öffnen, so lange es nötig istDahinter steht die Überzeugung, auch selbst in einer solchen Situation sein zu können- die Obdachlosen, die Geflüchteten, sie sind wie ich. In allen diesen Fällen kam die organisierte professionelle Hilfe der Kommunen, der Kirchen, der Wohlfahrtsverbände hinterher. Wo die Zusammenarbeit auf Augenhöhe gelang, entstanden auch in diesen Fällen Sorgende Gemeinschaften. In Flüchtlingslagern, an der Ahr und anderswo wurde zusammen Advent gefeiert und auch der Verstorbenen gedacht.

Kennzeichnend für die neuen Aufbrüche ist der Perspektivwechsel: Im Mittelpunkt steht jeweils der verletzte, der traumatisierte Mensch. „ Das Evangelium verlangt von uns, das Risiko der Begegnung mit den Angesicht des anderen einzugehen, mit seiner physischen Gegenwart, die uns anfragt, mit einem Schmerz und einen Bitten und mit seiner ansteckenden Freude im unmittelbaren Kontakt“ [2] sagt Papst Franziskus.  Das gilt seit langem auch in der Hospizarbeit, wo wir von der Orchestrierung der Hilfe um den Sterbenden reden. Zugehörige, Freiwillige und Profis aus den verschiedenen Berufsgruppen vom ärztlichen Dienst über Pflege und Seelsorge bis zur Ernährungsberatung verstehen sich als Team, in das jeder – je nach den Bedarfen und Bedürfnissen der Sterbenden- die eigenen Gaben wie die eigene Professionalität  einbringt. Trotz der großen Belastung, die mit den vielen Abschieden einhergehen, empfinden viele Pflegende und Arzt*innen den Dienst im Hospiz als erfüllend – gerade auch im Vergleich zu den Diensten auf  Station eines Krankenhauses  oder in der Langzeitpflege, die nicht nur mit erheblichem Zeitdruck einhergehen,  sondern auch mit vielfältigen, moralischen  Dilemmata – vor allem deshalb, weil die Rahmenbedingungen es häufig nicht erlauben, dem eigenen Ethos nachzugehen.

Die Theologin Hildegund Keul hat sich auf dem Hintergrund von Corona mit Vulnerabilität und Vulneranz beschäftigt[3] – dabei versteht sie unter Vulneranz den Versuch, durch Disziplin und Härte – auch gegen sich selbst- die eigene Verletzlichkeit abzuwehren und die der anderen nicht zu sehr an sich herankommen zu lassen. Sie macht deutlich, dass über ein solches Verhalten ein Regime errichtet wird, das letztlich die Verletzlichkeit aller Beteiligten steigert. Aber Wunden verbinden“, schreibt Theologin Hildegund Keul. Sie sind ein Ort der Kommunikation. Verletzungen erzeugen eine Öffnung, ermöglichen intensiven Austausch, ja Intimität Ich denke an den barmherzigen Samariter, der den Verwundeten am Wegrand entdeckt und seinen Weg unterbricht. Der dem Fremden die Wunden auswäscht, ihn auf sein Reittier setzt und ihn in ein Gasthaus zur Pflege bringt und dafür auch zahlt.

Hildegund Keul spricht vom Verschwendungsparadox. Die Verletzlichkeit des anderen  macht die Liebe nur größer. Wie bei der Frau, die Jesus noch in den letzten Tagen die Füße salbt – mit kostbarem Parfüm Öl. Lebensverlust erzeugt Lebensgewinn, wenn man bereit ist, sich selbst zu verschwenden.

Ein Beispiel dafür ist auch der chinesische Arzt Li Wenliang , der das Corona-Virus frühzeitig entdeckte und sich nicht scheute, es bekannt zu machen, um andere zu schützen. Er starb am Ende selbst an Corona. Das Regime hat ihn nicht geschützt- im Gegenteil. Aber auch in einem Sozialstaat wie bei uns ist es diese Haltung, die Ärzt*innen oder Pflegende auszeichnet. Die eigene Arbeit stellt die anderen in den Mittelpunkt. Genau das meint auch Franziska Böhler,  wenn sie stolz schreibt: „I am a nurse“.[4] 

