1. Die Welt in meinem Wohnzimmer
- 1. Mein wachsendes Netzwerk
Selten habe ich an so vielen Konferenzen teilgenommen wie gerade jetzt. Corona bringt die Welt in mein Wohnzimmer. Um nach Hannover zu fahren – ins Theater, zum Bahnhof, brauche ich 40 Minuten – diese Zeit fällt nun flach. Auch die Zeiten, die ich im Zug verbracht habe – zum Arbeiten und Nachdenken- fallen flach. Kolleginnen und Kollegen, die noch voll im Beruf sind, erzählen, dass eine Zoom-Konferenz die nächste jagt. Rasender Stillstand
Ich genieße es durchaus, bei Zoomkonferenzen Teilnehmenden aus ganz Deutschland zu begegnen- weil eben niemand eine lange Anreise hat. Bei meinem Projekt „ Oma trotzt Corona“ im vergangen Sommer habe ich es zuerst wahrgenommen: Die Teilnehmerinnen waren zwischen Mitte 40 und Anfang 90 und kamen von überall her. Fachliche und regionale Netze verknüpften sich schnell. Und über ganz kurze Zeit entstanden neue Kontakte – Menschen, denen ich anderswo wieder begegnete. Im analogen Raum dauern solche Prozesse wesentlich länger. Ein großes Glück. Und sage niemand, dass man sich auf diese Weise nicht kennenlernen könnte – ich fand das schon im Blick auf die sozialen Netzwerke falsch. Ich kenne eine Reihe Menschen, mit denen ich zuerst auf Facebook verbunden war. … Und inzwischen habe ich Coachees, die ich Face-to-Face noch nie gesehen habe.
Die digitale Welt hat unsere Möglichkeit, Beziehungen zu gestalten, noch einmal enorm ausgeweitet. Die Zahl der Kontakte ist exponentiell gewachsen, die Wahlmöglichkeiten größer geworden.
- 2. Life-Long-Learning
Im Netzwerk „Oma trotz Corona“ war das Digitale durchaus ein Thema. Nicht nur, dass wir die Viertelstunde vor Beginn genutzt haben, einander zu helfen, sondern auch im Blick auf die digitalen Möglichkeiten und Kompetenzen der Älteren, die sich gerade im letzten Frühjahr von allen anderen Kontakten ausgeschlossen fühlten. Keine Enkel, keine Ehrenämter, keine Gottesdienste und Gemeindegruppen. Besonders schlimm ging es den Bewohnerinnen und Bewohnern der Pflegeeinrichtungen. Dort fehlten nicht nur die Besuche von Angehörigen, sondern auch die von Betreuern und ehrenamtlichen Begleiter*innen. Da war es eine Errungenschaft, wenn es hier oder da ein/zwei Tabletts auf der Station gab. Oder wenn der Pflegedienst den Kunden ein Tablett zur Verfügung stellte. Die Digitalisierung der Schulen war jetzt oft Thema, auch die der Gesundheitsämter. Über die Heime hat kaum jemand gesprochen.
Dabei kenne ich eine ganze Reihe Hochaltrige, die große Freude an ihrem Tablet haben. Meine 91-jährige Tante nutzt es als Fotoalbum, zum Austausch mit der Enkelgeneration, als Sammlung ihrer Kochrezepte und inzwischen auch zum Online-Banking, denn im Dorf wurden die Bankautomaten abgebaut.
Denen, die beim Erkunden des Smartphones kaum noch mitkommen, helfen Alexa oder Siri, der Sprachcomputer. Da kann man übrigens inzwischen auch kirchliche Andachten oder das Vater-Unser- abrufen. Immer leichter zu bedienen, immer schwerer zu durchschauen, verändert es unseren Lebensstil. Wie zuvor schon andere Medien. Um 50 Millionen Nutzerinnen und Nutzer zu erreichen, hat das Radio 38 Jahre gebraucht, das Fernsehen 13 Jahre, das Internet 4 Jahre und Facebook 3,5 Jahre.
Als ich mit 38 meinen Führerschein machte, schämte ich mich, so spät dran zu sein- während heute meine Nichten und Neffen mit Mitte 20 zum Teil keinen Führerschein haben. Und wir neulich in einer Gruppe überlegten, wie wir in 10 Jahren wohnen wollen, träumte ich noch davon in die Innenstadt zu ziehen – während eine Freundin vom selbstfahrenden Auto sprach. Life-Long-Learning heißt für mich: wahrnehmen, wie schnell sich die Wirklichkeit ändert – wissen, was der Preis ist – und mitgehen, soweit ich das kann und will.
