Wir sehen uns an der Tanke – Treffpunkte, Netzwerke und Sorgegemeinschaften auf dem Land

Alle Dörfer bleiben

Ein Video auf Facebook hat mich nochmal hingebracht, in meine erste Gemeinde. Nach Immerath, in das alte Krankenhaus, wo ich als Pfarrerin die Kranken aus Keyenberg, Unterwestrich oder Oberwestrich besuchte. Was da im Staub verschwand, war der Immerather Dom. Die Garzweiler-Dörfer am Rand des Braunkohletagebaus sind inzwischen umgesiedelt, vorübergehend leben Geflüchtete dort. Die Initiative „Alle Dörfer bleiben“ kam zu spät für die Dorfbewohner. Die wissen längst: Heimat ist mehr als eine Sammlung von Eigenheimen – und seien sie noch so schön. Heimat, das sind Schule, Kneipe und Arztpraxis, engagierte Geschäftsleute, ein reges Vereinsleben. Das sind Traditionen, Überzeugungen, Menschen, die den Geist eines Ortes über Jahrzehnte, ja über Jahrhunderte geprägt haben. Je mobiler die Gesellschaft, je mehr Optionen und Lebensstile, desto grösser wird die Sehnsucht nach diesem Ort, in dem wir uns selbstverständlich bewegen , weil wir dazugehören.

Es braucht keine Braunkohlebagger, um Menschen den Heimatboden unter den Füßen weg zu ziehen; Globalisierung und sozialer Wandel genügen. Dass Familien, möglicherweise sogar mit mehreren Generationen, an einem Ort wohnen, ist schon lange keine Normalität mehr.

Normalfall ist die sogenannte multilokale Mehrgenerationenfamilie. Junge Leute ziehen in die prosperierenden Regionen; zurück bleiben die Älteren, weniger Beweglichen- häufig mit Wohneigentum, das sich in schrumpfenden Regionen kaum verkaufen lässt. Viele  Paare kennen Lebensphasen, in denen sie aus beruflichen Gründen über lange Zeit getrennt wohnen. Wo bereits Kinder in der Familie leben, sind es dann häufig die Mütter, die bleiben. Der Soziologe Eric Klinenberg spricht von der Versingelung der westlichen Gesellschaften; Andreas Reckwitz spricht von der Gesellschaft der Singularitäten.  Kleinenberg kommt zu dem Schluss, dass Alleinleben der beste Weg ist, die Werte einer individualistischen Gesellschaft zu leben: Freiheit, Autonomie, Mobilität.

Aber das hat eben auch eine Schattenseite: Wer häufig umzieht oder auch pendelt, verliert die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft. Und das ist nicht nur eine emotionale Herausforderung. Familien mit kleinen Kindern, auch alte oder kranke Menschen – deren Anteil an der Gesamtbevölkerung mit dem demografischen Wandel wächst – geraten bei der Bewältigung des Alltags besonders unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen zurückgreifen können. Aber nur noch ein Viertel der erwachsenen Kinder lebt am Wohnort der Eltern. Stattdessen sind Städter in den Speckgürten gezogen. Und nicht nur Juli Zeh schreibt darüber, wie schwer es ist, sich in die Dorfkultur integrieren.

Eine Untersuchung des Berliner Instituts für Bevölkerungsentwicklung im Emsland zeigt: Wer auf dem Dorf wohnt, ist durchschnittlich Mitglied in 3 -4 Vereinen. Vom Sportverein über das Rote Kreuz und die Caritas bis zum Heimatverein prägen Vereine die Form des ehrenamtlichen Engagements und der Dorfgemeinschaft. Bei einem Ehrenamtsworkshop dort, der vor allem von Vereinsvorständen besucht wurde, hörte ich Klagen : Vorstandsmitglieder für die Vereine seien kaum noch zu finden. Viele Dorfbewohner seien in der Woche kaum zu sehen- sie gäben morgens ihre Kinder in der Tagesstätte ab, führen in die Stadt zur Arbeit und hätten am Abend keine Zeit mehr für die Dorfgemeinschaft. Aber sie würden sehr wohl erwarten, dass die Vereine alles zur Verfügung stellten: den Bolzplatz, den Rasen, die Kinder- und Jugendgruppen. Wie ein Sportstudio  zum Vorzugspreis. Damit die beiden Autos vor der Tür auch bezahlt werden könnten.