3. Jobs und  Berufungen

Dass Arbeit mehr ist als nur ein Job, dass sie mit uns selbst, unserer persönlichen Entwicklung, unseren Netzwerken zu tun hat, wird zur Zeit vor allem in der Szene der Gründer, und Künstler neu entdeckt – es gilt aber auch und gerade für die Diakonie und die soziale Arbeit. Arbeit ist sichtbar gemachte Liebe“ sagt Catharina Bruns. [5] Sie empfiehlt, ganz bewusst mit denen zusammen zu arbeiten, die ihren Beruf lieben. Damit sind wir sehr nah an den Motiven, die den Aufbruch der Diakonie im 19. Jahrhundert kennzeichnen. Es ging um Liebe – um die Liebe zu denen, die in der Zeit der ersten Globalisierung und Industrialisierung unter die Räder kamen ; es ging darum, den Vergessenen und scheinbar Überflüssigen  zu zeigen, dass sie gebraucht wurden. All die Kindergärten, Kranken- und Rettungshäuser entstanden aus den Initiativen ehrenamtlich Engagierter – von Unternehmern, Kommunalbeamten, gut ausgebildeten Frauen ohne Beruf. Menschen, die von ihrer Sache begeistert waren: Fromme, erweckte Christen, die sich engagieren, die ihre Kirche verändern wollten. 

 Aus diesen Initiativen entstanden ganz neue Berufe für die, die sich abgehängt und nutzlos fühlten. Arbeitslose junge Männer wurden Handwerker und Diakone, alleinstehende Frauen, die eine Aufgabe suchten, wurden Diakonissen, Erzieherin oder Krankenschwester. Theodor und  Friederike Fliedner,, Johann Hinrich Wichern, Amalie Sieveking, Wilhelm Löhe  und all die anderen schmiedeten in ihren Einrichtungen Ketten der Hilfe entlang der Vertriebsketten auf den neuen globalen Märkten. In einer Zeit, in der Menschen auf der Suche nach Jobs vom Land in die Städte zogen und oft genug ihren Halt verloren, schufen sie Haltepunkte im Getriebe, Plätze und Gemeinschaften, die Menschen stark machten.

Heute – in der Zeit einer zweiten großen Transformation- erleben wir eine ähnliche Situation. Gesellschaften und Arbeitsplätze verändern sich und  wieder kommen ganze Gruppen unter die Räder. Die Klimakrise macht auch den letzten deutlich, dass die Wachstumsgesellschaft an  eine Grenze stößt, die Staatshaushalte geraten unter Druck und die Wohlfahrtspflege muss sparen. Es wird diskutiert, ob die Digitalisierung uns bedroht oder ob sie uns unterstützt bei dem großen Sprung in eine neue Zeit – aber vorläufig hat uns Corona gezeigt, dass die versprochene Vereinbarkeit von Beruf und Familie so nicht gelingt. Die Kinderbetreuung fällt auf die Frauen zurück, die Älteren, die angesichts des Fachkräftemangels gebraucht werden, werden vor allem als Belastung verstanden. Das Ideal der Arbeitsmärkte scheint der Single zu sein, der jederzeit seine Zelte abbrechen und mit der Arbeit an neue Orte ziehen kann. In dieser Situation sind  Einkommen und Konsum für viele nicht mehr der entscheidende Glücksparameter: es geht um ein gutes Leben, um Zugehörigkeit, Beziehung und Sinn. In welche Richtung kann das gehen?

Der Philosoph und Politikwissenschaftler Matthew Crawford, der mit den widersprüchlichen Anforderungen in dem Thinktank, in dem er arbeitete, nicht mehr zurechtkam, kündigte und eröffnete stattdessen eine Motorradwerkstatt. Ein Teil der Befriedigung liegt für ihn darin, dass er den Sinn seines Tuns in seinem Handeln findet. Aus seiner Sicht ist es entscheidend, dass Arbeit uns in einer Wertegemeinschaft verankert. Was ich tue, sagt er, ist Teil eine umfassenderen Bedeutungskreises – es dient einer Aktivität, die wir als Teil des guten Lebens betrachten. Dieses Bewusstsein, das gar nicht ausgesprochen werden muss, konstituiert die Gemeinschaft, in der wir arbeiten. Wir stehen in einer Art „ tätigem Gespräch“ miteinander – und durch dieses Gespräch kann die Arbeit unser Leben zu einem in sich schlüssigen Ganzen machen.

