Die Glut unter der Asche neu entfachen

Wie diakonische Gemeinschaft wärmt und trägt.


1. Noch Glut unter der Asche?

„Unter der Asche ein heimliches Feuer“ heißt ein Buch der amerikanischen Benediktinerin Joan Chittister, das vor mehr als 15 Jahren erschien. Die heute 80-jährige Joan Chittister ist Mitglieds eines Benediktinerinnen – Konvents in Pennsylvania, in den sie als ganz junges Mädchen eintrat. Zwölf Jahre war sie dessen Priorin, eine starke, inspirierende und mutige Frau. 2001 erhielt sie den Thomas Merton Award für Frieden und soziale Gerechtigkeit, 2007 den Hans-Küng-Preis, 2008 trat sie in Seattle mit dem Dalai Lama auf. Es war aber Chittisters Forderung nach Frauenordination in der römisch-katholischen Kirche, die ihrer Bekanntheit noch einmal einen Schub gegeben hat- sie geriet darüber in Konflikt mit dem Vatikan, wie übrigens größere Teile des Reformflügels der amerikanischen Katholiken. Joan Chittister kann begeistern – und sie steht zu ihren Einsichten. Was sie erkannt hat, was ihr wichtig ist, macht sie öffentlich- auch wenn es sie etwas kostet. So ist das nun mal, wenn man für eine Sache brennt. Man kann nicht darüber schweigen. Der Titel ihres Buches – es ist nur eins von sehr vielen- erzählt, wie alles begann. Ein heimliches Feuer unter der Asche.

In meiner Kindheit und Jugend hatten mein Eltern ein Ferienhaus in der Eifel – das heißt: eigentlich war es ein altes Bauernhaus. Dort gab es keine Zentralheizung, sondern nur einen zentralen Kamin, einen Kachelofen und den Gasherd. Wenn wir im Winter dort ankamen, mussten wir zu allererst heizen – und wer man am Morgen zuerst aufstand, musste nach dem Feuer sehen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn das Feuer lange nicht gebrannt hat und alles kalt und klamm ist. Und wie man den Glutherd entfacht, der manchmal noch unter der grauen Asche brennt. Welche Bedeutung das Feuer für unsere Häuser hat – wie die ganze Atmosphäre verändert, das habe ich damals in der Eifel gelernt.

Das zentrale Heiligtum auf dem Forum Romanum war der Tempel der Vesta. In ihm brannte das Heilige Feuer, das von den sechs Priesterinnen, den Vestalinnen bewacht wurde – junge Frauen, die wie in einem Kloster zusammen lebten. Sie hüteten das Feuer des römischen Staates. Der Tempel der Vesta hatte die Form einer runden Hütte; in der Mitte seines Dachs befand sich eine Öffnung für den Rauchabzug. Der Allerheiligste des Tempels durfte nur von wenigen Personen betreten werden- vom Hohen Priester und den Vestalinnen. Im Inneren wurden die Heiligtümer des Staates aufbewahrt, darunter verschiedene Gegenstände, die Aeneas aus Troja gerettet haben sollte. Dort war aber auch ein beliebter Aufbewahrungsort für Testamente und Verträge. Das Feuer, das im Tempel der Vesta brannte, war das Zentrum Roms – so wie der Kamin das Zentrum eines Hauses war. Jedes Jahr am 1.März, dem alten Jahresanfang, wurde es neu entzündet. Erlosch es von selbst, galt das als großes Unglück für die Stadt.

