Welche Kirche wollen wir in Zukunft sein – und was muss sich ändern auf dem Weg dahin?

Vortrag Dekanatssynode Dreieich-Rodgau am 24.2.23

1. Menschen brauchen Menschen – Wir bleiben angewiesen

Eine alte Frau, die von einer jungen umarmt wird – ihrer Tochter vielleicht, vielleicht ihrer Pflegerin. Beide tragen durchsichtige Plastikregenmäntel als Schutz gegen das Virus;  die Ärmel der jüngeren  sehen aus, als seien es Engelsflügel. Das World-Press-Foto 21 setzt unser Grundgefühl während der Pandemie ins Bild: Die Sehnsucht nach Nähe und Berührung. Mehr als 50 Prozent der an Covid 19 Verstorbenen waren Heimbewohner. Sie starben ohne Berührung, ohne eine Hand, die sie hielt. Während des Lockdowns schien das alles zweitrangig. 

„Ich habe in den ersten Wochen der Corona-Zeit das Alleinsein als besondere Last empfunden, viel schwerer und niederdrückender als vorher. Ich habe vermisst, dass jemand mich umarmt oder mir die Hand gibt“, schreibt eine ältere Freundin.[1] Vielen ging es ähnlich: Plötzlich fehlten die Großeltern, die sonst einspringen, wenn das labile Gleichgewicht des Alltags aus dem Tritt gerät. Oder die pflege- und hilfebedürftigen Eltern waren zu weit weg, um unter Corona-Bedingungen kurz nach ihnen zu schauen. Die studierenden Kinder im Ausland konnten nicht mehr kommen,  Kolleg*innen sahen sich nur noch über die bekannten „Kacheln“ und selbst nahe Angehörige durften sich nicht mehr umarmen. Und im  Sozio-ökonomischen Panel 2021 gaben rund 42 Prozent der Bevölkerung an, sich einsam zu fühlen[2].

„An Einsamkeit stirbt man nur länger als an Corona“, sagt Elke Schilling, die Gründerin von „Silvernetz“. Einsamkeit erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch Depressionen und Suizidalität. Nach einer Berechnung einer Forschergruppe aus Großbritannien könnten 20 Prozent Gesundheitskosten eingespart werden, wenn man soziale Angebote auf Rezept verschriebe: Wandergruppen, Gesprächskreise, Chorgesang.[3] Es geht darum, dass Menschen die Gefühle von  Isolation und Hilflosigkeit überwinden, dass sie Erfahrungen teilen und an gemeinschaftlichen Projekten teilhaben. Darauf sind wir angewiesen- in jedem Alter. Weil zum Menschsein eben nicht nur Freiheit und Autonomie, sondern auch Verletzlichkeit und Endlichkeit gehören. Wir sind trostbedürftig. Und wir brauchen Rituale, um den kollektiven Schrecken zu bewältigen. Mit „Deutschland stellt ein Licht ins Fenster“ hat der Bundespräsident um Frühjahr 2021 eine Aktion ins Leben gerufen, die Menschen untereinander verband und so auch die Einsamkeit für einen Moment zurücktreten ließ.

Und wie sah es mit der Kirche aus? Auch wenn viele Gemeinden in dieser Zeit sehr bedacht neue Seelsorge- und Gesprächsangebote gemacht haben- oft auch virtuell, gab es große Kritik am öffentlichen Auftreten der Kirche. „Ruhe war erste Bischofspflicht in der Corona-Krise: Die Religionsgemeinschaften haben den „Abstand“ zur neuen Form der Nächstenliebe erklärt. Das ist fatal“, schrieb Heribert Prantl. „Die Kirche hat die allein gelassen, die es am meisten gebraucht hätten: Pflegebedürftige, Alte, Einsame, Sterbende“, sagte Christine Lieberknecht. Und anderswo las ich: „Das Virus macht endgültig deutlich, wie nutzlos die Kirchen mittlerweile geworden sind. Religiös Hilfreiches zur Bewältigung der Krise war von ihnen nicht zu hören.“ Das tut weh. Aber es macht zugleich deutlich, was Menschen von uns erwarten.