 Um als Fotograf gute Arbeit zu tun, schreibt Crawford, muss man nicht nur Fotos machen, sondern Fotograf werden – man stellt sich damit in eine lange Traditionsreihe von Menschen, denen es vor allem um eines ging: Man muss sehen lernen. Auch wir stehen in einer solchen Traditionskette, die über unsere eigene Arbeit, ja, sogar über unsere Berufung hinausreicht.

Wer Pädagogik, Soziale Arbeit oder Pflege studiert und gelernt hat, will vor allem eins: für Menschen da sein. Dem sollten die diakonischen Einrichtungen mit ihren Ämtern und Diensten, mit den Kirchen und Andachten, den Gärten und Bildungseinrichtungen dienen. Wenn wir merken, dass die Rahmenbedingungen unserer Arbeit mit diesem Ziel nicht mehr übereinstimmen, führt kein Weg daran vorbei, Konflikte beim Namen zu nennen und Alternativen zu erproben.

4. Zerbrochene Ganzheitlichkeit

Vor mehr 20 Jahren erschien Joan Chittisters Buch „Unter der Asche ein heimliches Feuer“ [6], Die heute 80-jährige ist Mitglieds eines Benediktinerinnen – Konvents in Pennsylvania. Zwölf Jahre war sie dessen Priorin, eine starke, inspirierende und mutige Frau. Ich war damals Leiterin der Kaiserswerther Diakonie, des ersten Diakonissenmutterhauses von 1836. Dort, am Ursprungsort der neuzeitlichen Pflegegeschichte, waren die Keller voller Akten aus vielen Jahrzehnten Pflegearbeit – während die Diakonissengeschichte  unweigerlich zu Ende ging.  Leih- Pflegekräfte sind für mich der konsequente Endpunkt der Entwicklung von der Institution zur Individualisierung, von der Gemeinschaftsdiakonie zum Gesundheitsmarkt. ..Ohne den Einsatz von Zeitarbeitsfirmen für Ärzte und Pflegende, ohne Migrantinnen und Migranten ginge schon lange nichts mehr. Vielleicht kommt auch bei uns die Zeit wieder, in der die Angehörigen ihre Kranken ganz offiziell auch im Krankenhaus versorgen? Essen mitbringen, Betten machen?

 Am Anfang stand die Glaubens- Lebens- und Dienstgemeinschaft, zu der nicht nur die Schwestern oder Brüder, sondern auch die Hilfebedürftigen zählten. Konstitutiv dafür war ein Dreieck: Gemeinschaft untereinander, Gemeinschaft mit dem Hilfebedürftigen, Gemeinschaft mit Christus. In diesem diakonischen Dreieck sind  die Rollen nicht festgelegt: Denn in den Kranken oder Sterbenden lässt sich Christus finden, wie das Gleichnis vom Großen Weltgericht erzählt. Und in den Schwestern und Brüdern, mit denen ich arbeite, begegne ich eben nicht nur Helferinnen und Helfern, sondern auch Hilfebedürftigen. Arbeit und Gemeinschaftserfahrung, Berufserfahrung und Berufung, Alltag  und Religion gehörten zusammen. Nicht zuletzt in den eigenen Erfahrungen wächst die Empathie für andere, das Mitleiden- und gerade in dieser Haltung lassen sich auch bei den Hilfebedürftigen neue Kräfte entdecken.

 Erst spät ist mir aufgefallen, dass in dieser Vorstellung die Selbstsorge, die Selbstliebe keine Rolle spielt – obwohl es doch in der Bibel heißt: Du sollst Gott lieben und Deinen Nächsten wie Dich selbst. Ganz offenbar waren die Gründerinnen und Gründer der neuzeitlichen Diakonie davon überzeugt, dass in der Gemeinschaft die Liebe so hin und her fließt, dass niemand sich vergisst oder vergessen wird.

 Leider gab es aber auch in den Gemeinschaften Menschen, die zu kurz kamen, ja, am Ende ausgeschlossen und ermordet wurden : Menschen mit Behinderung und auch getaufte Jüdinnen im „Dritten Reich“, Frauen die ihre gleichgeschlechtliche Liebe nicht verbergen konnten. Es gab eine Enge in den Gemeinschaften, die so manchem die Luft zum Atmen nahm.

