Streit ums Heilige Land

Predigt zu  Genesis 13, 1-12 am 29.10.23

„Hamas ist nicht das Problem, das Problem heißt Israel“kommentiert  ein palästinensischer Freund meinen Solidaritätsaufruf für Israel. „Nie wieder ist jetzt“, hatte ich geschrieben. „Boykottiert den Terrorstaat , boykottiert Israel“, schreibt er. Ich bin entsetzt und überlege einen Moment, ob ich den Kommentar lieber lösche. Aber dann entscheide ich mich, das Gespräch aufzunehmen. Es geht um den Vorwurf, dass Israel immer mehr Land genommen, erobert oder besetzt habe -und dass jetzt kaum noch Raum für Palästina bleibe. Und natürlich geht es um die Frage, wer Schuld hat am Krieg, wer Opfer und wer Täter ist . Wir schauen uns die Konflikt-Geschichte an – wo hat sie ihren Anfang genommen? Wie kann sie gut enden? Und wer tritt für Frieden ein? Von Anfang an werden wir mit hineingezogen in den Streit, in den Krieg, der längst  in der Luft liegt.  Man  kann sich ja wirklich fragen, ob genug Land da ist für beide Völker. Es ist eng  im Jordantal.

Der Streit ums Heilige Land hat  Geschichte und er kennt viele Geschichten. Dazu gehört auch die Erzählung vom Stammvater Abraham und Lot, seinem Neffen. Die beiden stehen auf der  Hochebene, zwischen Mittelmeer und Jordan; etwa 20 Kilometer nördlich des heutigen Jerusalem – dort sind sie nach langer Wanderung angekommen. Ist das nun das gelobte Land, das ihnen versprochen wurde ? Für kurze Zeit sind sie begeistert über den Ausblick. Aber bald stellt sich heraus: der Boden gibt nicht  viel her. Es ist nicht genug für alle da. So gibt es  Streit zwischen den Hirten aus beiden Sippen. Und jeder sieht sich im Recht. So erzählt die Bibel:

Abram zog von Ägypten in den Negeb hinauf, er und seine Frau mit allem, was ihm gehörte, und mit ihm auch Lot. 2 Abram hatte einen sehr ansehnlichen Besitz an Vieh, Silber und Gold. 3 Er ging von einem Lagerplatz zum anderen weiter, vom Negeb bis nach Bet-El, bis zu der Stätte, an der anfangs sein Zelt gestanden hatte, zwischen Bet-El und Ai, 4 der Stätte, an der er früher den Altar errichtet hatte. Dort rief Abram den Namen des HERRN an. 5 Auch Lot, der mit Abram ging, besaß Schafe und Ziegen, Rinder und Zelte. 6 Das Land reichte nicht hin, dass sich beide nebeneinander darin hätten ansiedeln können; denn ihr Besitz war zu groß und so konnten sie sich nicht miteinander niederlassen. 7 So entstand Streit zwischen den Hirten der Herde Abrams und den Hirten der Herde Lots; auch siedelten damals noch die Kanaaniter und die Perisiter im Land. 8 Da sagte Abram zu Lot: Zwischen mir und dir, zwischen meinen und deinen Hirten soll es keinen Streit geben; wir sind doch Brüder. 9 Liegt nicht das ganze Land vor dir? Trenn dich also von mir! Wenn du nach links willst, gehe ich nach rechts; wenn du nach rechts willst, gehe ich nach links.

Abraham  sieht er nur einen Weg: Sie  müssen sich trennen; das Weidegebiet untereinander aufteilen. Da gibt es den steinigen, trockenen Westen, über den der Wind heiß hinweg weht. Und da ist der Hang zum Jordantal hinab, über mehrere Kilometer zieht er sich hin, mit vielen grünen, saftigen Flächen, die sogar einen erfolgreichen Ackerbau versprechen. Wer bekommt das fruchtbare Land ? Wer muss sich abfinden mit dem weniger attraktiven? Abraham schafft es, den Konflikt zu lösen, noch ehe darüber Krieg ausbricht. Er lässt seinen Neffen wählen und tritt zurück.  