2. Dich schickt der Himmel – Sorgenetze

Alleinleben scheint der beste Weg, die Werte unserer Gesellschaft zu leben: Freiheit, Selbstverwirklichung und Selbstkontrolle. 16,8 Millionen Singles zwischen 18 und 65 Jahren leben im Deutschland – das sind 30 Prozent aller Frauen und Männer im mittleren Alter. ( 2018) Wer allerdings häufig umzieht oder auch pendelt, verliert die alltägliche Einbettung in Familie und Nachbarschaft. Vor allem Familien mit kleinen Kindern, auch alte oder kranke Menschen – deren Anteil an der Gesamtbevölkerung mit dem demografischen Wandel wächst – geraten bei der Bewältigung des Alltags besonders unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen zurückgreifen können. Vor allem die Hochbetagten, Dementen und Pflegebedürftigen brauchen Unterstützung, um auch weiterhin Teil der Gemeinde zu bleiben“, sagt Eckart Hammer.[4] 40 Prozent der Über-70-jährigen leben allein. Aber nur noch ein Viertel der erwachsenen Kinder lebt am Wohnort der Eltern.

Während der Corona-Krise entstanden an vielen Orten Einkaufs- und Fahrdienste für die Älteren- oft spontan in der Nachbarschaft, oft aber auch organisiert von Kirche, Diakonie oder Caritas. In Witzenhausen haben die evangelische Gemeinde, die Stadt, die St.-Georgs-Pfadfindern und der Kreisjugendring zusammen „ Dich schickt der Himmel“ ins Leben gerufen- wie andernorts in Hessen auch. Über die gemeinsame Plattform meldeten sich  innerhalb von drei Tagen über 150 Ehrenamtliche und 230 Hilfesuchende. Hier konnte sich jeder melden- egal welche Konfession, egal ob Kirchenmitglied oder nicht. Wir können einander zu Engeln werden.

Solche Projekte haben aufgenommen, was sich in der Quartiersbewegung schon länger entwickelt hatte. Stadtteilzentren, Sozialstationen und Kommunen organisieren Nachbarschaftsnetze mit Telefonketten, Begleitung bei Arztbesuchen oder Einkäufen, bei Fahrten zum Friedhof oder in der Demenzbegleitung. Ältere treffen sich zu einem Mittagstisch. Da wird gemeinsam eingekauft, reihum gekocht, Rezepte werden ausgetauscht und Geschichten erzählt. Und wenn jemand fehlt, fragt bestimmt ein*e andere*r nach. Inzwischen entwickelt auch das Bundesfamilienministerium eine Strategie gegen Einsamkeit.[5] Modellprojekte wie  „Miteinander Füreinander“ oder „Verein(t) gegen Einsamkeit“ stehen in der Tradition der Corona-Hilfsnetze.

„Caring Communities“ „Sorgende Gemeinschaften“ [6] , sind in den letzten 10 Jahren zum Leitbegriff geworden. Dabei geht es um wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, auf lokaler Ebene Verantwortung zu übernehmen: für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung. Es geht um Zugehörigkeit und Heime. Denn vor Ort manifestieren sich die aktuellen Probleme, aber genau dort finden sich auch  die tragfähigen Antworten auf die drängenden Bedürfnisse der Zeit. Wir sehen das an der wachsenden Bedeutung der Kommunalpolitik- von der Pflege bis zur Tageseinrichtung, von der Verkehrswende bis zur Energie sind die Kommunen unter Druck- Lösungen müssen vor Ort entwickelt werden, aber die Ressourcen werden knapper.  Wichtig ist, einen Rahmen zu schaffen, in dem Begegnungen möglich sind, wo Ideen ausgetauscht werden können, wo das Ganze, die Gemeinschaft in den Blick kommt. Nicht nur von oben – als Dienstleistung der Kommune, als Angebote der Gemeinden, sondern von unten- in den Selbstwirksamkeitserfahrungen der Menschen. “Maßgeblich ist, dass Menschen sich nicht nur umsorgt fühlen und umsorgt sind, sondern dass sie auch Gelegenheit haben, für andere zu sorgen“, schreibt die britische Soziologin Nurena Hertz in ihrem Essay über Einsamkeit. Die eigenen Sorgekräfte entdecken- darum geht es. Dabei bezieht sich die „Sorge“ auf das „Dazwischen“ in der Beziehung, das gemeinschaftliche Gewebe zwischen Menschen“,[7] wie Hannah Arendt sagt. Das Interesse aneinander, das in der Sorge spürbar wird, gilt dem ganzen Menschen, nicht nur dem Austausch von Waren und Dienstleistungen. Es geht um Teilhabe- und auch ums Teilen.