Der ganzheitliche Zusammenhang von Glaubens- Lebens- und Dienstgemeinschaft ist zerbrochen. Und daran waren die Gemeinschaften selbst nicht unbeteiligt. Die Sozialkontrolle in den Mutter- und Bruderhäusern, die Vorstellungen, dass die Helfer und Helferinnen gesund und normal sein sollten, um anderen zu dienen, die Gehorsamstradition… All das spielte dabei eine Rolle. Heute leben wir in einer freien  Gesellschaft, in der die Funktions- und Lebensbereiche strikt getrennt sind. Arbeit und Wirtschaft, Familie, Freunde  und Nachbarschaft, Spiritualität und Religion gehören zu unterschiedlichen Lebensbereichen. Wir leben nicht nur eine , wir leben unterschiedliche Rollen. Aus den Krankenhäusern und Pflegediensten, die einst von diakonischen Gemeinschaften getragen wurden, wurden diakonische Dienstleister, die nun aber– wie die gesamte Sozial- und Gesundheitswirtschaft – unter erheblichem Kostendruck stehen. Es geht  darum, effektiv zu arbeiten- alles andere ist in den Hintergrund getreten.

Der klar und verlässlich gezeichnete Rahmen, in dem Menschen über Jahrhunderte gelebt haben, hat sich aufgelöst – das gilt für Geschlechterrollen wie für Familienbilder, für Biographien wie für Berufswege. Mit der Individualisierung haben wir neue Freiheiten gewonnen und neue Unsicherheiten eingetauscht. Wir haben Autonomie gewonnen, aber vergessen manchmal, wie sehr wir auf andere angewiesen sind. Frauen haben ihren Platz im der Erwerbsarbeit erkämpft- aber die Sorgearbeit ist noch nicht gerecht verteilt. Unser Leben ist mobil geworden, aber der Zusammenhalt an einem Ort ist nicht mehr selbstverständlich. Wir leben in einer Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft und müssen  neu lernen, dass Gesundheit, Bildung, Veränderungsprozesse sondern unsere eigene Mitarbeit und Gestaltung brauchen.

Alle diese Veränderungen betreffen auch die Erfahrung von Gemeinschaft – Gemeinschaft heute ist Gemeinschaft auf Zeit. Sie muss Vielfalt spiegeln, wechselseitige Sorge integrieren, Mobilität und Digitalisierung ernst nehmen, Partizipation als selbstverständlich erachten. Denn mit den gesellschaftlichen Veränderungen hat sich auch unser Selbstbild verändert: Wir haben nicht mehr nur eine Lebensrolle, sondern eine Vielfalt von Rollenanteilen, die wir in unterschiedlichen Kontexten leben. Gerade das könnte die Gemeinschaft bereichern.

Und dennoch sehnen sich manche Pflegekräfte in ihrer Überforderung nach dem Leben der Männer und Frauen, die in ihrer Arbeit -oder besser in ihrem Dienst – aufgegangen sind. Die Sehnsucht nach Ganzheit und Verlässlichkeit geht wie ein Schatten mit. Und sie kann missbraucht werden. Die Brüche, die viele unserer Einrichtungen im „Dritten Reich“ erlebt haben, waren auch möglich, weil man die Institution schützen wollte, die einem ein besonderes Leben ermöglichte.

5. Ethik und Spiritualität

Bei  den diakonischen Gemeinschaften stand das Engagement für andere im Mittelpunkt- Andachten, Gottesdienste, Rüstzeiten dienten dazu, sich mit den eigenen Kraftquellen neu zu verbinden.  Mit dem wachsenden Erfolg der Mutter- und Brüderhäuser wurden die Gemeinschaften allerdings  funktionalisiert –  auch Religion und Spiritualität waren davor nicht gefeit. Ich denke daran, wie diakonische Gemeinschaften sich einbinden ließen in das Euthanasieprogramm oder wie Missionsschwestern und Diakone sich  beteiligten am menschenfeindlichen Handeln gegen ganze Volksgruppe  in Afrika. Dass sich immer mehr Menschen von der Kirche abwenden, ist vielleicht auch eine Konsequenz dieser Geschichte. Eigentlich ist es doch ein Wunder, dass die diakonische Geschichte in Deutschland nach 45 weiterging. Tatsächlich  gab es in den 50-er und 60er Jahren auch noch Nachwuchs an Diakonissen und Diakonen. Diakonie hatte Arbeit, gab Sicherheit und  Hoffnung auf Erneuerung. Mit der Zeit haben sich die Einrichtungen Schritt für Schritt an die gesellschaftlichen Veränderungen angepasst : So wurden die Diakonieschwestern als eigenständige Gruppe neben den Diakonissen verstanden, auch für Diakonissen gab es einen Entgelt und nicht nur Taschengeld, die Diakonen Ausbildungsstätten öffneten sich für Frauen, die Schwesternschaften für Männer und für unterschiedliche Lebensformen. Das alles hat die Gemeinschaften überleben lassen.