Das erste Buch Mose, aus dem diese Geschichte stammt, nimmt uns mit in die Zeiten von Nomaden auf der Suche nach gutem, fruchtbaren Land. Noch viel früher, bevor Menschen sesshaft wurden, Ackerbau und Viehzucht trieben, war es normal, weiter zu ziehen, wenn das Land keinen Ertrag mehr brachte. Oder wenn Naturkatastrophen die fruchtbaren Ebenen zerstörten: Klimaveränderungen, Überschwemmungen, Hitzeeinbrüche. Die Menschheit hat überlebt, weil sie weiterzog und sich immer wieder an neue Umweltbedingungen angepasst hat. Ob uns das noch einmal gelingt?

In den kommenden Jahrzehnten wird Migration unser Leben grundlegend verändern: Nicht nur im Sudan oder in Indonesien- auch in Australien oder den USA.  Millionen werden Städte wie Miami und New Orleans verlassen und im Norden Zuflucht suchen. Und auch wir, im Norden Europas, spüren schon das, was man neuerdings Migrationsdruck nennt. So werden Mauern und Zäune aufgebaut; dabei ahnen wir: wir müssen als globale Gesellschaft zusammenfinden, wenn wir ein friedliches Überleben wollen. Wenn die einen, die sich Sicherheit leisten können, ihren Reichtum gegen die anderen schützen,  wird die Unsicherheit für alle zunehmen. Denn die Krisen gehen mit Armut und Elend einher – und sie bringen neue Flüchtlinge hervor.

Das sehen wir auch im Norden Afrikas und im  Nahen Osten. Die palästinensischen Flüchtlinge, die heute im Libanon, in Syrien oder anderen Nachbarländern Israels leben,  halten den Konflikt heiß. Und der Flüchtlingsdruck von Gaza auf Ägypten wächst.

Wir können uns nicht ersparen, genau hinzusehen. Die Konflikte anzusehen, die Probleme beim  Namen zu nennen. Ohne Streiten kann nicht Frieden werden. Falsche Harmonie , das Verdrängen der schmerzhaften Wirklichkeit, vertagt die  Probleme nur und lässt sie unter der Hand wachsen. Ich denke an den Überfall Russlands auf die Ukraine. Inzwischen ist den allermeisten klar, dass wir uns kollektiv über Russland getäuscht haben. Dass wir die Situation und das Selbstverständnis der Ukraine nicht wirklich wahrgenommen haben und in alten Vorstellungen stecken geblieben sind. Das war offenbar  auch wirtschaftlich bequemer. Erst nach dem 24.Februar 2022 trat diese Täuschung offen zu Tage. Und plötzlich wurde klar: Wir haben uns  vor allem selbst getäuscht und uns damit in falsche Abhängigkeiten gebracht. Wir haben uns selbst geschadet. Konflikte zu verdrängen, führt also nicht weiter. Wir müssen Lösungen finden.

So wie Abraham und Lot. Erinnern wir uns: da ist Abraham mit seinen Hirten, die nun endlich angekommen sind  in dem Land, das ihnen verheißen ist- jedenfalls denken sie das.  Es hat lange genug gedauert, aber nun wollen sie sich endlich niederlassen, das Land aufbauen, den Wohlstand mehren. Aber da ist auch noch die Gruppe um Lot- sie sind dabei, weil Abraham seinen Neffen mitgenommen hat. “ Ihr könnt nicht so tun, als wärt ihr hier alleine“ sagen die.“ Das Land muss auch uns ernähren, ihr könnt nicht nur an euch selber denken.“ Und was ist mit den anderen Völkern, die schon hier lebten?   Kanaaniter die Perisiter? So stritten  sie darüber, wer den älteren Anspruch auf das Land hatte, wem es verheißen war und wer weichen musste. Nicht anders als heute. 