 „Keiner von uns lebt für sich selbst, keiner stirbt für sich selbst“, heißt es bei Paulus. „Leben wir, so leben wir dem Herrn.“ Für Paulus ist Unabhängigkeit nicht das höchste- Zugehörigkeit und Hingabe geben dem Leben Sinn. Die christliche Gemeinschaft wird als ein Körper beschrieben, bei dem jedes Glied  gebraucht wird. Und die Sehnsucht nach einer lebendigen Gemeinschaft, die Hoffnung, das Getrenntsein zu überwinden, ist gerade besonders groß. Was kann Kirche dazu beitragen, dass Menschen diese Erfahrung machen? 

„Als Kirchengemeinde sind wir zugleich Teil der Gemeinschaft vor Ort, sind in Vereinen, auf dem Markt, in Geschäften unterwegs, stolpern über dieselben Schwellen, beobachten wunderlich gewordene Nachbarn“, sagt Annegret Zander. Kirchengemeinden verfügen über Daten und lokales Wissen, über ein Frühwarnsystem für soziale Umbrüche. Sie können Ideenentwickler, Initiatoren von oder Beteiligte an den Netzwerkprozessen, verlässliche und kontinuierliche Kooperationspartner. Und sie verfügen über Gebäude und Liegenschaften – ein immenses soziales und kulturelles Kapital. Die entscheidende Frage ist, ob es gelingt, die Kirchen wieder in den Sozialraum zu öffnen.

3. Wo man sich trifft – Kirche in der Nachbarschaft

Freundlich grüßen, die Post annehmen und ansonsten in Ruhe gelassen werden: Mehr wünschen sich viele nicht von ihren Nachbarn.[8]. „Man hilft sich gelegentlich, vermeidet aber zu große Nähe“, sagt der Stadtforscher Walter Siebel.[9] „Nachbarschaft bedeutet auch immer soziale Kontrolle. Und eines der großen Versprechen von Städten ist, dieser Beobachtung zu entgehen.“ In den letzten Jahren scheint sich da aber etwas zu verändern: Es gibt Nachbarschaftspreise, Nachbarschaftsplattformen; der Tag des Nachbarn wird gefeiert. Das Thema „Nachbarschaft boomt“. Die Internetplattform „Nebenan.de“ [10]hatte 2018 bereits 850.000 Nutzer – während der Pandemie wuchs sie auf 1, 5 Millionen und ist nun in allen Bundesländern präsent.

Um Bürgerbeteiligung zu organisieren, genügt es aber nicht, eine Plattform zu installieren, weder digital noch analog. Untersuchungen von Martina Wegner aus Freiburg zeigen, dass sich auf diese Weise immer nur die gleichen beteiligen: die hochengagierte Mittelschicht mit ihren eigenen Interessen. Wenn die teilhaben sollen, die ihre Rechte nicht selbstverständlich wahrnehmen, sind intermediäre Organisationen nötig: Schulen, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Parteien. Der Theologe Ernst Lange, Gründer der Berliner „Ladenkirche“, sprach von der Ortsgemeinde als dem „Ensemble der Opfer“. Wer weniger mobil ist und über geringe Ressourcen verfügt, wer sich keine großen Sprünge leisten kann, ist besonders auf eine gute Nachbarschaft und auf Angebote vor Ort angewiesen- genauso wie auf verlässlichen Nahverkehr. Da geht es  Familien mit kleinen Kindern nicht anders als Geflüchteten oder Älteren . Sie brauchen Räume, wo unterschiedliche Generationen einander begegnen und unterstützen können. „Wir sollten alles dafür tun, soziale Marktplätze zu erhalten oder neu aufzubauen“, meint Jutta Allmendinger. [11]