 Aber Heilung und wirkliche Lebendigkeit gibt es am Ende  nur, wenn wir wagen, uns der schmerzhaften Kritik zu stellen, die Scherben der vergangenen Größe anzuschauen. Schaut man auf die Geschichte der großen Einrichtungen, dann wird deutlich: Es gab eine Reihe von Reparaturarbeiten,  aber keinen wirklichen Neuanfang. Und das Land braucht einen grundlegenden Wandel, zum Beispiel, was den Umgang mit der privaten wie mit der beruflichen  Sorgearbeit betrifft.

Es geht nicht darum, besser zu sein als andere. Es geht darum, aus dem eigenen Versagen zu lernen, die eigene Geschichte und die gesellschaftliche Gegenwart anzunehmen – und auch den Schmerz, der unweigerlich mit dem Wandel verbunden ist. Wo die Bereitschaft dazu von innen kommt und nicht nur von außen aufoktroyiert wird, kann Veränderung gelingen. Schw. Ruth Felgentreff, die den Umgang der Kaiserswerther Diakonissenanstalt mit ihren jüdischen Mitschwestern erforscht hat, hat gezeigt, was möglich ist. Ich habe dabei manchmal an die asiatische Technik gedacht, ein zerbrochenes Gefäß neu zusammenzufügen, zu kleben. Mit einem Klebstoff der golden leuchtet. An den Brüchen zeigt dich die Schönheit erst recht. „ There’s a crack in everything, that‘s how the light gets in“, singt Leonhard Cohen.

 Die Brüche sind unvermeidbar. Denn Glaube, Gemeinschaft und Dienst, „Believing“ und „Belonging“, waren und sind  in einem diakonischen Unternehmen nur schwer  zur Deckung zu bringen. Was die britische Soziologin Grace Davie als Problemanzeige für die westlichen Kirchen analysiert, das zeigt sich erst recht in der Diakonie. Grace Davie spricht davon, dass der gemeinsame Glaube, der zum gemeinsamen Handeln führt, längst nicht mehr als tragendes Fundament vorausgesetzt werden kann. Die Richtung führt nicht mehr vom „Believing“ zum „Belonging“, sondern umgekehrt: vom Belonging zum Believing. Über das gemeinsame Handeln erschließt sich die Gemeinschaft, die dann auch neue Zugänge zum Glauben eröffnet. Spiritualität in der Diakonie bedeutet deshalb mehr als die Einrichtung eines Raums der Stille, eines schönen Gartens oder Labyrinths. Diakonische Arbeit ist immer Beziehungsarbeit – und damit Zusammenarbeit.

Unter Druck , in Konfliktsituationen und  Grenzerfahrungen brauchen Mitarbeitende Ermutigung, über ihre Hoffnung und Ängste, über Glauben und Zweifel zu  sprechen – und das ist auch heute in Kirche und Diakonie nicht einfach. Nicht nur, weil die allermeisten  Religionen als Privatsache empfinden und sie vor dem Zugriff der Arbeitswelt schützen wollen, sondern auch, weil in den Einrichtungen längst Mitarbeitende unterschiedlicher Kultur und Überzeugung arbeiten. Menschen  mit unterschiedlichen Prägungen, was zum Beispiel Geschlechterrollen oder Vorstellungen vom Leben und Sterben betrifft.

  Eine gemeinsame Unternehmenskultur kann nur da entstehen, wo auch darüber offen gesprochen werden kann. Wo die Vielfalt geachtet wird, die heute auch diakonische Unternehmen prägt: andere Religionen, Atheisten und Agnostiker gehören genauso dazu wie Suchende oder überzeugte Christinnen und Christen. Kultur ist nicht vorgegeben – wir müssen sie schaffen. Nicht durch Anpassung, nicht durch Druck, sondern indem wir Probleme beim Namen nennen, Projekte starten, Rituale entwickeln.