Auch auf dem Dorf klaffen die Welten auseinander. Es sind ja nicht nur die Städter, die zugezogen sind. Schon seit Jahrzehnten sind Migranten da – aus Italien, Spanien, der Türkei zuerst, dann mit den Flüchtlingsgruppen aus Syrien und Afghanistan. In der Dorfkneipe hat die Speisekarte gewechselt – wenn sie nicht längst geschlossen ist. Nur im Sportverein und an der Tanke gelingt Verständigung.  

Der Schriftsteller Sasa Stanisic, der aus den Jugoslawien-Kriegen in einen Vorort von Heidelberg geflohen war, erzählt von Emmertsgrund. Dort reichen einander die Hand: Bosnier und Türken, Griechen und Italiener, Russlanddeutsche, Polendeutsche, Deutschlands Deutsche. Sie waren Nachbarn, Schulfreunde, Kollegen. Die Supermarktschlange sprach sieben Sprachen. Die soziale Einrichtung, die sich für unsere Integration am stärksten einsetzte, war eine abgerockte ARAL-Tankstelle. Sie war Jugendzentrum, Getränkelieferant, Tanzfläche, Toilette. Kulturen vereint in Neonlicht und Benzingeruch. Auf dem Parkplatz lernten wir voneinander falsches Deutsch und wie man Autoradios wieder einbaut. Die ARAL-Tanke war Heidelbergs innere Schweiz- neutraler Grund , auf dem die Herkunft selten einen Konflikt wert war.“ So kann die Tanke zur Heimat werden.

„Die Sehnsucht nach Heimat dürfen wir nicht denen überlassen, die Heimat konstruieren als ein WIR gegen DIE. Heimat ist der Ort, den wir als Gesellschaft erst erschaffen, der Ort, an dem das Wir Bedeutung bekommt. Ein Ort, der uns verbindet, über die Mauern unserer Lebenswelten hinweg – den braucht unsere Demokratie“, sagte F.W. Steinmeier zum Tag der deutschen Einheit. am 3.10.17.

Wo das Herz wohnt

Ernst Lange, der Gründer der Berliner „Ladenkirche“, sprach von der Ortsgemeinde als dem „Ensemble der Opfer“. Wir würden diesen Ausdruck wohl nicht mehr verwenden. Aber wer weniger mobil ist und über geringe Ressourcen verfügt, wer sich keine großen Sprünge leisten kann, ist besonders auf eine gute Nachbarschaft und auf Angebote vor Ort angewiesen- genauso wie auf verlässlichen Nahverkehr. Da geht es  Familien mit kleinen Kindern nicht anders als Migranten und Geflüchteten oder Älteren . Heute leben mehr an die 45  Prozent der 70- bis 85-jährigen allein – meist können sie in Alltagsproblemen nicht auf Familie und Freunde zurückgreifen. Am anderen Ende der Generationenkette geht es den Eltern kleiner Kinder ganz ähnlich. Sie brauchen Räume, wo unterschiedliche Generationen einander begegnen und unterstützen können.

Chart 8

Nachbarschaft ist zu einem großen Thema geworden; es gibt Nachbarschaftspreise, Nachbarschaftsplattformen; der Tag des Nachbarn wird gefeiert. Wo Menschen einkaufen, ihre Kinder zur Tageseinrichtung bringen, wo Schulen, Sportvereine und Gemeinden ganz unterschiedliche Gruppen zusammenführen, begegnen sich Bürgerinnen und Bürger noch immer ganz selbstverständlich. In der Gemeinde vor Ort manifestieren sich die aktuellen Probleme, aber genau dort finden sich auch Antworten auf die drängenden Bedürfnisse der Zeit. Das gelingt aber nur, wenn Städte, Gemeinden  und soziale Träger nicht nur auf den Einzelfall schauen, sondern auf den Lebensraum. Es geht darum, einen Rahmen zu schaffen, in dem Begegnungen mit anderen möglich sind.