- 3. Zwischen den Generationen
Für die Digitalisierung der älteren Generationen spielen die Familien eine große Rolle. Es ist meist die Enkelgeneration, die den Älteren hilft, sich eine neue Technik anzueignen. Sie geben ihr altes Tablet weiter oder richten das neue Smartphone ein. Und entdecken auf diese Weise selbst, wie bereichernd es sein kann, mit Oma zu chatten.
Auf einer Online-Fachveranstaltung der DAEA im Januar unter dem Titel „ Bildung und Corona“ haben wir das als Teilnehmende aus drei Generationen erlebt: Neben mir als junge Alte waren Frau Vieweg, eine selbständige Filmemacherin mit zwei kleinen Kindern und zwei Schülerinnen von 12 und 14 Jahren dabei. Der Austausch war intensiv und beleuchtete Corona aus der Perspektive derer, die weder systemrelevant noch unmittelbar produktiv sind: Jugendliche, Alter, Künstler*innen. Am Ende hatten wir alle das Gefühl, es müsste längst solche Plattformen geben, auf denen ein Austausch zwischen den Generationen stattfindet- und das Web wäre dafür ein guter Ort.
Immerhin haben sich in einer ganzen Reihe von Seniorennetzwerken und Kirchengemeinden Lern-Partnerschaften von Senioren und jungen Leuten gebildet. Bei einer kleinen Umfrage im Frankfurter Raum gaben immerhin 60 Prozent der Über-60-jährigen an, dass sie mehr mit Computer und Smartphone beschäftigt waren als zuvor. Vor allem Menschen mit Mobilitätseinschränkungen haben von den neuen Angeboten profitiert; sie fühlen sich selbstverständlicher zugehörig zur Gesellschaft.
Das Netzwerk „Wir sind Haan“ hat zusammen mit der Universität Vechta das Projekt „Lern-Tüte – Digital Tandem“ auf die Beine gestellt- Versandt wird eine Papiertragetasche mit auf die Zielgruppe zugeschnittenen Unterrichtsmaterialien. Dann werden „Tandem“ gebildet: ein Senior oder eine Seniorin aus Haan bekommt jeweils einen Studierenden der Universität Vechta als persönlichen Ansprechpartner zugeteilt. „Die Studierenden sind hochmotiviert, weil sie für die Teilnahme am Projekt eine Ehrenamtsbescheinigung bekommen, die wiederum für den Studienabschluss erforderlich ist“. Die Dinge, die besprochen werden sollen, so z.B. Emails, WhatsApp, ZOOM, usw., bestimmen die Senioren und die jungen Menschen – Studentinnen und Studenten – stellen sich darauf ein und helfen.
Daneben stehen Initiativen wie Internet-Initiativen wie silver-tipps.de, aber auch engagierte Ältere, die Angebote als Selbständige machen. Wie Charlotte Dieter-Ridder, die Netz-Omi. Ganz ähnlich wie bei Elke Schilling von Silbernetz geht es ihr darum, Altersgenossinnen fit zu machen. Elke Schilling, die wie jede zweite Seniorin allein lebt, kennt die Gefahren der Einsamkeit und hat deswegen einen Telefondienst aufgebaut, der gerade in der Krise bundesweit boomt. Charlotte Dieter Ridder hat beruflich breite Informatik-Kenntnisse erworben und will denen den Rücken stärken, die noch einmal neu beginnen in dem Neuland, von dem die Bundeskanzlerin einst sprach. Als ich mit ihr vor einiger Zeit telefonierte, meinte sie, die Kirchengemeinden müssten doch die besten Ansprechpartner dafür sein – schließlich gäbe es fast überall Seniorenkreise.
Mir gefällt diese Haltung: die Dinge selbst in die Hand nehmen. Wissen, dass ich anders lerne, wenn ich älter bin – und mich deshalb nicht dümmer fühlen. Tatsächlich geht es nicht nur um technische Tools- vielmehr geht es auch um die Erfahrungen, die ich früher mit Technik gemacht habe. Der Coach, der mit mir schaut, was ich mitnehmen kann und was ich zurücklasse, ist am besten. Und oft sind das Gleichaltrige.