Spiritualität in der Diakonie bedeutet also  mehr als die Einrichtung eines Raums der Stille, eines schönen Gartens oder Labyrinths. Spiritualität in der Diakonie erleben Pflegende auch in der Zuwendung zu Kranken und in der Sterbebegleitung oder im ehrlichen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen. Diakonische Arbeit ist immer Beziehungsarbeit- und damit immer auch Zusammenarbeit. Zusammenarbeit mit Patienten bei der Heilung, Zusammenarbeit untereinander, Zusammenarbeit bei der Bewältigung des schwer Erträglichen, gemeinsame Suche nach spirituellen Kraftquellen. Wenn unter Effektivitäts- und Kostendruck Stationsbesprechungen eingespart werden, wenn für Gespräche mit Angehörigen kaum noch Zeit bleibt, wenn der Zusammenhalt im Team durch Veränderungsdruck und Umstrukturierungen bedroht ist, dann tangiert das auch die Spiritualität.

Denn eine konkrete und verantwortliche Spiritualität verschanzt sich nicht am heiligen Ort des Tempels , hat Johann Baptist Metz gesagt, sondern sie richtet sich an die urbanen Räume unserer globalisierten Welt- wir bleiben auf dem Weg, wenn wir  den Schrei des anderen hören.

6. Rituale und die große Erzählung

„Der moderne Individualismus steht nicht nur für einen persönlichen Impuls, sondern auch für einen sozialen Mangel, einen Mangel an Ritualen.  Die moderne Gesellschaft hat die durch Rituale hergestellten Bindungen geschwächt“, schreibt Sennet am Schluss seines Buches über Zusammenarbeit. [7] Rituale geben dem Leben Rhythmus, sie können den Alltag unterbrechen, Lebensschwellen bewusst machen. Sie können aber auch helfen, Übergänge zu gestalten und schwer erträgliche Situationen auszuhalten. Diakonie ist  reich an Ritualen – mit Weihnachts- und Sommerfesten, Tagen der Offenen Tür, Einweihungen und Jubiläen.

Die christliche Religion ist eine Metaerzählung, die jeden Winkel des Lebens erfasst und es im Sein verankert“, schreibt der Philosoph Byung Chul – Han.[8] Der christliche Kalender lässt jeden Tag als sinnvoll erscheinen. In der Moderne  wird er zum sinnentleerten Terminkalender. Religiöse Festtage sind Glanz- und Höhepunkte einer Erzählung. Ohne Erzählung gibt es kein Fest, keine Festzeit, kein Festlichkeitsgefühl als gesteigertes Seinsgefühl, sondern nur Arbeit und Freizeit, Produktion und Konsum. Auch Rituale  sind immer in einen Erzählkontext eingebettet.“ Stattdessen  herrscht heute  ein „Tsunami der Information“ Aber  Information „ist kein Sinnträger, Sinn heißt ursprünglich Richtung. Wir sind heute bestens informiert, aber orientierungslos. Deshalb geht es heute meist um Problemlösung jenseits der Frage nach dem Sinn. Es geht um Input und Output, um Kennzahlen und Qualitätskriterien.

 Der Verlust an Ritualen hat also auch damit zu tun, dass wir nicht mehr nur in die eine, große christliche Erzählung eingebunden sind. Wenn es uns nun aber darum geht, Gemeinschaft zu gestalten, müssen wir auch andere Erzählungen und andere Traditionen hören und ernst nehmen- die Traditionen der muslimischen Bewohner genauso wie die  der orthodoxen Mitarbeiterinnen. Das braucht Sensibilität, Empathie und vor allem Zeit.  Wir müssen und wir können Rituale so  gestalten, dass andere das Gefühl haben, ihre eigenen Traditionen einbringen zu können. Damit Fremdheit überwunden wird.  

7. Solidarität in Brüchen

 Richard Sennet hat dargelegt, wie wesentlich Kooperation ist, um Zusammenhänge wahrzunehmen, das Ganze in den Blick zu bekommen. Die traditionelle japanische Reparaturmethode Kintzugi misst den Rissen so viel Bedeutung bei wie der Reparatur. Sennet zeigt, wie sehr dieser Blick aufs Ganze angesichts unserer oft so zerstückelter Jobs, Zeitarbeitsverhältnisse und individualisierter Mediennutzung bedroht ist.

Angesichts wachsender Ungleichheit wächst zwar der Wunsch nach Solidarität- zugleich aber zersplittern Gewerkschaften, erodieren die alten Gemeinschaften. Auf diesem Hintergrund, so Sennet, suchen viele eine destruktive Solidarität, sie verteidigen das Eigene auf Kosten und in Abgrenzung zu anderen.