Ich bin mit Zentralheizung aufgewachsen. Zunächst noch mit einem Kohlenkeller, in dem ein richtiger Höllenschlund brannte, später dann mit Erdöl und Gas. Solange die Heizung läuft, vergesse ich oft, wie wichtig sie für unser Wohlbefinden ist. Vielleicht ist das nur ein Bild für die Gedankenlosigkeit, mit der wir die gute Versorgung und Infrastruktur in unserem Land hinnehmen. Ich erinnere mich, dass ich einmal von einem längeren Aufenthalt in Kairo und im Sudan zurückkam und mit Erstaunen zur Kenntnis nahm, wie gut bei uns alles funktioniert: wie sauber die Straßen waren, wie regelmäßig die Müllabfuhr kam, dass warmes und kaltes Wasser aus der Leitung floss. Dass ich mich sicher fühlen konnte, ohne dass an jeder Ecke Polizei oder Militär steht. Dass wir Schulen, Krankenhäuser, Pflegedienste haben – nichts davon ist selbstverständlich. Aber selten – bei einem Streik, einem Anschlag oder einer Flutkatastrophe spüren wir, wie fragil all diese Systeme sind.

Auch unsere gute Gesundheitsversorgung hängt von vielen Faktoren ab. Davon, dass genügend Geld im System ist. Davon, dass genügend Menschen bereit sind, als Ärztinnen oder Pflegende zu arbeiten. Und auch davon, dass für jeden Menschen gleiche Rechte gelten. Meine Kosmetikerin kommt aus der Ukraine. Seit dort die Krise begann, macht sie sich immer wieder Sorgen um ihre Familie. Kürzlich war ihre Großmutter erkrankt und wollte einen Notarzt rufen. Der Notdienst frage nach ihrem Alter – sie ist über 80 – und empfahl ihr dann, sich hinzulegen, etwas einzunehmen und abzuwarten. Das Geld für Benzin war zu teuer, um jeden zu versorgen – so konzentrierte man sich auf die Jungen. Noch kann das bei uns nicht passieren – noch wird nicht rationiert. Aber wenn es um große Operationen oder teure Krebsmedikamente geht, gibt es längst keinen Zugang mehr für jeden. Und die Personalsituation ist an vielen Orten durchaus prekär. Ohne den Einsatz von Zeitarbeitsfirmen für Ärzte und Pflegende, ohne Migrantinnen und Migranten ginge schon lange nichts mehr. Vielleicht kommt auch bei uns die Zeit wieder, in der die Angehörigen ihre Kranken ganz offiziell auch im Krankenhaus versorgen? Essen mitbringen, Betten machen?

Vor kurzem erzählten mir einige Pflegedienstleitungen vom Trend zu selbständigen Pflegefachkräften. Auf dem leer gefegten Markt bestimmen sie die Rahmenbedingungen ihres Einsatzes weit gehen selbst: sie kommen, wenn Personalmangel auf Station ist, aber sie machen keinen Nachtdienst, oder arbeiten nicht am Wochenende oder nur, wenn die Kinder in der Schule sind. Der Rest muss von den fest Angestellten aufgefangen werden. Und wieder einmal wird mir klar, wie wenig selbstverständlich es ist, wenn der Dienst in einer Klinik oder einer Pflegeeinrichtung funktioniert – wenn Menschen bereit sind, sich für andere einzusetzen, sich mit anderen abzustimmen, Beruf und Familie irgendwie unter einen Hut zu kriegen. Nichts davon ist selbstverständlich – so wenig wie die Wärme in unseren Häusern. Alles hängt davon ab, dass das Feuer brennt, dass Energie fließt, auch wenn wir sie nicht sehen.

Joan Chittisters Buchtitel – „Unter der Asche ein heimliches Feuer“ – hat mich vor vielen Jahren angeregt, mich zu fragen, was das für eine Energie ist, die Menschen dazu bringt, sich für andere einzusetzen. Ich war damals Leiterin der Kaiserswerther Diakonie, des ersten Diakonissenmutterhauses von 1836. Dort, am Ursprungsort der neuzeitlichen Pflegegeschichte, waren die Keller voller Akten aus vielen Jahrzehnten Pflegearbeit – während die Diakonissengeschichte in der alten Form unweigerlich zu Ende ging. Das ließ mich fragen, von welcher Art das Feuer ist, dass wir hüten müssen- oder ob es schon längst nicht mehr brennt. Manchmal kann man ja wirklich das Gefühl haben, von der alten Idee dieser Pflegegemeinschaften sei nur noch Asche geblieben.