Die enormen Transferleistungen in strukturschwachen Regionen, die Folgen des demographischen Wandels, wachsende Pflegebedarfe und  die Notwendigkeit, die Tageseinrichtungen für Kinder auszubauen und Ganztagsschulen zu etablieren,  haben allerdings vielen Kommunen die Möglichkeit genommen, eigene Prioritäten zu setzen. Und das Gefälle wächst- zwischen boomenden und schrumpfenden Regionen wie zwischen Armutsquartieren und hippen Stadtteilen.  Die Orientierung an wettbewerblichen Strukturen der Wirtschaft hat das Verhältnis zwischen Bürgern und Kommunen nicht unberührt gelassen. Die soziale Arbeit verliert an Stabilität und Stetigkeit, weil sie durch regelmäßige Projektvergabe an den günstigsten Anbieter immer nur auf Zeit vergeben ist. In der Dienstleistungsgesellschaft werden alle zu Kunden. Aber die großen Demonstrationen der letzten Jahre  zeigen eine Gegenbewegung: Bürgerinnen und Bürger wollen als politische Subjekte wahrgenommen werden. Es geht um Zugehörigkeit, um Teilhabe und neue Erfahrungen, um ein Stück Leben außerhalb der Familie in Räumen, die unterschiedliche soziale Kreise zusammenbringen.

Die Pandemie hat einen Eindruck davon vermittelt, was es bedeutet, wenn  Räume der Begegnung fehlen. „Wir sollten alles dafür tun, soziale Marktplätze zu erhalten oder neu aufzubauen“, meint Jutta Allmendinger. Gerade Menschen, die kaum privaten Lebensraum haben, brauchen öffentliche Orte in der Stadt, wenn wir Kommunen nicht nur als Wirtschaftsstandorte, sondern als Ort des guten Lebens begreifen wollen, dann sind sie auf soziale Investitionen angewiesen. Wo der Busverkehr eingestellt ist, wo Gemeinde und Kindergarten nicht mehr vor Ort sind, fehlt es an tragfähigen Säulen für das zivilgesellschaftliche Engagement.

Die Internetplattform „Nebenan.de“ hatte 2018 bereits 850.000 Nutzer – während der Pandemie wuchs sie auf 1, 5 Millionen und ist nun in allen Bundesländern präsent. Um Bürgerbeteiligung zu organisieren, genügt es aber nicht, eine Plattform zu installieren – weder digital noch analog. Untersuchungen von Martina Wegner aus Freiburg zeigen, dass sich auf diese Weise immer nur die gleichen beteiligen: die hochengagierte Mittelschicht mit ihren eigenen Interessen. Wenn wir die beteiligen wollen, die ihre Rechte nicht selbstverständlich wahrnehmen, sind intermediäre Organisationen nötig: Schulen, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Parteien. Genau die sind aber in den letzten Jahren auf dem Rückzug- von den Bezirksverwaltungen bis zu den Pfarreien.

In einem kleinen Bildband über die Gemeinde Wickrath, zu der auch die abgebaggerten Dörfer gehören, von denen anfangs die Rede war, wird auch das Dorf Wanlo beschrieben. Dort  habe ich ein Foto des kulturellen Zentrums entdeckt , wie die Bildunterschrift sagt.  Die Kirche St: Martin, das Pfarrhaus und der katholische Kindergarten an der Dekan Janssen-Straße sind zu sehen. Tatsächlich sind die Kirchen bis heute der Dorfmittelpunkt, markante Orientierungspunkte, auf dem Land oft kilometerweit sichtbar. Die Kirche im Dorf ist sprichwörtlich- und noch immer ist es ein Symbol, wenn eine Kirche wie in Immerath dem Erdboden gleich gemacht wird. Gerade in Zeiten der Verunsicherung ruhen Hoffnungen und Erwartungen auf den Kirchen. Das sehen wir an den Kirchenkuratorinnen und Orgelpaten, die dafür sorgen, dass Dorfkirchen in Brandenburg, in Mitteldeutschland oder auch am Rand des Ruhrgebiets saniert werden – die Veranstaltungen planen und Kirchen offenhalten, auch wenn sie selbst gar nicht Mitglied sind oder längst anderswo wohnen. Wenn es gut geht, werden aus solchen Kirchen Nachbarschaftszentren, Begegnungsorte, die Heimat geben. Für die, die dort wohnen und für die, die neu dazu kommen.