Deshalb ist es heute wichtig, Organisationen, Arbeitsstrukturen und Orte zu schaffen, die ein Miteinander in Vielfalt ermöglichen – inklusive Schulen, gemischte Wohnquartiere, ein Unternehmen, das Migranten integriert. Richard Sennet illustriert das am Beispiel von Gemeinschaften, die im 19. oder im frühen 20. Jahrhundert entstanden sind – wie unsere oder die Catholic–Workers-Bewegung. Sie haben nicht einfach gespiegelt, was die Gesellschaft bestimmte, sie haben vielmehr auf die Umbrüche und Brüche reagiert und zu heilen versucht, was gebrochen war. So wurden die diakonischen Gemeinschaften zur Familie für die, die keine Familie hatten. Aus der Fürsorge- und Pflegearbeit der Frauen in den Familien wurde ein Beruf.

C. Otto Scharmer[9] hat sich mit der Frage beschäftigt, wie wir in Zerreißproben zu einer neuen Offenheit finden. Was ist das Gold, das die Brüche ausfüllt?  An Beispielen stellt er dar, wie wichtig es ist, einen physischen und zeitlichen Ort zu finden, an dem die Teilnehmer*innen eine persönliche Beziehung zueinander aufbauen und gemeinsam neue Möglichkeiten entdecken können. Wie bei einer Zukunftskonferenz kann ein einziger Tag den entscheidenden Anstoß geben. Diese Fähigkeit zur Präsenz will eingeübt werden. Scharmer berichtet in diesem Zusammenhang vom „Circle of Seven“ – von kleinen Gruppen, die sich regelmäßig treffen, um einander zuzuhören und sich gegenseitig zu unterstützen. Mit einer Gruppe von sechs Personen fängt es an, der siebte Platz bleibt frei. Er symbolisierte die Leerstelle, mit der das Neue beginnt, die Überraschung, die alles verändern kann, das Unbewusste, das zur Sprache kommen will. Den freien Platz am Tisch kennen wir Er ist frei für den wiederkehrenden Elia, den auferstandenen Jesus, den unverfügbaren Gott.

 Wie in vielen Supervisionsgruppen beginnen die Gruppentreffen beim „Circle of Seven“ mit einer Stille, in der sich alle Beteiligten neu verorten. Mich erinnert das an die Gemeinschaft der Quäker*innen, die Stille und Gebet allem voranstellen – im Warten auf das innere Licht, das uns den Weg weist. Zwischen den gemeinsamen Treffen nehmen die Gruppenmitglieder sich Zeit, einander persönlich zu begleiten. „Ich glaube, dass die Persönlichkeitsebene eine Vorbedingung ist. Wenn keine persönlichen Anliegen im Wege stehen, dann entsteht eine Möglichkeit gemeinsamen Handelns. Wenn wir einmal zusammen über einen gewissen Punkt hinübergekommen sind, dann entsteht eine gemeinsame Zuhörfähigkeit, die einen zum Teil eines größeren Ganzen werden lässt, die einen bescheiden macht […]. Darin unterscheidet sich die Qualität unseres gemeinsamen Gesprächs von einem rein intellektuellen Gespräch“.[10]

Wir müssen die diakonischen Gemeinschaften nicht neu erfinden. Sie werden längst neu erfunden. in den „Circles of Seven“, in „Sorgenden Gemeinschaften“ von Haupt- und Ehrenamtlichen in Mehrgenerationenhäusern und Nachbarschaften, in Altenzentren und Hospizen. In den Datschen der internationalen Gärten, wo Migrant*innen miteinander kochen. In den „Tischgemeinschaften“ der Älteren im Gemeindehaus. An den Kaffeehaustischen in den Quartiersläden. In Selbsthilfegruppen, Trauergruppen und genossenschaftlich getragenen Dorfläden. In den Wohngemeinschaften von Demenzkranken und ihren Angehörigen. In Nachbarschaften und Quartieren – an all diesen Orten ist eine Bewegung im Gang, die die effektiv gesteuerten Sozialunternehmen aufs Beste ergänzt, mit Empathie und Begeisterung und vielen neuen Ritualen.