Das Beispiel der selbständigen Pflegekräfte ist für mich der konsequente Endpunkt der Entwicklung von der Institution zur Individualisierung, von der Gemeinschaftsdiakonie zum Gesundheitsmarkt. Pflegende bieten ihre Dienstleistung auf dem Gesundheitsmarkt an wie jeder andere Anbieter auch. Und weil sie im Vergleich zu Ärzten oder IT-Kräften viel zu wenig verdienen, sorgen sie vernünftiger weise für ein gutes Zeitmanagement und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Allerdings lässt sich ein Krankenhaus so nicht managen- hier greift eins ins andere und alles hängt an einer guten Abstimmung zwischen den verschiedenen Diensten und Berufsgruppen. Die Organisationen leben von der Bereitschaft, sich einzufügen- gerade das war in den Schwesternschaften über viele Jahrzehnte Voraussetzung. Industrie und IT-Unternehmen setzen heute in weit höherem Maße auf Eigenständigkeit und Selbststeuerung – vielleicht müssen wir also auch in den alten Anstalten, in Schulen und Krankenhäusern umdenken? Patienten „ durchzuschleusen“ oder Pflegebedürftige in Modulen zu versorgen wie man Autos am Fließband fertigt, ist kein Weg – das ahnen wir längst. Schließlich kann Heilung ohne Zusammenarbeit nicht gelingen – Zusammenarbeit mit dem Patienten und auch untereinander.

Taugt die Tradition der Gemeinschaftsdiakonie für neue Visionen? Machen wir uns nichts vor – manche würden entschieden den Kopf schütteln. Denn zur Tradition der Schwesternschaften gehörten eben auch der Anpassungsdruck, von dem ich eben gesprochen habe, die Gehorsamstradition und das Zurückdrängen von Individualität. Zudem waren die Gründer wie Fliedner oder Zimmer davon überzeugt, dass gerade Frauen nicht allein ihren Mann stehen könnten- sie wären schon von ihrer Konstitution her auf Familie und Gemeinschaft angewiesen. Als ich vorhin gesagt habe, die selbständigen Pflegekräfte seien der Endpunkt einer Entwicklung, habe ich daran gedacht, wie lange die Kirche gegen die Unabhängigkeit des Pflegeberufs gekämpft hat und wie mühsam die Fortschritte errungen wurden – von Theodor Fliedners Mutterhausdiakonie über Friedrich Zimmer, der den Schwestern nicht mehr nur Taschengeld, sondern durchaus ein Entgelt zahlte, bis zu den privaten Pflegediensten. Zugleich aber ist mir bewusst, wie wenig damit erreicht ist: trotz aller Unabhängigkeit ist die Bezahlung nicht gut. Der Soziologe Heinz Bude spricht in seinem Buch „ Gesellschaft der Angst“ sogar vom neuen Dienstleistungsproletariat – Hauswirtschafts- und Reinigungskräfte und auch Pflegende zählen für ihn dazu. Die Sorgeberufe leiden unter mangelnder Wertschätzung. Unter dieser Perspektive lohnt es sich dann doch, genau hinzusehen, was den Aufbrüchen im 19. Jahrhundert die Energie gab. Und zu schauen, ob das Feuer unter der Asche noch brennt.