In Wickrath, dem Zentrum der ehemals 11 Dörfer, wurde Mitte der 80-er Jahre der Gemeindeladen gegründet- inspiriert von Ernst Langes Ladenkirche. Das Geheimnis seines Erfolgs: Die Besucher kommen aus allen Vierteln, aus allen Schichten- es sind Einheimische wie neu Zugezogene. Cafe und Bibliothek, Kleiderkammer, Sozialsprechstunde und Volkshochschulkurse sprechen ganz unterschiedliche Interessen an. Und auch die breite Vernetzung mit Einzelhandel, Sportvereinen, dem Bürgerbüro hält den Laden offen- genauso wie die vielen Engagierten, die gern einbringen, was sie können und weitergeben wollen. Als die Leiterin zum 25-jährigen Bestehen aus den Annalen des Ladens erzählte, wurde ein weiteres Geheimnis klar: der Laden war immer nah dran an den jeweiligen Bedarfen und Bedürfnissen – von den Mutter-Kind-Gruppen der 80er Jahre über die Schulkindermittagsbetreuung in den 90er Jahren bis zum Pflegeverein und schließlich zum Treffpunkt von Geflüchteten und Engagierten. Sie alle treffen sich zum Cafe, tauschen sich aus und entwickeln neue Ideen und Projekte.

Das Land Schleswig-Holstein hat solche Erfahrungen mit dem Konzept der Markttreffs aufgenommen. Es fußt auf den vielen genossenschaftlichen Dorfläden, die in den letzten 20 Jahren entstanden. Nun gibt es eine Chipkarte, die den Mitgliedern rund um die Uhr Zutritt verschafft – und viele Leitungen, die im Laden einen Treffpunkt, ein Bistro eröffnet haben. Ab manchen Orten findet sich gleich neben eine Arztfiliale oder auch ein Fußpflegedienst.  Dorfladen plus Dienstleistung plus offener Treff, das ist das äußerst erfolgreiche Prinzip. Anderswo sind  ländliche Co-Working-Spaces entstanden, immer häufiger mit Kinderbetreuung, die die notwendige Vereinbarkeit ermöglichen und auch entfernt von Büro in der Stadt ein Miteinander gestalten, das im Home- office fehlt.  Solche Projekte leben von Verbundenheit in einer verwundbaren Gesellschaft – und schaffen gerade so Innovation.

So entstehen neue Treffpunkte, neue Marktplätze vor Ort. Aber auch die traditionellen Marktplätze und die Kirchplätze werden neu entdeckt: als offene Räume der Begegnung mit einem Flohmarkt, einer Telefonzelle zum Buchtausch, einem Café-Kiosk. Auch die Kirchenbank, die Ehrenamtliche auf den Marktplatz stellen, ist so ein Platz der Begegnung, ein Anker der Erinnerung an das Miteinander,  das über die Familie hinausgeht. Und in einem Dorf in der Eifel hat eine Künstlerin die Bänk for better Anderständing gebaut – eine Bank, die durch das Dorf wandert und zum Gespräch einlädt.