Inzwischen haben viele Kirchengemeinden erkannt, welchen Schatz ihre Räume darstellen. Für die Zielgruppen, die traditionell in der Gemeinde Raum finden: Kinder, Familien, Ältere – aber auch für die, die keine anderen öffentlichen Räume haben, weil die Schulen zentralisiert und die Dorfkneipen geschlossen wurden. Da mag es sein, dass das Gemeindezentrum längst zu groß ist für ein Clublokal- aber als Treffpunkt für Engagierte, Vereine, Familienfeiern ist es ideal. So werden Gemeindezentren zu Gemeinwesenzentren wie das Bonni in Gelsenkirchen, das alte Dietrich-Bonhoeffer-Haus, das die Konfirmanden und Konfirmandinnen „Bonni“ nannten. Heute wird getragen von einem Bürgerverein, zu dem Sportvereine genauso gehören wie die migrantische Gemeinschaft vor Ort; das Ganze wird gesponsert von  der Industrie.

Aber auch die Gottesdiensträume bekommen eine neue Bedeutung als  Vesperkirchen. Auch wer kein Geld und keine Beziehungen hat, wer keine saubere Kleidung hat, ist hier willkommen. Viele bieten neben einer Suppe oder Broten und warmem Tee auch die Möglichkeit für einen Haarschnitt oder eine warme Dusche. Hier können Menschen zu sich kommen, weil andere ihnen offen und vorurteilsfrei begegnen. Freiwillige finden sich immer – weit über die Kerngemeinde hinaus. Was sie fasziniert: Die Unmittelbarkeit, in der wir uns und unser Gegenüber neu wahrnehmen. In unserer Verletzlichkeit und Angewiesenheit.

In meiner ehemaligen Gemeinde in Mönchengladbach wurde Mitte der 80-er Jahre der Gemeindeladen gegründet- inspiriert von Ernst Langes Ladenkirche. Inzwischen wird er ökumenisch getragen.  Die Besucher kommen aus allen Vierteln, aus allen Schichten- Einheimische wie neu Zugezogene. Café und Bibliothek, Kleiderkammer, Sozialsprechstunde und Volkshochschulkurse sprechen ganz unterschiedliche Interessen an. Und auch die breite Vernetzung mit Einzelhandel, Sportvereinen, dem Bürgerbüro hält den Laden offen- genauso wie die vielen Engagierten, die gern einbringen, was sie können und weitergeben wollen. Als die Leiterin zum 25-jährigen Bestehen aus der Geschichte des Ladens erzählte, wurde ein weiteres Geheimnis klar: Das große ehrenamtliche Team  war immer nah dran an den jeweiligen Bedarfen und Bedürfnissen – von den Mutter-Kind-Gruppen der 80er Jahre über die Schulkindermittagsbetreuung in den 90er Jahren bis zum Pflegeverein und schließlich zum Treffpunkt von Geflüchteten und Engagierten. Sie alle treffen sich zum Café, tauschen sich aus und entwickeln neue Ideen und Projekte. Und wenn dort abends Gottesdienst ist, dann leuchten die biblischen Geschichten auf- die Werke der Barmherzigkeit, die Tischgemeinschaft in Jerusalem.

Das Land Schleswig-Holstein hat die Erfahrung mit solchen Treffpunkten im Konzept der Markttreffs[12] aufgenommen.  Dorfladen plus Dienstleistung plus offener Treff, das ist das äußerst erfolgreiche Prinzip. Anderswo sind  ländliche Co-Working-Spaces entstanden, immer häufiger mit Kinderbetreuung, die Vereinbarkeit ermöglichen und auch entfernt von Büro in der Stadt ein Miteinander gestalten, das im Home- Office fehlt. 

