„Wer gehört zur Familie?“

„Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ (Jes. 58,7)

Stadtwald Eilenriede in Hannover. Nicht weit von der Straße steht das „Milchhäuschen“, ein kleines Bistro mit einer großen Terrasse. Dort sitzen sie auch im November noch zusammen: Spaziergängerinnen, Mütter mit Kinderwagen, die Älteren aus dem Viertel. Mit Corona-Abstand natürlich. Die Hecke an der Seite ist jetzt adventlich geschmückt. Das „Milchhäuschen“ ist ein Herzensort. Dazu passt die Tafel, die neuerdings hier hängt: „Wir sind eine Familie, die füreinander da ist.“ Da werden Herzenswünsche wach, Weihnachtswünsche. Bei allen, die noch nicht wissen, wo sie feiern werden. Und mit wem.

Als ich das Schild zum ersten Mal sah, standen mir die Tischgemeinschaften in den jungen christlichen Gemeinden vor Augen. Männer und Frauen aus verschiedenen Kulturen und Generationen. Sie nannten sich Brüder und Schwestern, sprachen von Vätern und Müttern im Glauben. Sie folgten Jesus nach, auf ihn hatten sie sich taufen lassen. Mehr gemeinsam hatten sie nicht. Die Bibel schildert, dass es nicht einfach war, füreinander da zu sein und zu teilen. Zu groß die Unterschiede – zwischen den etablierten Jerusalemer Juden zum Beispiel und den Witwen aus der griechischen Diaspora. Kein Friede-Freude-Eierkuchen also, sondern öfter mal vergeben – und besser nicht vergessen. Denn die Spannungen in den Gemeinden zeigten die Konflikte in der Welt.

Unweit vom Milchhäuschen campierte vor zwei Jahren ein Flüchtling. Er lag da mit einem dicken Schlafsack, neben sich eine Plastiktüte mit warmer Kleidung und eine Thermoskanne mit heißem Kaffee. Gut versorgt von Leuten aus dem Viertel. Irgendwie gehörte er dazu. Bis es Streit gab, der auch die Presse beschäftigte – über Verwahrlosung, Pull-Faktoren und die Pflicht der Stadt, Obdachlosen eine ordentliche Unterkunft zu besorgen. Immerhin: die „Familie“ dort im Quartier konnte nicht mit ansehen, wie einer Hunger hatte und fror.

Selten trifft beides so aufeinander: unsere Sehnsucht nach einer heilen Welt und die Erfahrung von Elend und Abstürzen. Meist ist es leichter, die Augen zu schließen, wenn wir im kleinen Kreis feiern, während andere allein bleiben. Aber gerade jetzt, während wir beklagen, dass Weihnachten nicht so heimelig ist, wie es war, werden auf Lesbos die neuen Flüchtlingslager befestigt. „Entzieh Dich nicht Deinem Fleisch und Blut“, sagt der Prophet Jesaja der Gemeinschaft in Jerusalem. Und meint die Obdachlosen, die Hungernden, die Armen. Schon da ist klar: „Familie“ ist mehr als Verwandtschaft; als „Schwestern und Brüder“ überwinden wir Spaltungen, teilen unsere Sorgen.

Der Monatsspruch Dezember, der daran erinnert, enthält eine große Verheißung: „Dann wird Dein Licht in der Finsternis aufgehen.“ (Jes. 58,10) Auch ohne Betriebs- und Freundesfeiern wird es Weihnachten, wenn wir über den Freundeskreis hinausschauen – auf die, die noch gar nicht wissen, wo sie sein werden. Am Heiligen Abend.