Sorgende Gemeinschaften

„Ich habe in der Corona-Zeit das Alleinsein als besondere Last empfunden, viel niederdrückender als vorher. Ich versuche nun schon fast zwei Jahre, damit zu leben, und hätte mich über Interesse aus der Gemeinde gefreut“, schrieb eine ältere Freundin. „Die ‚Kinderfamilien‘ leben verstreut in Deutschland. Mit ‚Facetime‘ halten wir den sicht- und hörbaren Kontakt, aber es bleibt Ersatz. Um Gemeinschaft zu erfahren, muss ich selbst aktiv sein: Einladen auf eine Tasse Kaffee auf dem Balkon. Telefonieren, mailen, Nachbarschaft pflegen.“ Seit sie Witwe ist, ist sie aktiv bei „Omas gegen rechts“, schickt regelmäßig Mails, nimmt an Webkonferenzen teil.

In einer Befragung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zeigte sich:  83 Prozent von rund 1000 Befragten können sich vorstellen, einen Service-Roboter zu nutzen, wenn sie dadurch im Alter länger zu Hause leben könnten. Smart Homes können dabei helfen. Eine Elektronikfirma wirbt mit dem Slogan „ Das Zuhause, das sich kümmert.“ Das trifft eine Sehnsucht. In der Quartiers- und Nachbarschaftsarbeit hat der „Kümmerer“ Konjunktur. Denn letztlich besteht das Zuhause eben nicht nur aus  vier Wänden; wichtig sind auch die Menschen, die ich kenne, die mich kennen – Menschen, die nach mir sehen, wenn ich frisch aus dem Krankenhaus entlassen bin. Die schauen, ob der Briefkasten geleert wird. Und fragen, ob sie etwas vom Discounter mitbringen können. „Ich will alt werden und sterben, wo ich dazu gehöre“, heißt Klaus Dörners bekannte Kritik an der Heimunterbringung. Dabei ist klar: Es geht um mehr als die eigenen vier Wände.

In schrumpfenden Regionen, wo die soziale Infrastruktur schwindet und kaum noch Hausärzte zu finden sind, werden alte Versorgungsmodelle neu erprobt: technisch aufgerüstete  „Gemeindeschwestern“,  elektronisch verbunden mit der Arztpraxis, ermöglichen eine regelmäßige Begleitung der Patienten. „ Gemeindeschwestern“: der Begriff weckt Erinnerungen an die Zeit der Diakonissen. Noch immer sehnen sich viele zurück nach diesen Frauen, die Pflegende und Sozialarbeiterinnen, Netzwerkerinnen und Seelsorgerinnen in einer Person waren. Sie waren Quartiersmanagerinnen, lange bevor der Name erfunden wurde – und zugleich das lebendige Zeichen einer diakonischen Kirche.

Chart 14

Corona lege  offen, woran das Gemeinwesen schon länger erkrankt sei, meint Diana Kinnert.[1] Sie hat eines der aktuellen Bücher über die neue Einsamkeit geschrieben. Die alten Strukturen der Begegnungen seien verbraucht, menschliche Beziehungen flüchtig geworden. Der Weg hinaus, schreibt die britische Soziologin Noreena Hertz in ihrem Buch „ Das Zeitalter der Einsamkeit“ [2] führe nur über wechselseitige Unterstützung:„ Maßgeblich ist, dass Menschen sich nicht nur umsorgt fühlen und umsorgt sind, sondern dass sie auch Gelegenheit haben, für andere zu sorgen“.

In Witzenhausen bei Kassel wurde  „Dich schickt der Himmel“ umgesetzt-  ein Projekt mit Einkaufshilfen, für das sich die Ev. Gemeinde mit der Stadt, den Pfadfindern und dem Kreisjugendring zusammengeschlossen hat. So kamen innerhalb von drei Tagen über 150 Ehrenamtliche und 230 Hilfesuchende zusammen. Solche „Sorgenetze“ wurden auch an vielen anderen Orten aufgebaut. Gemeinde, Ortsvereine und Kommune bilden den räumlichen Zusammenhang, in dem sich soziales Miteinander entfalten kann. Es geht um wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung. Dabei bezieht sich die „Sorge“ auf das „ Dazwischen“ in der Beziehung, das gemeinschaftlichen Gewebe zwischen Menschen“, wie Hanna Arendt sagt.  Das Interesse aneinander, das in der Sorge spürbar wird, gilt dem ganzen Menschen- nicht nur dem Austausch von Waren und Leistungen. Aus diesem wechselseitigen Interesse, dem gemeinsamen Lernen und Wachsen, der Teilhabe am Schicksal aller, entsteht Gemeinschaft.