- 4. Ehrenamt im Wandel
Keine Frage: Die Digitalisierung verändert auch das Ehrenamt. Nicht nur bei den Schulungen für Ältere. Oder bei den Besuchsdiensten, den Hospizhelfern, den Mitarbeitenden an den Tafeln. In den letzten 20 Jahren ist das Ehrenamt projektförmiger geworden, zielorientierter und selbstbestimmter. In der Flüchtlingskrise hat sich gezeigt, dass ein wachsender Teil der Projekte von den Engagierten selbst organisiert wurde. Organisationen treten in den Hintergrund.
Viele der älteren Ehrenamtlichen konnten im letzten Jahr wegen der Ansteckungsgefahr gar nicht tätig sein. Manche haben sich inzwischen entschlossen, aus Altersgründen aufzuhören. Zugleich aber werden neue Ehrenämter entwickelt: Ausbildungsmentor*innen und Sprachhelfer*innen haben ihre Angebote auf digitale Programme umgestellt. Auch dabei geht es nicht nur um Technik. Die Netzwerke der Engagierten funktionieren heute eher als Netzwerk und sie werden selbstbestimmt. Eine große Chance auch für Ältere, die ihre Erfahrung einbringen und anderen etwas zurückgeben wollen.
- 5. Gemeinde, Seelsorge und Gottesdienst
Aber auch Seelsorge und Gottesdienste haben Konjunktur in der Corona-Krise- ganz anders als erwartet. Kürzlich fand eine Umfrage unter Seelsorgenden im deutschsprachigen Raum mit insgesamt 6500 Seelsorgepersonen statt. www.contoc.org. Einer der Initiatoren, Thomas Schlag, kam zu dem Ergebnis, von einem stillen Kirchenrückzug aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen könne keine Rede sein. Oft sei es gerade umgekehrt. Gemeindemitglieder, die länger nicht im Gottesdienst ihrer Heimatkirche waren – und dafür kann es viele Gründe geben- haben jetzt die Chance, einfach mal reinzuschauen, aus der Halbdistanz, vom heimischen Frühstückstisch aus. Viele ziehen diese Gottesdienste vor Ort den großen Fernsehgottesdiensten vor: sie sind vielleicht nicht so professionell, aber gut geerdet. So gibt es jetzt Menschen in den Altenhilfeeinrichtungen, die endlich wieder einmal an einem ganz normalen Gottesdienst teilnehmen können- wenn denn ein Tablet vorhanden ist. Und vielleicht sogar Abendmahl feiern mit Brot und Wein am Wohnzimmertisch.
Gruppen und Gesprächskreise finden jetzt als Telefonkonferenz oder per Zoom statt und auch die Seelsorge ist ans Telefon oder ins Internet gewandert. Telefonseelsorge gibt es seit Jahrzehnten, Chatseelsorge seit einigen Jahren – aber was einmal ein zentrales Zusatzangebot war, rückt nun ganz selbstverständlich an uns heran.
Darüber hinaus gibt es auch ganz neue Angebote wie „Look up im Lock down“ – eine Minutenandacht auf WhatsApp.
2. Resonanz : Raum und Zeit
Auf den ersten Blick kann das Internet Raum und Zeit überwinden: in unseren Veranstaltungen kommen Menschen aus ganz Deutschland zusammen. Gottesdienste werden auch ins Ausland übertragen. Ökumene wird für jede von uns Wirklichkeit – nicht mehr nur für eine kleine Funktionsgruppe. Und was wir miteinander erleben, bleibt auf YouTube, um es später noch einmal zu sehen.
Ja, auch Facebook und Twitter können. „Community Building “ Und auf Twitter gibt es regelmäßige Gebetstreffen. Bei Nebenan.de kann ich Austausch in der Nachbarschaft organisieren– und die Plattform boomt. Und auch politische Bewegungen wie „Omas gegen rechts“, die eigentlich die Straße brauchen, leben dank des Internets weitere. Trotzdem: nicht alle Älteren, denen Schulungen angeboten wurden, hatten Lust aufs Internet. Manchen hat es gerade jetzt gut getan, zu gärtnern oder Musik zu machen. Sinnliche Erfahrungen. Darum geht es ja auch im Gottesdienst – darum diskutieren wir so leidenschaftlich über das Abendmahl, die Taufe und den Segen. Und viele Gemeinden haben gute Erfahrungen damit gemacht, dass Eltern oder Paten segnen- bei der Taufe und auch bei der Konfirmation. Berührung lässt sich nicht simulieren- allenfalls Musik geht uns noch unter die Haut. Wie wichtig die Face-to-Face-Begegnungen sind- und sei es bei Gesprächen von Balkon zu Balkon- ist immer wieder Thema.