Im Mittelpunkt stehen noch immer die Menschen, die unter gesellschaftlichen Veränderungen, unter den Umbrüchen  leiden. Die Opfer ihrer Zeit. Migrantinnen und Migranten, von Armut betroffene Familien, aber auch Demenzkranke oder Einsame. Das Neue ist konkret und entsteht in der unmittelbaren Begegnung- das wachsen Projekte lange, bevor sie auf einer anderen politischen oder kirchlichen Ebene konzipiert werden. Entscheidend ist,  dass wir solche Erfahrungen ernst nehmen, miteinander darüber reden und die Gemeinschaften nutzen, um ein neues Handeln durchzusetzen. Es geht nicht ums Funktionieren. Wichtiger ist, die eigene Verletzlichkeit, Zweifel und Versagen ernst zu nehmen. Das suchen viele.  Es geht also  nicht darum, etwas Besonderes zu sein oder gar heilig zu werden – es geht darum, mit Schwächen umzugehen und an der Seite der Schwachen zu bleiben; es geht um die grundlegende Fähigkeit,  Beziehungen zu knüpfen, die die Welt zusammenhalten.

Wie funktioniert das  in einer mobilen Welt, über die vielen Wechsel des Arbeitsplatzes und des Unternehmens hinweg? Damit hat die Gemeinschaftsdiakonie Erfahrung. Schließlich entstand sie in der Zeit, als die Arbeitsmobilität erheblich zunahm und die Familienverbände überfordert waren. Und die diakonischen schickten ihre Mitglieder immer wieder an neue, unbekannte Orte.  Die Haltetaue, die Menschen auch über große Entfernungen zusammenhalten können, sind also längst  erprobt: regelmäßige Rundbriefe und Mails, gemeinsame Einkehrtage zu bestimmten Zeiten. Gemeinsame Gebetszeiten, die jeder einhält, gleich wo er gerade unterwegs ist. Und auch die Zeichen, die die Einzelnen erinnern, dass sie zu anderen gehören: ein Freundschaftsarmband, eine Schwesternbrosche, ein Schal. Und natürlich gemeinsame Projekte und Aufgaben.

 Längst  entstehen auch in den sozialen Netzwerken spirituelle Gemeinschaften, christliche Communities wie „ Sprit and Soul“, die regelmäßig zu Meditationswochen zum Advent und zur Fastenzeit, aber auch zu analogen Begegnungen einladen.  So gut es möglich ist, eine Freundschaft oder Gemeinschaft elektronisch über die Zeit zu retten, so wichtig sind die intensiven Zeiten der Begegnung. Ein gemeinsames Abendessen in der Woche , gemeinsames Einkaufen und Kochen. Zusammen Musik machen, singen oder auch reisen. 

Gemeinschaften halten die Berufung ihrer Mitglieder, aber auch der Suchenden  wach. Sie müssen offen bleiben für neue Impulse, neue Menschen. Um einen Pflegeberuf zu erlernen oder um Sozialpädagogik zu studieren, ist die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft längst nicht mehr nötig. Aber wer sich wünscht, die eigene Berufung mit anderen zu teilen, dem kann eine Gemeinschaft dienen.   Gemeinschaften schaffen einen Raum des Austauschs, der Solidarität, der Vergewisserung in einer sich verändernden, individualisierten Welt. Sie sind überfordert, wenn Unternehmensleitungen sie funktionalisieren, um den diakonischen „Mehrwert“ zu erwirtschaften. Aber sie  sind frei, sich mit anderen zusammenzutun,  um über die eigenen Kräfte hinaus die Sorgekräfte und den Zusammenhalt zu stärken.

Was also meinen wir, wenn wir WIR sagen? Klaus Doppler unterscheidet verschiedene Bedeutungen: Die unverblümte Vereinnahmung, die verdeckte Vereinnahmung, das Einschwören auf einen gemeinsamen Feind – und die freundliche Einladung. Aus einem exklusiven Wir (das andere eher ausschließt und sich abgrenzt), wächst ein inklusives Wir , das offen bleibt für Andere, für den Anderen.  Wir wirken zusammen vor Ort für ein gutes Miteinander!


 

[2] Evangelium gaudii

[3] Hildegund Keul; Verwundbar sein

[4] Franziska Böhler, I am a nurse

[5] Catharina Bruns, Work is not a job

[6] Joan Chittister , Unter der Asche…

[7] Richard Sennet , Zusammenarbeit

[8] Byung-Chul Han, Paradiesgarten

[9] Scharmer 2008.

[10] Scharmer 2008, S. 165.