Dabei geht es keinesfalls um selbstvergessenen Altruismus. Wer sich engagiert, gewinnt zugleich neue Beziehungen und eigene Netzwerke, Lebensvertiefung und soziale Kompetenzen. Vor allem die jungen Alten tragen dazu bei, dass die Nachbarschaften lebendig und lebenswert bleiben. Oft bilden sie den Kern der „Sorgenden Gemeinschaften“ – sie können Zeit, aber auch Lebenserfahrung und vielfältige Kompetenzen zur Verfügung stellen Als Ausbildungsmentoren, Lesepaten, Demenzbegleiter und Stadtteilmütter, an den Tafeln und in der Telefonseelsorge setzen sie sich ehrenamtlich für das Gemeinwesen ein- nicht zuletzt, weil sie mit dem Alter das Bewusstsein der eigenen Angewiesenheit und Verletzlichkeit wächst. Es ist einfach notwendig, als Bürger da zu sein“, sagt Annelie Keil, die sich mit Henning Scherf zusammen seit Jahren für neue Wohnprojekte und Nachbarschaftsarbeit Älterer engagiert. „Zivilgesellschaftliches Engagement ist kein Zuckerbrot, kein Nachtisch zu den Hauptmahlzeiten des Lebens nach dem Motto: Jetzt habe ich noch ein bisschen Zeit. Nein, die Notwendigkeit wird leibhaftig erlebt. Der Weg muss vom Einzelnen in die Gemeinschaft gehen. Und umgekehrt tue ich ja alles, was ich noch für die Gemeinschaft tue, im Wesentlichen für mich.[3]

„Wenn wir nicht allein bleiben und nicht nur privatisieren wollen“, schreibt Lisa Frohn, in ihrem Twitter-Buch „Ran ans Alter“, dann brauchen wir Räume, wo wir hingehen können. Um andere zu treffen. Um uns auszutauschen. Um gemeinsam etwas zu tun. Um uns als gesellschaftliche Wesen zu erleben.“ In vielen Kirchengemeinden treffen sich Ältere einmal die Woche; da wird gemeinsam eingekauft, reihum gekocht, Rezepte werden ausgetauscht und Geschichten erzählt. Und wenn jemand fehlt, fragt eine andere nach. Auch in meiner Nachbargemeinde treffen sich alleinstehende Rentnerinnen zweimal die Woche am gemeinsamen Tisch. Der Austausch, der die Einsamkeit durchbricht, hält gesund; das hat kürzlich das Einsamkeitsministerium in Großbritannien nachgewiesen. Und gut, wenn die Kirchengemeinde Räume zur Verfügung stellt. Denn bei den über 70-jährigen ist der Anteil der Frauen, die einen Führerschein besitzen, noch immer nicht so hoch wie in jüngeren Altersgruppen. Sie sind schnell in ihrem Bewegungsradius eingeschränkt, wenn der Auto fahrende Partner pflegebedürftig wird oder stirbt. So gewinnt der Nahbereich zunehmende Bedeutung.

In vielen Gemeinden gibt es  Erzählcafés und Biografiewerkstätten. Und in Gültlingen macht man mobil: Stadtspaziergänge mit Rollstuhl und Rollator beim Wägelestreff. In Kornwestheim ist sogar ein Begegnungscafé auf dem Friedhof entstanden- der Gemeindebus fährt zweimal die Woche hin. 