Gerade jetzt, während wir uns die Welt ins Wohnzimmer holen, spüren wir, wie sehr uns dieser Raum physisch einengt. Viele fühlen sich regelrecht eingesperrt. Wir spüren Kopf und Rücken- und irgendwie scheint es nicht zu genügen, nur die Gesichter zu sehen, die wir selbst aufrufen. Keine fremden Gesichter, keine Zufallsbegegnungen, keine anderen Gerüche… Aber genauso wie es gut tut, den Horizont zu weiten, brauchen wir es, uns zu verorten. Wir sind eben Mensch mit Leib und Seele. Mit Hunger, Herzschlag, Lebensdurst. Es ist sicher kein Zufall, dass das Spazierengehen gerade jetzt so ein großes Thema geworden ist. Menschen sind keine Geistwesen, sie sind aus Erde gemacht und leben nicht aus sich selbst, sondern aus dem Schöpferatem Gottes, sagt die Schöpfungsgeschichte. Das ernst zu nehmen, bedeutet, uns selbst eben auch als begrenztes, endliches und zerbrechliches Wesen zu verstehen.
3. Das digitale Dorf, Smart Homes und die Pflege
3.1. Smart Homes und Selbstbestimmung
Selbstbestimmung bleibt auch im Alter wichtig. Immerhin 43 Prozent der Älteren leben heute allein. Pflegeroboter oder Pflegeheim? Wie würden Sie entscheiden, wenn Sie die Wahl hätten? In einer Befragung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zeigte sich: 83 Prozent von rund 1000 Befragten können sich vorstellen, einen Service-Roboter zu nutzen, wenn sie dadurch im Alter länger zu Hause leben könnten. „ Ich will leben und sterben, wo ich zu Hause bin“: Klaus Dörners politische Forderung ist längst allgemeine Überzeugung; schließlich ist das Zuhause der einzige Ort, wo wir unsere Tagesgestaltung selbst in der Hand haben.
Smart homes können dabei helfen. Licht- und Heizungssteuerung, elektronischer Rollladen, Bewegungs- und Wassermelder können enorm hilfreich sein, wenn die Mobilität eingeschränkt ist. Eine Elektronikfirma wirbt mit dem Slogan „ Das Zuhause, das sich kümmert.“ Und der Roboterassistent Care-O-bot, der am Fraunhoferinstitut entwickelt wurde, kann wie eine Haushaltshilfe einzelne Alltagstätigkeiten übernehmen.
Hausnotrufsysteme sind längst selbstverständlich. Und Telefonketten, auch per Skype, werden an vielen Stellen erprobt. Vernetzte Kameras allerdings, mit denen man wie mit Babyphone beobachten kann, was im Haus vorgeht, erinnern mich an den „Circle“, den Roman aus dem Silicon Valley, in dem eine Mitarbeiterin ein System testet, das die Gesundheit ihrer Eltern kontrolliert – und ihnen damit jede Privatsphäre raubt. Wo ist der Umschlagpunkt, der den Wunsch nach Autonomie in Kontrolle verkehrt?
3.2. Caring Communities und digitale Dörfer
„ Das Zuhause, das sich kümmert“ trifft eine Sehnsucht. Mit dem Alter wächst das Bewusstsein, dass wir aufeinander angewiesen sind. In der Quartiers- und Nachbarschaftsarbeit hat der „Kümmerer“ Konjunktur. Denn letztlich besteht das Zuhause eben nicht nur aus vier Wänden; wichtig sind auch die Menschen, die ich kenne, die mich kennen- Nachbarschaftsnetze und „Sorgende Gemeinschaften“. Menschen, die nach mir sehen, wenn ich frisch aus dem Krankenhaus entlassen bin. Die schauen, ob der Briefkasten geleert wird. Und fragen, ob sie etwas vom Discounter mitbringen können. Im letzten Freiwilligensurvey wurden diese informellen Nachbarschaftsdienste untersucht – immerhin 25 Prozent kümmern sich auf diese Weise. Sorgende Gemeinschaften sind Netzwerke gegen die Einsamkeit. Projekte zur digitalen Nachbarschaft auf dem Dorf wie www.digitale-doerfer.de oder hw.@dorfdigitl.com schaffen Verbindungen für die, die schon fürchteten, auf dem Abstellgleis zu sein.