 Aber auch die traditionellen Marktplätze und Kirchplätze werden neu entdeckt: als offene Räume der Begegnung- so wie wir sie während der Pandemie erfahren haben. Beim Gottesdienst auf dem Kirchplatz, bei der Taufe am Fluss. Jetzt steht auf dem Vorplatz der Kirche vielleicht  eine Telefonzelle zum Buchtausch oder ein Büdchen, wo es nicht nur Bier und Pommes, sondern auch Vernetzungsmöglichkeiten gibt. Und in einem Dorf in der Eifel hat eine Künstlerin die Bank for better Anderständing gebaut – eine Bank, die durch das Dorf wandert und zum Gespräch einlädt. Ankerpunkte mitten im Alltag. Klein, aber stark.

4. Grenzen durchlässig machen – Wie Gemeinden wachsen

Vor 25 Jahren benannte die Diakoniedenkschrift zum 150. Jubiläum der Inneren Mission vier Perspektiven für die Zukunft: Es geht darum, die Distanz zwischen Kirchengemeinden und Diakonischen Diensten zu überbrücken, die Kontakte zu zivilgesellschaftlichen Initiativen zu verbessern, die Bedürfnisse von Betroffenen besser wahrzunehmen und schließlich die Vernetzung mit außerkirchlichen Trägern n zu suchen.[13] Dazu gehört eine Sensibilität für die Stärken anderer Organisationen und eine Haltung, die offen, lernbereit und sich des eigenen Profils bewusst ist. Mit seinem Konzept vom dritten Sozialraum hat der Gütersloher Psychiater Klaus Dörner viele Jahre lang für eine neue Wertschätzung der Kirchengemeinden und für die Wiedervereinigung von diakonischer Professionalität und kirchengemeindlichem Bürgerengagement geworben. Kirchengemeinden, das ist die Hoffnung, könnten Caring Communities werden oder jedenfalls zum Entstehen von Caring Communities beitragen[14] – so wie sie es über Jahrzehnte mit ihren Gemeindeschwestern getan haben. Die Sorgekräfte sind noch immer da – nicht nur bei uns, sondern bei vielen. Der Sozialmarkt, die religiös gemischte Zivilgesellschaft sind auf Kooperation angewiesen.

Darum verankern sich Gemeinden neu im Raum, – so wie hier auf der Karte, die im Zukunftsforum in Zürich-Seebach entstand. Da erkennt man die Eisenbahnlinie, die die Viertel der Einheimischen von denen der Zugezogenen trennt, aber auch die Orte der Gemeinschaft, der Erinnerung, der Trauer.  Wenn wir wollen, dass Kirche in Gang kommt, dann müssen wir selbst gehen, sagen die Leute vom Zukunftsforum. Denn „es geht nicht um volle Kirchenbänke. Es geht um das volle Leben. Und das findet sich eben auch vor der Kirchentür“ . In Zürich-Seebach hat sich die Gemeinde in kleinen Nachbarschaftsgruppen organisiert- 10 oder 12 Leute, die darauf achten, was in ihrer Nachbarschaft passiert, wie es den Menschen geht, wo es neue Ideen braucht. 

 Das Amt für Gemeindedienst der Ev.-luth. Kirche in Bayern hat als Unterstützung die „Fragetasche“ entwickelt, die dazu einlädt, den nach den Interessen und der Arbeit anderer zu fragen und den Sozialraum als Gelegenheit für Beziehungen wahr zu nehmen. Hier in Hessen-Nassau gibt es den Fragekoffer. Und das  MiDi in Berlin hat ein Tool zur Sozialraumarbeit, das man sich aufs Handy laden kann.  Das alles kann ganz klein anfangen- bei einem Stadtspaziergang mit unterschiedlichen Zielgruppen- mit Neuzugezogenen, Kindern, mit Geflüchteten oder Älteren. Oder mit einem „Mikroprojekt“: Zwei Fragen auf einem Bierdeckel, der in alle Häuser verteilt wird. „Was halten Sie für die größte Herausforderung im Stadtteil?“ „ Wie kann Kirche dabei helfen, eine gute Lösung zu finden.?“ Es  geht es  immer darum, den Blick von unten einzuüben, an der Seite der Nachbarn mit ihren Verletzungen und Lebensbrüchen. Erst einmal nur da sein, zuhören und versuchen, heraus zu finden, was nötig sein könnte, was wir gemeinsam in Angriff nehmen könnten.