„Es kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass die Selbstorganisation von Bürgern und Bürgerinnen, etwa in der organisierten Nachbarschaftshilfe, aber auch in Seniorengenossenschaften und in Bürgervereinen ohne Hilfe „von außen“ auskommt. Vielmehr benötigen solche Formen der Selbstorganisation in der Regel Anstöße, Förderung und Unterstützung auch durch die Kommune“, heißt es im 7.Altenbericht. Als „Sparmodell“ ist die aktive Bürgergesellschaft nicht geeignet Sabine Pleschberger von der Universität Graz untersucht informelle außerfamiliäre Hilfen in der Pflege. Dabei zeigt sich: Der soziale Nahraum, der sich durch individuelle Hilfen, durch  Nähe, Freiwilligkeit, Wechselseitigkeit auszeichnet, braucht die Ergänzung durch bedarfsorientierte, qualifizierte und organisierte Hilfesysteme. Entscheidend wird sein, beides in der je eigenen Dignität und Logik zu begreifen. Die Förderung „Sorgender Gemeinschaften“ muss eingebettet sein in Sorgestrukturen.

Was das bedeutet, ist mir an einem ambulanten Pflegedienst in Thüringen deutlich geworden. Dort wurden  Alltagshelferinnen eingestellt, die sich um Einkäufe, Küche oder andere kleine Dienste kümmern sollten. Dabei zeigte sich: Frauen aus der unmittelbaren Nachbarschaft wurden in der Regel nicht akzeptiert- man will sich nicht gegenseitig in die Töpfe schauen. Ein altes dörfliches Gesetz. Deshalb war es wichtig, dass die Leitung die Einsätze so moderierte, dass Menschen aus anderen Straßen und Vierteln einsetzt wurden.

We serve the local community

„We serve the local community“ stand auf einem Plakat an einer Kirche in Wales .Dort waren die Kirchen über lange Zeit während der gesamten Industrialisierung Versammlungsorte und Chorplätze für die walisische Gemeinschaft gewesen, die sich im Vereinigten Königreich nicht wirklich repräsentiert fühlte. Und in diesem Geist arbeitet sie weiter: Menschen Raum und eine Stimme geben. Mit seinem Konzept vom dritten Sozialraum hat der Gütersloher Psychiater Klaus Dörner seit vielen Jahren für eine neue Wertschätzung der Kirchengemeinden und für die Wiedervereinigung von diakonischer Professionalität und kirchengemeindlichem Bürgerengagement geworben. Kirchengemeinden, das ist die Hoffnung, könnten zum Entstehen von Caring Communities beitragen.

„Als Kirchengemeinde sind wir zugleich Teil der Gemeinschaft vor Ort, sind in Vereinen, auf dem Markt, in Geschäften unterwegs, stolpern über dieselben Schwellen, beobachten wunderlich gewordene Nachbarn“, sagt Annegret Zander.

Manchmal vergessen wir, wie viel Ressourcen die Kirche tatsächlich noch hat. Kirchengemeinden verfügen über Daten und lokales Wissen, über ein Frühwarnsystem für soziale Umbrüche.  Sie können Ideenentwickler, Impulsgeber, Pioniere sein, Initiatoren von oder Beteiligte an den Netzwerkprozessen, verlässliche und kontinuierliche Kooperationspartner. Und sie verfügen über Immobilien, Gebäude und Liegenschaften – ein immenses kulturelles Kapital, das oft nur noch als Belastung empfunden wird. Die entscheidende Frage ist, ob es gelingt, die Kirchen wieder in den Sozialraum zu öffnen, vielleicht zuerst das Denken zu öffnen – und dann die Zentren mit anderen Gruppen, Organisationen und Vereinen gemeinsam zu unterhalten