In schrumpfenden Regionen, wo die Jüngeren ein – und auspendeln, die soziale Infrastruktur schwindet und kaum noch Hausärzte zu finden sind, werden die technischen Möglichkeiten in Medizin und Pflege immer wichtiger. Hier werden alte Modelle neu erprobt: technisch aufgerüstete „Gemeindeschwestern“, elektronisch verbunden mit der Arztpraxis, ermöglichen eine regelmäßige Begleitung der Patienten. Die Akzeptanz dieser Technologien wird mit jeder Generation größer- es ist nur ein kleiner Schritt von Skype zur Telemedizin, vom Fitnesstracker zum Smart Home. Damit wird die Aufgabe der Pflege immer anspruchsvoller. Zugleich allerdings ist gerade dieser Bereich unterfinanziert und leidet unter Fachkräftemangel. Wenn wir wollen, dass Ältere möglichst lange in ihrem Umfeld bleiben können, dann muss Pflege besser wertgeschätzt werden – vom Tarif bis zur Lebensleistungsrente. Das niederländische Pflegemodell der Buurtzorg fasziniert auch deswegen so viele, weil es den Mitarbeitenden zutraut, dank digitaler Unterstützung über die individuellen Zeittakte und den notwendigen Sorgeaufwand bei ihren Patientinnen und Patienten zu entscheiden. Digitale Systeme können aber die unmittelbare, existenzielle Kommunikation nicht ersetzen.
3.3. Pflege ist Kommunikation
Merkwürdigerweise sind aber nicht die Pflegeassistenzsysteme, sondern die sozialen Roboter von Typ Pepper oder Robby die Vorreiter der Bewegung. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert Pilotprojekte mit fast zehn Millionen Euro. Ein Team aus Wissenschaftlern der Universität Siegen und der Fachhochschule in Kiel hat den Pflegeroboter „Pepper“ im letzten Jahr versuchsweise für die Betreuung von Senioren programmiert und in den ersten Altenheimen getestet. Emma, die regelmäßig Gedächtnisspiele treibt, kann die Entwicklung einer Demenz exakt dokumentieren – eine Aufgabe, die bisher Pflegekräfte wahrnehmen. Langfristig soll Emma ans Internet angeschlossen werden, um von dort Software-Updates zu bekommen und in Clouds ihre Daten aufzubewahren. Wird Emma irgendwann nicht nur Krankheitsverläufe nachzeichnen, sondern auch Diagnosen stellen? Der Deutsche Ethikrat beschäftigt sich schon seit einigen Jahren mit den Themen von Big Data und Gesundheit- mit Datensouveränität.
Nach einer Umfrage für den Digitalverband Bitkom ist eine Mehrheit der Bundesbürger von einem künftigen Einsatz von Robotertechnik in der Pflege überzeugt. 57 Prozent der 100O Befragten über 18 Jahre rechnen in zehn Jahren mit Roboter-Unterstützung für Pflegekräfte bei schweren Arbeiten. Skeptischer bewerten die Befragten Service-Roboter, die etwa Essen zubereiten und servieren – aber noch 45 Prozent halten dies für wahrscheinlich. Vom Einsatz von „Kuschel-Robotern“, die sich mit den Pflegebedürftigen unterhalten können und Emotionen zeigen, sind dagegen nur 28 Prozent überzeugt. Da spüren sie ein Defizit – vielleicht mehr als sie es wissen. Tatsächlich passt sich nämlich der Herzschlag eines Kindes, ja, der eines Tiers dem unseren an, wenn wir lange eng zusammen liegen. Bei der kuscheligen Robbe ist das nicht so. Das zeigt eindrücklich, wie wichtig eine Diskussion über ethische Werte ist – schließlich kommt eine derartige Technologie dem Menschen besonders nahe. „Wer erlebt hat, wie positiv alte Menschen mit Demenz auf eine ihnen angenehme Berührung reagieren, kommt im Traum nicht auf die Idee, für die Körperpflege …Roboter einsetzen zu wollen“, schreibt Adelheid v. Stössel. Wir können existenzielle Kommunikation und menschliche Beziehungen nicht an technische Systeme externalisieren wie die Ortskenntnis an den Navi oder den Kalender ans Smartphone, ohne selbst zu verarmen
4. Verletzlich. Endlich. Souverän
4.1. Sterben in Pandemiezeiten und Trauer im Netz
Auf Facebook wird zurzeit gesammelt für einen Telefonnotruf für Sterbenskranke. Eine Reaktion auf das einsame Sterben in der Pandemie. Es scheint ja so, als hätten wir alles vergessen, was wir von der Hospizbewegung gelernt haben. Und auch das hat mit ganz basalen, körperlichen Erfahrungen zu tun. Eine Hand halten, die Füße massieren, Düfte und Öle verwenden.