Aber  Abraham  zieht sich heraus aus der Verstrickung, ringt sich zu einer Entscheidung durch. Er  ist bereit, die Trennung zu vollziehen, ja sogar von seinen Wünschen und Hoffnungen  zurückzutreten,  um Frieden wieder herzustellen So bietet er Lot an, auszuwählen, welches Stück Land der möchte. Das fruchtbare Jordantal oder die dürren Höhen? Welche Freiheit! Und Lot  entscheidet sich natürlich für das offensichtlich attraktivere Jordanteil.

 10 Lot erhob seine Augen und sah, dass die ganze Jordangegend überall bewässert war. Bevor der HERR Sodom und Gomorra vernichtete, war sie bis Zoar hin wie der Garten des HERRN, wie das Land Ägypten. 11 Da wählte sich Lot die ganze Jordangegend aus. Lot brach nach Osten auf und sie trennten sich voneinander. 12 Abram ließ sich im Land Kanaan nieder, während Lot sich in den Städten jener Gegend niederließ und seine Zelte bis Sodom hin aufschlug.

So ist die Konfliktgeschichte zunächst  ausgestanden- sie wird später weitergehen, wenn Lot in Sodom lebt. Jetzt  lässt Abraham ihm die freie Wahl- und er wird ihm verbunden bleiben,  als Lot schon  in Sodom lebt, wo neue Konflikte ausbrechen.  Das erhoffte Glück findet Lot dort nicht, aber Abraham tritt für ihn ein; er betet für ihn. Jetzt aber   er zieht  allein weiter. Im Abschied findet Abraham eine neue Freiheit. Noch einmal bricht er allein ins Offene auf – so wie damals bei seiner Berufung. Verlässt sein Vaterland, trennt sich von seiner Familie und ja , er findet sich noch einmal neu. Noch einmal wird er  sich seiner Berufung , seiner Identität bewusst. Ich denke dabei unwillkürlich an die Ukraine, die  sich nach langer Sowjetherrschaft erst unter der Besatzung ihrer eigenen Identität bewusst wurde- in Sprache, Kultur und Politik.

 In diesem Sinne sind Abschiede  lebensnotwendig , sie gehören zu unserem  Leben. Nur wer den Mut hat, etwas aufzugeben, kann die Erfahrung machen, dass er Neues gewinnt. Aber die Klarheit, mit der Abraham das sieht, der Großmut, mit der er Lot den Vortritt lässt, ist alles andere als selbstverständlich. Gerade jetzt, angesichts der großen Herausforderungen, haben viele von uns Angst, Wohlstand und Sicherheit zu verlieren- und schauen deshalb nicht so genau hin. Wir fürchten uns vor den Migranten, schließen die Grenzen, halten fest, was wir haben.

Die Geschichte von Abraham und Lot will uns ermutigen, loszulassen. Die beiden können nicht mehr zusammen weiterziehen, sie müssen sich trennen, wenn alle gut leben sollen. Und vielleicht taugt die alte Weisheit doch auch für den aktuellen politischen Streit. Das Wunder:  trotz allem bleiben die beiden  einander verbunden- als Onkel und Neffe. Als Familien. Tatsächlich erzählt die Bibel die Geschichte der Nachbarvölker im Nahen Osten als Familiengeschichte.  Auch wenn die anderen anders glauben, anders leben, anders aussehen – sie sind Geschwister. Diese Verbundenheit zu leben, ist eine große Kunst. Ob das im Nahen Osten noch einmal gelingt – oder zwischen Russland und der Ukraine, die sich doch immer als Brudervölker verstanden haben?  Und ob es hier bei uns in Deutschland gelingt, als Bürgerinnen und Bürger in all unserer Verschiedenheit gemeinsam zu leben? Und Frieden zu halten?

Frieden wird es nicht geben, wenn wir nicht aufeinander zugehen , einander Anteil geben. Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit. Wer Gerechtigkeit sät, wird Frieden ernten, heißt es beim Propheten Amos. Damit können wir anfangen. Hier bei uns. Einander zuhören, auch wenn wir das Gesagte nicht gern hören. Uns Zeit nehmen, gemeinsam auf den Konflikt zu sehen. Und wahrnehmen, wo sich Lücken im Verstehen auftun und Wege, die jeder gehen kann und wo im Streit Mauern fallen.

Cornelia Coenen-Marx