Wild und zerbrechlich – Altersbilder in der Corona-Krise

Carmen Rohrbach ist Reiseschriftstellerin und oft monatelang allein unterwegs. Die promovierte Biologin möchte sich nicht zurücklehnen, auch wenn sie inzwischen 71 ist. Sie liebt die Freiheit, ihren Traum von Wildnis und Einsamkeit, über den sie unter anderem in dem Buch „Mein Blockhaus in Kanada“ geschrieben hat. Übernachtungen im Zelt, große Strecken zu Fuß oder auf dem Dromedar – solche Härten machen ihr nichts aus.

Mir ist das sehr sympathisch. In meinem Buch „Noch einmal ist alles offen“ bin ich den Träumen nachgegangen, die uns beim Älterwerden nach vorn treiben. Ich selbst habe vor fünf Jahren meine Firma „Seele und Sorge“ gegründet und bin seitdem mit Vorträgen und Workshops quer durch Deutschland unterwegs. Lange Zugreisen, unterschiedlichste, immer interessante Menschen und Gruppen, inspirierende Tagungshäuser beflügeln mich – und ich finde es einfach spannend, immer neue Herausforderungen und Modelle kennenzulernen und zu begleiten.

Fünf Jahre lang war alles offen. Aber jetzt ist Shutdown. Corona-Shutdown. Plötzlich geht nicht mehr viel. Bis Ende Mai sind auch in Kirche und Diakonie, genauso wie bei den vielen kleinen und großen sozialen Initiativen fast alle Veranstaltungen abgesagt. Was danach mit größeren Veranstaltungen geschieht, mit wem ich arbeiten, wohin ich reisen kann, ist erneut wieder völlig offen. Das hat dann nicht nur mit den allgemeinen Regelungen zur Kontaktvermeidung zu tun, sondern auch mit dem Schutz bestimmter Bevölkerungsgruppen. Wer älter als sechzig ist, gehört plötzlich zur Risikogruppe der besonders Gefährdeten und Verletzlichen. Das bedeutet möglicherweise verlängertes Homeoffice: einfach zu Hause bleiben, wenn andere schon wieder unterwegs zur Arbeit sind. Damit der Betrieb weitergeht, die Wirtschaft wieder auf die Beine kommt. Die Exitstrategien nach dem Shutdown werden ja längst diskutiert.

Wie viele andere verlege auch ich schon jetzt einen Teil meiner Arbeit ins Netz, plane Coachings über Skype, Zoom-Konferenzen und Webinare für die Zukunft – Techniken, durch die wir einander sehen und miteinander sprechen können, auch wenn wir im Homeoffice sind. Aber beim Schutz der Risikogruppen geht es ja nicht nur um das Thema Arbeit. Großeltern dürfen nicht mehr auf ihre Enkel aufpassen, gerade für Alleinerziehende wird es eng ohne die Unterstützung von Oma und Opa und viele Ältere, die allein leben – das sind immerhin 46 Prozent –, fühlen sich jetzt wirklich einsam. Gott sei Dank entstehen aber auch neue Initiativen in Zivilgesellschaft, Kirche und Diakonie: Überall werden Einkaufsdienste organisiert, Telefonketten gebildet, Balkonkonzerte veranstaltet. Die Quartiersinitiativen blühen!

Was mir wichtig ist: Die gruppenbezogenen Freiheitsbeschränkungen brauchen unbedingt Freiwilligkeit. Wir sollten achtsam bleiben, wenn es um Freiheitsrechte geht und um Demokratie. Und Achtsamkeit ist auch in anderer Hinsicht gefragt: Mir fällt auf, wie sich in dieser Krise die Altersbilder ändern. Die dritte Lebensphase, in der wir uns noch einmal aufmachen zu neuen Ufern, neue Horizonte und Talente entdecken, droht gerade aus dem Blick zu geraten. Wo gestern noch alles offen war, werden die Schotten dicht gemacht. Plötzlich dominiert ein fast vergessenes Bild: Das Alter als Zeit der Verletzlichkeit und Gebrechlichkeit tritt in den Vordergrund. Und im gleichen Atemzug wird der Belastungsdiskurs wieder aktiviert: die Rentner als „Versorgungsfälle“, die schwerkranken Alten, auf die alle anderen Rücksicht nehmen müssen. Dabei sind viele von denen, die jetzt über die richtigen Maßnahmen verhandeln, selbst Ü60 – in Management, Wissenschaft wie in der Politik.

Tatsächlich sehe ich, wie die Krise gerade die Altenpflege mit voller Wucht trifft, in den Heimen wie in den Häusern. Ich sehe aber auch, dass gerade da, wo Menschen auf Menschen angewiesen sind, eine völlige Isolation gar nicht möglich ist. Einsame Ältere, die auf ihren Zimmern isoliert werden, ohne Besuch ihrer Angehörigen, aber auch ohne Gemeinschaftserfahrung – das erschreckt uns alle. Nötig sind Schutzmaßnahmen und neue Wege, Kontakt zu halten. Wir brauchen eine neue Balance zwischen Fürsorge, Schutz und Autonomie in der letzten Lebensphase, zwischen Achtsamkeit und Freiheit gerade bei den Älteren. Darüber muss gesprochen werden. Es braucht Zeit, mit diesen Fragen umsichtig umzugehen, Zeit, miteinander zu diskutieren und die richtigen Wege zu finden – für sich selbst und für andere. Lassen Sie uns die Fenster dafür offen halten – auch wenn wir die Türen gerade schließen müssen.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie die frische Frühlingsbrise genießen können – bei Spaziergängen mit hinreichend (räumlichem) Abstand oder einfach am geöffneten Fenster.

Und bleiben Sie gesund!

Ihre Cornelia Coenen-Marx

Hier noch ein paar Tipps zum Lesen, Nachdenken, Handeln in besonderen Zeiten.