Es lohnt sich, das eigene Kirchenzentrum einmal aus der Perspektive der Nachbarinnen und Nachbarn zu sehen und dabei ganz unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Eine New Yorker Journalistin hat ein ganzes Jahr lang jede Woche einen Stadtspaziergang mit einer fremden Person gemacht. Sie war unterwegs mit einer älteren Dame mit Rollator, mit einem Architekten und mit einem zweijährigen Kind. Sie hat einen Blinden begleitet und einen Arzt, der ihren Blick für die Entgegenkommenden schärfte. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie sie ihr Quartier neu entdeckt. Inzwischen gibt es Gemeindegruppen, die sich genauso auf den Weg gemacht haben, den Sozialraum zu erkunden- mit Fotos, Filmen und Interviews. Das Amt für Gemeindedienst der Ev.-luth. Kirche in Bayern hat als Unterstützung die „Fragetasche“ entwickelt, die dazu einlädt, den nach den Interessen und der Arbeit anderer zu fragen und den Sozialraum als Gelegenheit für Beziehungen wahr zu nehmen. Das kann ganz klein anfangen- bei einem Spaziergang mit Neuzugezogenen oder mit Älteren. Oder mit einem „Mikroprojekt“: Zwei Fragen auf einem Bierdeckel, der in alle Häuser verteilt wird. „Was halten Sie für die größte Herausforderung im Stadtteil?“ „ Wie kann Kirche dabei helfen, eine gute Lösung zu finden“? Hier und da gibt es inzwischen Stadtpläne, die von solchen Prozessen erzählen: Im Wickrather Gemeindeladen haben Ehrenamtliche an einem Stadtplan für Ältere gearbeitet – auch mit Blick auf Rollatoren und Rollstühle.

Gemeinden schauen wieder auf den Raum – auf die Häuser und Nachbarschaften, die Bauvorhaben und die Verkehrsentwicklung. Wenn die Bürgerinnen und Bürger bei der Planung Ausgangspunkt sind, dann werden Gemeinden sich nicht nur an Finanzstrategien orientieren, sondern an Aufgaben. „ Wir handeln bedarfsorientiert“, sagt Peggy Mihan, die sich in Cottbus für die „Haltestelle“ der Herrnhuter Brüdergemeinde engagiert hat. Ihr gehet es darum, den Blick von unten einzuüben, an der Seite der Nachbarn mit ihren Verletzungen und Lebensbrüchen. Erst einmal nur da sein und versuchen, heraus zu finden, was nötig sein könnte.

„Wenn Kirchengemeinden das WIR auch wirklich als WIR sehen – wenn sie ihr Dorf oder ihren Stadtteil meinen – dann  ist ein erster Schritt getan“  sagt Peter Meißner von der Initiative Gemeinwesendiakonie der Hannoverschen Landeskirche. „Wenn Gemeinden andere Akteure einladen und mit ihnen in den Austausch gehen, wenn sie fragen, was braucht dieser Ort und wie sind unsere Wahrnehmungen, dann kommt etwas in Bewegung. Wenn Kirchengemeinden sich auf die Haltung „Nicht für sondern mit den Menschen“ einlassen, dann zeigen sie, dass sie wirklich an den Lebenslagen vor Ort interessiert sind. So wie in Filsum in Ostfriesland. Da betreibt die Gemeinde seit kurzem eine Fahrradpumpstation mit einem Fahrradflickzeugautomaten. Hintergrund ist die Tatsache, dass es in Filsum überhaupt keine Orte der Begegnung mehr  gibt. Aber Filsum liegt an der Fehnroute, eine große Zahl von Fahrradtouristen fährt durch den Ort. Die Pumpstation, verbunden mit einer Klönsnackbank, ist ein Anlaufpunkt für Einheimische und Touristen, um ins Gespräch zu kommen.

„Niemand kann auf sich allein gestellt das Leben meistern. […] Es braucht eine Gemeinschaft, die uns unterstützt, die uns hilft und in der wir uns gegenseitig helfen, nach vorne zu schauen. Wie wichtig ist es, gemeinsam zu träumen! […] Allein steht man in der Gefahr der Illusion, die einen etwas sehen lässt, was gar nicht da ist; zusammen jedoch entwickelt man Träume.“[4] ,  (Franziskus, Fratelli tutti).

Cornelia Coenen-Marx, Frankfurt, 22.9.22


[1] Kinnert 2021, S.50ff.

[2] Hertz 2021, S.41.

[3] Scherf, Keil: Das letzte Tabu

[4] Papst Franziskus 2020b.