Klaus Doppler unterscheidet in seinem Buch „Die Logik der Anderen“ verschiedene Bedeutungen des „Wir“, das er einen „edlen Deckel auf einem undurchsichtigen Topf“ nennt: Die unverblümte Vereinnahmung, die verdeckte Vereinnahmung, das Einschwören gegen einen gemeinsamen Feind und die freundliche Einladung. Nur mit dieser Offenheit wird aus einem exklusiven Wir (das andere eher ausschließt und sich abgrenzt), ein inklusives Wir – Wir wirken zusammen vor Ort für ein gutes Miteinander! „Dieses neue Wir ist bei allem Tun als Ziel, Kriterium, Perspektive und Anfrage im Blick – als Grundhaltung und Wegweiser für ein solidarisches, kreatives Miteinander“, heißt es in den Zehn Gebote zur Sozialraumorientierung  bei Kirche im Dialog.

Renate Kersten, Pfarrerin im Pfarrsprengel Berlin-Malchow hat 2018 eine Studienarbeit über die Berliner Hochhaussiedlungen wie Marzahn-Hellersdorf, das soziale Engagement von Gruppen und Gemeinden generiere nicht automatisch Gemeindenachwuchs. Aber „es hilft Kerngemeinden aber in dreifacher Weise: Erstens verwirklichen sie hier, was ihren Grundüberzeugungen entspricht. Die spürbare Übereinstimmung von Glauben und Handeln ist Bestätigung und Motivation zugleich. Zweitens bindet soziale Arbeit Menschen ein, die sich ehrenamtlich engagieren wollen. Manche Gemeindeglieder finden auf diese Weise einen Platz unter den Aktiven in ihrer Gemeinde. Drittens hilft das soziale Engagement den Kerngemeinden, Teile der sozialen Realität in ihrer Umgebung besser in den Blick bekommen und mit Menschen in ihrer Umgebung in Kontakt zu kommen“-

Letztlich geht es  um die Frage, wer wir als Kirche sind und was unser Auftrag ist. „Der Auftrag der „Kommunikation des Evangeliums“[15],meint Renate Kersten, werde in den Gemeinden durchgehend als »auf Sendung gehen« verstanden- als besäßen die Gemeinden das Evangelium. Dem gegenüber sei mit Mt. 25, 31ff, mit dem Gleichnis vom Weltgericht, festzuhalten, dass uns Christus oft unerwartet begegnet – auch in denen, die das Evangelium augenscheinlich nicht haben. Wenn der Habitus der Gemeinde nicht Zugänglichkeit signalisiere, könnten wir noch so tolle Angebote machen- es sei nichts gewonnen. Da könnten wir noch so gut predigen, noch so tolle Angebote machen- wir würden immer als Club für bestimmte Milieus wahrgenommen.

«Christ*innen verbürgen sich dafür, dass es einen Zugang zu Gott gibt, und dass er allen offensteht“, schreibt Kersten. Das weist uns einen Platz an der Seite Christi und an der Seite der Menschen, die uns anvertraut sind, zu. Wir gehen mit, wie Christus mit uns geht. Wir lernen, nicht zu wissen, wo uns Christus begegnet, aber darauf zu vertrauen, dass er uns begegnen wird. Wir lernen es, das Evangelium nicht zu »haben«, sondern mit und in anderen zu entdecken. Der Weg nach Emmaus hilft, zu begreifen, dass nicht die, die sich einmal zum Glauben bekannt haben, wissen, wo Christus zu finden ist. Die Haltung, Christ*innen hätten das Evangelium und die anderen hätten es nicht, überfordert die einen und unterschätzt die Mobilität Gottes, als Geist zu wehen, wo Gott will, in Christus zu begegnen, wann und wo Gott will“.