 

2. Berufung, Spiritualität, Gemeinschaft- Initialzündungen diakonischer Gemeinschaft

Dis-embedding ist eine Schlüsselkategorie der Moderne. Der klar und verlässlich gezeichnete Rahmen, in dem Menschen über Jahrhunderte gelebt haben, hat sich aufgelöst – das gilt für Geschlechterrollen wie für Familienbilder, für Biographien wie für Berufswege. Und es gilt auch für die Beschreibung gesellschaftlicher Funktionen. Aus der Wohlfahrtspflege ist die Sozialbranche geworden. Aus dem diakonischen Dienst eine Dienstleistung wie andere auch. Wir haben neue Freiheiten gewonnen und neue Unsicherheiten eingetauscht. Wir haben Autonomie gewonnen, aber vergessen manchmal, wie sehr wir auf andere angewiesen sind. Wir leben in einer Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft und müssen doch neu lernen, dass Gesundheit, Bildung, Veränderungsprozesse nicht konsumierbar sind, sondern unsere eigene Mitarbeit und Gestaltung brauchen.

Vielleicht haben die Ecksteine der neuzeitlichen Diakonie deshalb wieder Konjunktur: Engagement und Berufung, Spiritualität und Gemeinschaft sind wieder gefragt. In einer Welt, in der Menschen die Jobs und Positionen, die Wohnorte, Familien und Freundeskreise oft mehrfach im Leben wechseln, in der sich viele zerrissen fühlen zwischen verschiedenen Rollen und Identitäten und manche Philosophen schon diskutieren, ob es überhaupt so etwas gibt wie eine Identität der Person, da fragen sich auch ganz säkulare Menschen, was der Sinn ihres Lebens ist und wofür sie gebraucht werden..

Dass Arbeit mehr ist als nur ein Job, dass sie mit uns selbst, unserer persönlichen Entwicklung, unseren Netzwerken zu tun hat, wird zur Zeit vor allem in der Szene der Gründer, Freiberuflichen und Künstler neu entdeckt – es gilt aber auch und gerade für die Diakonie und die soziale Arbeit. „Arbeit ist sichtbar gemachte Liebe“ sagt Catharina Bruns. Sie empfiehlt, ganz bewusst mit denen zusammen zu arbeiten, die ihren Beruf lieben. Damit sind wir sehr nah an den Motiven, die den Aufbruch der Diakonie im 19. Jahrhundert kennzeichnen. Es ging um Liebe – um die Liebe zu den Schwachen in den Zeiten der ersten Globalisierung und Industrialisierung; es ging darum, den Ausgeschlossenen zu zeigen, dass sie gebraucht wurden. All die Kindergärten, Kranken- und Rettungshäuser entstanden aus den Initiativen ehrenamtlich Engagierter – von Unternehmern, Kommunalbeamten, gut ausgebildeten Frauen ohne Beruf. Es waren Menschen, die von ihrer Sache begeistert waren: Fromme, erweckte Christen, die sich engagieren wollten, Pfarrerinnen und Pfarrer, die ihre Kirche verändern wollten. Aus diesen Initiativen entstanden die diakonischen Gemeinschaften, die Kraftorte der Diakonie an den Brennpunkten ihrer Zeit und auch ganz neue Berufe für die, die sich abgehängt und nutzlos fühlten. Arbeitslose junge Männer wurden Handwerker und Diakone, alleinstehende Frauen, die eine Aufgabe suchten, wurden Diakonissen, Erzieherin oder Krankenschwester. Nächstenliebe, Gemeinschaft und Berufung waren Schlüsselfaktoren der diakonischen Bewegung. Theodor Fliedner, Johann Hinrich Wichern und all die anderen schmiedeten in ihren Einrichtungen Ketten der Hilfe als Alternative zu den Vertriebsketten auf den neuen globalen Märkten der Industrialisierungszeit. In einer Zeit, in der Menschen auf der Suche nach Jobs vom Land in die Städte zogen und oft genug ihren Halt verloren, schufen sie Haltepunkte im Getriebe, Plätze und Gemeinschaften, die Menschen stark machten.

Dass die Frage nach der Berufung heute wieder eine zentrale Rolle spielt, hat auch damit zu tun, dass wir erneut in einer globalen Transformation leben – diesmal von der Dienstleistungs- zur Wissensgesellschaft. