Kraftorte: Interview mit Dr. Steffen Merle

Pfarrer Dr. Steffen Merle ist seit 2016 Leiter des Evangelischen Forums in Hanau

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DIAKONISCHE PILGERREISEN: DER BLOG

Wir entdecken Diakonische Pilgerorte – 
diesmal auf der Spur von: Dr. Steffen Merle

Pfarrer Dr. Steffen Merle ist seit 2016 Leiter des Evangelischen Forums in Hanau. Zudem ist er Lehrbeauftragter für Wirtschafts- und Unternehmensethik und Direktor des Instituts für Wirtschafts- und Sozialethik in Marburg (IWS). Seine inhaltlichen bzw. theoretischen Arbeitsschwerpunkte liegen auf der Semiotik und Kirchentheorie.

Sozialforum:
In Schöneck ist in den vergangenen Jahren ein Netzwerk entstanden, das alle Akteure auf dem Sozialmarkt miteinander ins Gespräch bringt. Dieses „Sozialforum“ denkt vom Menschen her und versucht, die funktionale Differenzierung und „Versäulung“ von Angeboten und Dienstleistungen zu überwinden. Das Sozialforum steht für die Übergänge und Schnittmengen von Aufgabenbereichen. Für das Miteinander derer, die sich ehren-, neben- und hauptamtlich engagieren. Damit das Ganze im Blick bleibt und damit Hilfe da ankommt, wo sie gebraucht wird.

Sie beschäftigen sich beruflich und/oder ehrenamtlich mit Diakonie. Was liegt Ihnen dabei besonders am Herzen?
In der Diakonie arbeitet Kirche „außerhalb“ des eigenen Systems, das heißt unter Markt- und Kommunikationsbedingungen, die sie verwechselbar – und anschlussfähig zugleich – machen. Mir ist es ein Anliegen, Abkopplungs- und Selbstsäkularisierungsprozesse diakonischen Handelns einzufangen und (kommunikationstheoretisch begründet) strategisch umzukehren.

Gibt es eine persönliche Erfahrung, die Ihnen den Kern diakonischer Arbeit existenziell vor Augen geführt hat?
Unsere alte Gemeindeschwester: sorgend, fürsorgend, fürbittend, zugewandt, aufrichtig, verbindlich – und getragen von einer tiefen, beeindruckenden Frömmigkeit. Mit anderen Worten: Diakonie ist für mich da, wo Glaube und Werke zusammengehören und sich aufeinander beziehen – und sich nicht in Folge der Professionalisierung voneinander abkoppeln. Sie ist für mich nicht nur Soziale Arbeit der Kirche und auch nicht „nur“ Nächstenliebe: Für mich ist sie Gottes- und Nächstenliebe.

An welchem Ort (in welcher Einrichtung, in welchem Haus oder Raum) ist Diakonie für Sie in besonderer Weise sichtbar und erfahrbar geworden und was hat Sie dort fasziniert?
Das Sozialforum Schöneck ist für mich ein Ort diakonischen Handelns und Lernens: Ein Netzwerk aller im Gemeinwesen agierenden Akteure. Netzwerke heben statische Institutionslogiken auf – genau das brauchen wir als Kirche, die sich zunehmend im öffentlichen Raum plausibilisieren muss. Solche Netzwerke schaffen vor allem Dynamik, Anknüpfungspunkte, Schnittstellen, Dienstgemeinschaften, neue Angebote – und wenn man genau hinsieht: Netzwerklogik im Sozialraum schafft immer neue Möglichkeiten, sorgende Gemeinde zu sein.

Natürlich geht es nicht nur darum, dass sich die Angebotsseite intern vernetzt und so effektiver und kreativer arbeiten kann. Es geht letztlich darum, dass Hilfe dort ankommt, wo sie gebraucht wird. Auch dafür soll das Sozialforum da sein: schnelle, niederschwellige und übersichtliche Zugänge zu schaffen, damit Menschen füreinander da sein können. Auch das ist „sorgende Gemeinde“.

Über zwanzig Netzwerker aus allen Bereichen sozialen Engagements in Schöneck sind im Sozialforum vertreten: Mit dabei sind unter anderem die Kirchengemeinden, Pflegedienste, die Nachbarschaftshilfe, DRK, AWO, Kindergärten, Schulbetreuungsvereine, Jugendarbeit, Essensbank, AK-Asyl, Bürgerbus, Berufsbetreuer, Martin-Luther-Stiftung – quer durch Themenbereiche wie Pflege, Mobilität, Versorgung, Betreuung usw.

Was macht Ihrer Meinung nach einen – oder diesen – „diakonischen Ort“ zum spirituellen Kraftort (Geschichte, Gestaltung, Personen …)?
Spiritualität ist (im semiotischen Sinn) immer etwas Erstheitliches, ist unmittelbares, affektives Erleben. Ein Kraftort ist dort, wo das möglich und erfahrbar wird – und sei es nur für den flüchtigen Moment, die nicht wiederholbare Geste, das unausgesprochene Wort der Liebe …

Was würden Sie in Ihrem Arbeitsumfeld räumlich ändern, wenn Sie die Freiheit und Mittel dazu hätten, damit die Arbeit, die Ihnen am Herzen liegt, noch besser gelingt?
Die funktionale Differenzierung unserer Gesellschaft schafft Professionalisierung, aber auch Delegation von Verantwortung. Die Logik dabei ist oft die der „Zuständigkeit“ – dabei geht aber der Blick für andere gesellschaftliche Bereiche und für Übergänge verloren. Übergänge und Schnittstellen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen (Netzwerke, s. o.) dagegen sind dynamischer und pragmatischer. Wenn ich mein Arbeitsumfeld ändern könnte, dann wäre das keine räumliche Änderung, sondern eine strukturelle: Sehr viel mehr Agilität und Dynamik auf den Grenzen unterschiedlicher Funktionssysteme. Dann würden wir uns (und dem Heiligen Geist) nicht so viel im Weg rumstehen …

Und sonst? Haben Sie weitere Gedanken, Anmerkungen, Anregungen zur Bedeutung – und vielleicht auch zur Relativierung –diakonischer Orte?
Diakonische Orte sind immer Kraftorte – wenn und indem sie Verweis- und Zeichencharakter haben. Und wenn das, worauf verwiesen wird, erlebbar ist. Die helfende Hand oder die besuchende Pfarrerin am Krankenbett kann ja unterschiedlich wahrgenommen werden: So steht die Hilfe an diesem diakonischen Ort vielleicht (erstheitlich) für ihre Person oder (zweitheitlich) für die durch sie repräsentierte Institution. Aber eigentlich glaubwürdig wird das, was dort wahrgenommen wird, doch erst dadurch, dass es einen Verweiszusammenhang darauf erkennen lässt, was Pfarrerin oder Hilfe motiviert (das meint im semiotischen Sinn: „drittheitlich“). Und erst in dieser drittheitlichen Kontextualisierung wird durch die Gemeindeschwester oder Pfarrerin, aber auch an einem Ort eine spirituelle Dimension greifbar. Das ist für mich die Umkehrung der Selbstsäkularisierung. Denn darin, wie sie über das konkrete Hier und Jetzt hinausweisen, weisen diakonische Orte und diakonisches Handeln auf die treibende Kraft.

Link zu Ihrer Webseite: https://kirchenkreis-hanau.de/kirchengemeinden/kilianstaedten-oberdorfelden-1/test-200-8/sozialforum/ und https://youtu.be/GDuusxcSegc

Vielen Dank!

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