Was wir essen – wer wir sind – und wie wir uns ändern können
Eine Straße in Bangkok – es ist früher Abend und die Fußgänger flanieren im späten Licht. Kleine Stände bieten Getränke und einen Imbiss an. Statt Pommes mit Mayo gibt es alle paar Meter geröstete Insekten. Unser Gastgeber, der deutsche Auslandspfarrer, schwärmt davon. Mir dreht sich der Magen um, wenn ich auch nur daran denke, davon zu kosten.
Ein Roman fällt mir ein, den ich vor langer Zeit gelesen habe: Es ging um eine orthodoxe Jüdin, eine junge Frau in New York, die ihr Elternhaus verlassen hat. Eine schwierige Entscheidung. Für die ersten Nächte hat sie sich in einem kleinen Hotel eingemietet – in einem anderen Stadtteil, weit weg von der jüdischen Community. Nun sitzt sie beim Frühstück. Um sich zu befreien aus den strengen Speiseregeln, mit denen sie aufgewachsen ist, hat sie Eier mit Speck bestellt. Schweinefleisch mit milchigem Ei- das ist nun wirklich nicht koscher. Ihr Magen weiß das. Da kann der Kopf sagen, was er will. Sie kommt gerade noch rechtzeitig zur Toilette, um sich zu übergeben.
Was wir essen, zeigt, wer wir sind. Es geht um unsere Identität und die ändern wir nicht von heute auf morgen. Davon erzählt auch die biblische Apostelgeschichte. Da sitzt Petrus bei Freunden in Joppe auf dem Dach um zu beten. Es ist Mittag, die Sonne scheint heiß, die Luft vibriert und sein Magen knurrt gewaltig. So bittet er, ihm etwas zu essen zu bringen. Während also das Essen zubereitet wird, hat er eine Vision: Er sieht ein riesiges Leinentuch vom Himmel herabkommen. Und als es sich vor ihm entfaltet, ist es gefüllt mir unreinen Tieren. Hummer, Krebse, Garnelen. Das ist nicht koscher- nein, das ist ungenießbar für ihn. Er geht auf Abstand – schüttelt den Kopf. Aber wie zum Hohn hört er diese Stimme : „Steh auf, Petrus, schlachte und iss.“ Nein- alles sträubt sich in ihm- auf keinen Fall. „ Ich habe noch nie etwas Unreines gegessen“, hört er sich sagen. Aber damit ist es nicht getan. Das Ganze wiederholt sich dreimal: das Tuch wird zum Himmel zurückgezogen, kehrt wieder, entfaltet sich und bietet ihm an, was kein frommer Jude essen würde. Dreimal wehrt er ab und jedes Mal antwortet die Stimme: „Was Gott gereinigt hat, das heiße Du nicht gemein“.
Offenbar ist Kritik angebracht an der Letztgültigkeit der Speiseregeln. Die Grenzen, die sie markieren, sind kulturelle Grenzen, die sich auch überwinden lassen. Was wir essen, zeigt, wer wir sind – aber wir können uns verändern. Grenzen überschreiten, aufeinander zugehen. So ist die Vision des Petrus nur der Auftakt zu einer Begegnungsgeschichte zwischen ihm, dem jüdischen Anhänger Jesu, und dem römischen Hauptmann Cornelius, von dem wir nicht genau wissen, welcher Religion er angehörte. Klar ist aber: Er glaubte an Gott, bemühte sich, ein guter Mensch zu sein und er betete wie alle hier in Israel, Schon am Tag, bevor Petrus seine Vision hat, hört Cornelius im Gebet eine Stimme. Mehr noch: Er sieht einen Engel vor sich, der ihm befiehlt, Petrus holen zu lassen. Eine Gebetserhörung- Gott, den er sucht, lässt sich finden. Und so kommt es, dass seine Diener am nächsten Tag in Joppe vor dem Haus stehen, in dem Petrus zu Gast ist. Genau in dem Moment, als der seine Vision hat. Der lässt nun gleich den Tisch decken und lädt sie zum Essen ein . Denn die Speiseregeln können uns spalten- die religiösen wie die modernen- aber die Tischgemeinschaft kann uns zusammenführen.