In der Vorstellung, dass so etwas auf mich zukäme, war ich mir trotzdem sehr sicher, dass ich wenigstens mein Smartphone und mein Tablett bei mir hätte, um mich mit meinen Liebsten zu verbinden. Viele Familien haben von solchen Abschiedsszenarien berichtet. Natürlich ist hier das Netz nur eine Krücke – aber wer damit lebt, wird es vielleicht ganz selbstverständlich auch in Krankheit und Sterben nutzen.
Und das gilt auch für Bestattungen. Schon seit einigen Jahren bieten Bestatter auch Streamings der Trauerfeier an- für Verwandte im Ausland zum Beispiel. Das hat nun in der Pandemie enorm zugenommen. Und auch die virtuellen Friedhöfe werden mehr genutzt. Gelegentlich sehe ich Traueranzeigen in der Zeitung – mit einem QR-Code zum virtuellen Grab, wo ich eine Kerze anzünden oder Blumen hinterlegen kann. Eine solche Seite findet man nun auch bei der Bayerischen Landeskirche und auf der EKD-Website: www.gedenkenswert.de.
4.2. Endlich leben lernen. Warum ist die Kirche ein wichtiger Akteur?
Zerbrechlich. Endlich. Souverän habe ich diesen Impuls überschrieben. Mir geht es darum, eine neue Art von Souveränität zu entwickeln – und ich glaube, dass gerade wir Älteren dabei in besonderer Weise gefragt sind. Denn einerseits ist die Digitalisierung eine Riesenchance – ich kann mir die Welt ins Wohnzimmer holen, länger in meinem privaten Wohnumfeld bleiben, mich auch in meinem Dorf vernetzen. Andererseits steckt darin auch eine große Verführung: manchmal vergesse ich, wie sehr ich auf andere angewiesen bin und welches Glück es ist, einem Menschen unmittelbar zu begegnen. Wie begrenzt meine Ressourcen sind. Dass ich endlich bin.
„Der digitale Habitus lautet: Alles muss sofort verfügbar sein“, schreibt der Berliner Philosoph Byung-Chul Han. Sinn und Zweck der digitalen Ordnung ist die totale Verfügbarmachung. „ Ihr fehlt die Langsamkeit der zögernden Scheu vor dem Unmachbaren“. Dagegen ist das Geheimnis wesentlich für die terrane Ordnung. Transparenz heißt hingegen die Losung der digitalen Ordnung. Sie beseitigt jede Verborgenheit. Verfügbarkeit, schreibt Han, lässt sich nur konsumieren- sie lässt kein Verweilen zu, kein Warten, keine Geduld. Das Verfügbare duftet nicht.“
Bewusst mit meiner Endlichkeit und Vulnerabilität leben- und mich an all den Möglichkeiten freuen, die Zeit und Raum überschreiten. Mich selbst immer wieder neu als Geschöpf begreifen, als einzigartige Person mit eigenen Rechten und zugleich als Teil einer Gemeinschaft. Das entspricht dem christlichen Menschenbild. Es gehört zu den Grundwahrheiten der Kirche.
Und deshalb sind die neuen Techniken gerade für Kirche eine große Herausforderung. Wie nutzen wir die Digitalisierung, um Gemeinschaft zu gestalten, zu leben? Gemeindebriefe seien gut, meint Volker Jung. Aber für die aktive Kommunikation sei das zu wenig Es müsste möglich sein, die Kirchenmitglieder, die das wollen, digital zu erreichen- und selbstverständlich müssten Informationen über die Gemeinden und ihre Angebote, ja auch über ihre Botschaft auch über Sprachassistenten verfügbar sein. Gruppenarbeit und Gottesdienste, Telefon- und Videoketten und natürlich auch die Seelsorge müssen sich darauf einstellen.
Wenn jetzt manche sagen: Für die Alten haben wir ja das gute alte Telefon, dann ist das nicht nur eine falsche Einschätzung gerade der jungen Alten, sondern auch gefährlich. Zu oft werden gerade die Älteren auf überholte Altersbilder festlegt. Vielleicht ist es so, dass sich gerade in den Gemeinden diejenigen sammeln, die unmittelbare Kontakte suchen – beim Mittagstisch, in Gesprächsgruppen. Jetzt aber, wo das nicht möglich ist, sind sie umso mehr auf Alternativen angewiesen. Deshalb ist digitale Bildung eine große Aufgabe gerade für die Gemeinden.
Cornelia Coenen-Marx, 28.4.21