Glaube ist ein Prozess, der weit über die Grenzen unserer Organisation hinaus geht. „Wenn man die Einsicht ernst nimmt, dass Glaube immer ein Prozess ist und dass Areligiosität auch unter Kirchenmitgliedern vorhanden ist, dann wird es absurd, ausschließlich zwischen Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft zu unterscheiden“, sagt Hans-Martin Barth. Das Engagement in der Gemeinde kann den Weg zur Mitgliedschaft ebnen. Aber wie kann die Teilhabe von Interessierten aussehen? Klar ist, wie müssen uns heraus begeben aus unserer vertrauten Gemeinschaft. Denn die Kirche ist nicht dazu da, nur die eigene Gemeinschaft zu pflegen“, sagte Paul Humburg am Vorabend der Barmer Bekenntnissynode in der dortigen Stadthalle. „Die bekennende Gemeinde muss darum ringen, als Gemeinde das Herz der Welt zu sein. 

5. Das neue Wir – sieben Wandlungen

Add value – oder don’t do it, heißt es in der Wirtschaft. „Empower people oder don’t do it“, formuliert Michael Domsgen den kirchlichen Imperativ. Das Evangelium kommt zur Geltung, wenn es als froh machende Botschaft, als Ermächtigung erfahren wird, sagt er. Kirche ist ein Ermöglichungsraum, in dem Menschen diese Kraft erfahren können. Wer diese Erfahrung macht, wird sich zugehörig fühlen und dann auch gern Mitglied sein. Wenn wir allerdings solche Erfahrungen funktionalisieren wollen, um Mitglieder zu gewinnen, wird das nicht gelingen.

Deswegen suchen viele nach Wegen, mehr Freiheit in die bisherige Ordnung der Organisation zu bringen, deshalb denken wir über Mitgliedschaft auf Probe oder auf Zeit nach, über mehr Einfluss der Mitglieder auf ihre Beiträge, über neue Einnahmeformen. Vieles davon ist in anderen Ländern wie z.B. in Großbritannien längst erprobt- in der mixed economy, in fresh expressions.  Heute zahlen 90 Prozent der Mitglieder, was 10 Prozent nutzen. So kann es nicht bleiben.

1. Wir stehen im Schatten – setzen wir die anderen ins Licht!

Kirche macht sich auf – öffnet Räume, die Köpfe, Herzen – für neue Ideen, neue Menschen und ihre Fragen und Suchbewegungen . Das geschieht bei Stadtspaziergängen und Stadtteilfesten, bei Besuchsdienst und  „Dich schickt der Himmel“ oder auch bei der Herzenssprechstunde auf der Kirchenbank am Marktplatz.

Wenn die Kirchen vielen fremd sind, für andere zum Museum geworden, dann geht es darum, Gott einen Ort in dieser Welt zu sichern,– mit unserem eigenen Glauben und Leben ( Madeleine Delbrêl )

2. Nicht Mitglieder oder Klienten sehen – sondern Nächste und Mitmenschen

Es geht darum, einen Rahmen zu schaffen, in dem Begegnungen mit anderen möglich sind. Auf dem Weg zu einem größeren WIR- WIR als Menschen, als Kinder Gottes, als Angewiesene und Suchende, Verletzliche und Liebende. Das kann auch ein gemeinsames Projekt sein –ein Bürgergutachten, ein Generationentreff, ein Gartenprojekt.

Einfach machen! Keine großen Pläne und Strukturdebatten sind gefragt, sondern erste, konkrete Schritte („ins Tun kommen“!).!

3. Wir sind keine Grenzwächter, sondern Brückenbauer – Türen öffnen, Zeugen werden.

Das gilt auch und gerade für Taufe und Abendmahl. Wir feiern Tauffeste und Tauferinnerungsfeste in der Kirche, auf den Plätzen. Wir gestalten Segensfeiern für die Liebe. Auch wenn wir die leibliche Erfahrung schätzen- Gemeinschaft beim Abendmahl erleben wir auch virtuell.

Ich träume von einer Kirche, die nicht mehr weiß, was Mitgliedschaft bedeutet( Werner Meyknecht, Pfr. In Landsberg)

4. Die Kirche der Funktionäre verliert an Kraft – Den Engagierten Raum geben!

Wir fragen Menschen vor Ort, was sie brauchen und wollen, laden zu Beteiligung ein, öffnen Räume und Ressourcen.

Mit dem Risiko: Unsere Kirchengemeinde verändert sich, sie öffnet sich für neue Milieus, Ideen, Kompetenzen- bei neuen Engagierten, aber auch bei langjährigen Ehrenamtlichen. Gemeinde wird aktiver Teil der Zivilgesellschaft.

„Wenn wir nicht allein bleiben und nicht nur privatisieren wollen, dann brauchen wir Räume, wo wir hingehen können. Um andere zu treffen. Um uns auszutauschen. Um gemeinsam etwas zu tun. Um uns als gesellschaftliche Wesen zu erleben.“( Lisa Frohn).

5. Schluss mit der Angst vor ( Profil)-Verlusten  Die Kraft des Con nutzen

Ideen vernetzen, Doppelangebote identifizieren und vermeiden, Gemeinde ökumenisch entwickeln

Die Kirchengemeinden sind  untereinander vor Ort gut vernetzt und präsent und gestalten in Zusammenarbeit mit anderen, Religionsgemeinschaften, Behörden und Organisationen die Gesellschaft mit ( Vision St. Gallen)

6. Kirchen sind keine Clubhäuser – Gemeinwesenzentren werden gebraucht.

Und wo es keine Zentren gibt, schaffen wir welche.

Im Wohnwagen mit Bücherei, im Trauer Café auf dem Friedhof, mit dem Seelsorge-Camper auf dem Markt und mit der Lichterbank auf dem Kirchplatz, die an die aktuellen Katastrophen erinnern.

Wenn ich einen Traum von der Kirche habe, so ist es der Traum von den offenen Türen gerade für die Fremden, die anders sprechen, essen, riechen. Mein Haus wünsche ich mir nicht als eine für andere unbetretbare Festung, sondern mit vielen Türen. Heimat, die wir nur für uns selbst besitzen, macht uns eng und muffig.“ (Dorothee Sölle)

7. Die alten Rollen taugen nicht mehr – wir üben neue ein.

Beleuchter sein statt Regisseurin.

Kellnerin statt Gastgeberin

Schatzsucherin statt Museumswächterin.

Role making statt Role taking:

„Von jetzt an sollst Du Menschen fischen“        

Cornelia Coenen-Marx, Pastorin, Autorin, Coach

www.seele-und-sorge.de


[1] Vgl. dazu Hammer, Eckart, Impulsprojekt Demenz und Kommune. Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung, ein Projekt der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg e. V., Stuttgart/Ludwigsburg 2019, https://www.demenzundkommune-bw.de/fachstelle-deko/projektabschluss [12.11.2022].

[2] Weiterhin einsam und weniger zufrieden – DIW Berlin

[3] https://www.deutschlandfunk.de/gtannien-ein-ministerium-leis

[4] Beirat Alter neu gestalten der Ev. Kirche in Württemberg

[5] https://www.bmfsfj.de/…/strategie-gegen-einsamkeit

[6][6] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.), Der Siebte Altenbericht der Bundesregierung. Sorge und Mitverantwortung in der Kommune Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften, Berlin 2016a, https://www.bmfsfj.de/blob/120144/2a5de459ec4984cb2f83739785c908d6/7–altenbericht—bundestagsdrucksache-data.pdf [13.11.2022].

[7]   Arendt, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 2002, Seite 68

[8] Kreutzer, Stefan/Siebel, Walter (2020): „Was wären wir ohne unsere Nachbarn“. Soziologe: Zauberformel für gute Nachbarschaft. BR Bayern 2, 30.11.2020. https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiowelt/walter-siebel-soziologe-wozu-brauchen-wir-nachbarschaft-100.html (Zugriff am 05.01.2021).

[9] Siebel, Walter (2019): Was wären wir ohne unsere Nachbarn, Psychologie heute, 5/2019

[10] https://nebenan.de

23  https://de.wikipedia.org/wiki/MarktTreff

[13] Evangelische Kirche in Deutschland, Herz und Mund und Tat und Leben, Hannover/Frankfurt am Main 1998, Seite 112

[14] Evangelische Kirche in Deutschland: Im Alter neu werden können. Evangelische Perspektiven für Individuum, Gesellschaft und Kirche. Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, Gütersloh 2010, Seite 124