Am nächsten Tag geht Petrus mit den Dienern nach Caesarea, in das Haus des Hauptmanns. Eine Grenzüberschreitung auch das – eigentlich sollte er als frommer Jude das heidnische Haus gar nicht betreten. Das sagt er auch allen, die sich da versammelt haben, damit sie verstehen, was gerade passiert. Als dann aber Cornelius von dem Engel erzählt, denkt Petrus wieder an die Stimme, die ihn gerufen hat. Es ist wirklich, als hätte Gott sie aufeinander zugeführt. „ Nun erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht“, sagt er, „ sondern in jedem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm“. Eigentlich hätte er es wissen können – denn Jesus hat genau das gelebt. Aber es ist dann doch etwas anderes, das am eigenen Leib zu erfahren. Es geht eben nicht nur um unseren Kopf und unser Herz, es geht auch um unseren Magen. Das Fremde zu kosten, ohne es gleich auszuspucken. Den Fremden als Gleichen zu begreifen, ohne ihn erst einmal auf Abstand zu halten, das braucht Zeit. Und es geht wohl nur so, dass wir gute Weggefährten finden auf dem Weg über Grenzen ins Haus des anderen.
Der Sharehouse-Gedanke – ein neues Miteinander
Ich will Ihnen noch von Alex Assali erzählen. Alex kam 2014 aus Syrien und war an der italienischen Küste gelandet. Nach einer langen Odyssee hatte er das Glück, ein Zimmer im Sharehouse in Berlin zu finden. In dem schönen, hundertjährigen Haus in Neukölln leben und arbeiten Menschen aus aller Welt zusammen. Menschen, die ihre Heimat verloren haben oder verlassen mussten oder die nach neuem Leben in Gemeinschaft suchen. Sie kommen aus Syrien, Somalia, England und Deutschland, aus Schweden, Afghanistan oder der Türkei. Das Sharehouse ist kein Flüchtlingslager und kein Heim, es ist eine ‚Wohn- und Arbeitsgemeinschaft auf Zeit. Es geht nicht nur um die Integration von Geflüchteten, es geht um einen neuen Lebensstil.
„Jeder Mensch ist einzigartig und kostbar, darum fördern wir uns gegenseitig in unseren Fähigkeiten und Talenten. Wir helfen nicht, wir unterstützen einander auf Augenhöhe, denn keiner ist besser als der oder die andere, und nur im Teilen sind wir wirklich reich.“ Das ist der Sharehausgedanke und er erinnert mich an die Worte aus der Apostelgeschichte. „ In jedem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm.“
Dass Alex Assali im Sharehaus von Anfang an dazu gehörte, das hat ihn einfach glücklich gemacht – und von diesem Glück wollte er etwas weitergeben. So entschied er sich, eine Straßenküche aufzumachen. Er kochte Suppen und Eintöpfe mit Hammelfleisch, Linsen und Tomaten. Er packte die Töpfe auf sein Fahrrad und installierte eine Warmhalteplatte auf den Straßen Berlins. Und dann schöpfte er aus – an Flüchtlinge und Obdachlose und einfach an jeden, der probieren wollte. Kochen und zusammen essen wärmt das Herz – wie die Speisen den Magen.
„Das Sharehaus ist ein Garten, in dem deine einzigartigen Talente und Träume aufblühen können, es ist eine Gemeinschaft, in der alle gleich wichtig sind, und es ist eine Werkstatt für himmlische Gesellschaft“; kann man auf der Berliner Homepage lesen. Aber man muss nicht nach Neukölln fahren, um eine himmlische Werkstatt zu erleben. Bei uns in Garbsen, auf den Dörfern, gibt es interkulturelle Gärten. Man kann dort eine Parzelle mieten und anbauen, was einem schmeckt. Gemüse aus der alten Heimat. Einmal in der Woche wird in der kleinen Hütte dort zusammen gekocht und gegessen. DA gibt es dann Gerichte aus aller Welt und die Gastgeber erzählen die Traditionen und Geschichten, die da zu gehören. An einem Tisch lernt man sich schnell kennen und längst sind Freundschaften entstanden, die über die Gärten hinausgehen
Nichts verbindet so sehr, wie miteinander essen und füreinander sorgen. Das hat eine Freundin von mir erlebt, als ihr Vater sich 2015 um Geflüchtete aus Syrien gekümmert hat – sie auf Behörden begleitet, für eine Wohnung gesorgt hat. Nun lebt die Familien in direkter Nachbarschaft und seit die Eltern meiner Freundin krank und gebrechlich sind, kümmern sie sich. Schauen regelmäßig nach ihnen, kochen auch manchmal, helfen, wenn etwas aufzuräumen ist Eine sorgende Gemeinschaft ist entstanden, eine Großfamilie. Ein neues Miteinander.
In der Soziologie spricht man von einem neuen WIR. Dieses Wir ist nicht exklusiv, sondern inklusiv. Es kann seine Grenzen durchlässig machen, andere aufnehmen. Es verwandelt sich und wird dabei stärker. Vor zwei Jahren, als die vielen Geflüchteten aus der Ukraine kamen, haben wir dieses neue WIR in unzähligen privaten Haushalten und Wohngemeinschaften wachsen sehen. Das gibt mir Hoffnung im Blick auf die Gestaltung unserer europäischen Zukunft.
Freunde fast überall- das neue WIR
Aber auch in Israel und Palästina, wo wir seit dem Herbst mit Schrecken hinsehen, gibt es solche himmlischen Werkstätten .Ich denke an die christliche Schule Talita Kumi auf der Westbank in Beit Jala, an der in der Mehrheit muslimische Kinder lernen. Aber auch an die wenigen jüdisch-arabischen Versöhnungsprojekte, die es immer noch gibt. Nach dem 7. Oktober haben viele die Hoffnung verloren- zu furchtbar die Attentate, die Morde, Vergewaltigungen und Entführungen, zu schrecklich Krieg und Hunger in Gaza, die darauffolgten. Aber es gibt sie noch, Gemeinschaften wie das Friedensdorf Neve Schalom/ Wahat al-salam zwischen Tel Aviv und Jerusalem. In ihrem Newsletter heißt es : „ In dieser unglaublich schwierigen Zeit lernen wir aufs Neue, was Solidarität und was das Ringen um Frieden bedeuten […] und setzen uns umso stärker für Frieden zwischen unseren beiden Völkern ein; wir möchten bezeugen, dass Frieden möglich und notwendig ist.“
Und Gott sei Dank gibt es auch hier in Deutschland trotz aller Menschenfeindlichkeit Gemeinschaftsprojekte wie diese interreligiöse Woche. Es gibt Restaurants wie das Kanaan am Prenzlauer Berg, wo zwei Freunde, ein Jude, ein Palästinenser, zusammen kochen. Immer geht es darum, in den Zerreißproben das Gemeinsame zu entdecken, festzuhalten, was Menschen verbindet- wie Humus und Mezze und die Blütendüfte im Frühjahr. Damit das gelingt, müssen wir die Grenzen achten, die Narben schützen, die wir letztlich alle aus unserer Geschichte und Religion, aus Krieg und Verfolgung mitbringen. Wir müssen wissen, was den anderen verletzt, wenn wir uns aufeinander zu bewegen wollen.
Darum erzählt Petrus im Haus des Cornelius, dass er eigentlich gar nicht hätte kommen können. Und es dennoch tat, weil ihm das Miteinander wichtiger war. Und darum erzählt der Künstler Erzan Mondtag im deutschen Pavillon der Biennale die Geschichte seiner türkischen Einwandererfamilie – damit sie Teil einer gemeinsamen deutschen Erinnerungskultur wird. Darum lassen sich jüdische Menschen in Schulen einladen, um über ihre Geschichte und deren Traumata, aber auch über Feste und Feiern zu erzählen. Gerade letzte Woche konnte man an der Sedertafel alles entdecken- wo jedes einzelne Gericht eine Geschichte erzählt und jeder seine Rolle hat, da wird Identität geprägt. Was für ein Glück, dort eingeladen zu sein. Wie schön, wenn wir einander Türen öffnen.
„Fremde überall“ ist das Motto der Biennale Arte 2024 in Venedig. Der Kurator Adriano Pedrosa, fokussiert sich nach eigener Aussage auf „Künstler:innen, die selbst Ausländer:innen, Immigrant:innen, Ausgewanderte, Emigrierte, Exilierte und Geflüchtete sind – insbesondere auf die die zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden gewandert“ sind. Die Ausstellung zeigt aber auch Werke von anderen, die als fremd erlebt werden: Queere Künstler, Außenseiter, Autodidakten, Indigene- Menschen, die als Ausländer im eigenen Land erlebt werden. Das erinnert mich an ein altes Motto von Anfang der 1990er Jahre, als die Wohnungen von Asylsuchenden in Rostock-Lichtenhagen in Brand gesetzt wurden.“ Jeder ist Ausländer- fast überall“
Das ist keine neue Erfahrung in der Geschichte. Auch das römische Reich beherbergte viele Kulturen und Religionen– wie die Geschichte von Petrus und Cornelius erzählt. Immer wieder war Gewalt nötig, um den so genannten römischen Frieden zu erhalten. Die beiden aber, von denen die Apostelgeschichte erzählt, glaubten an einen Gott, der Menschen zusammenführen will- im Traum, im Gebet und auf staubigen Straßen. Sie glaubten, dass Gott Menschen in jedem Volk sieht. „Wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm recht“. Sie glaubten an das gleiche Recht und die gleichen Pflichten aller Menschen. Das war ihre Motivation, zu Freunden zu werden. Und es kann auch unsere sein. Dann können sich die Wurzelwerke der Freundschaft ausweiten. Fast überall. Wie beim Ginko-Baum.
Cornelia Coenen-Marx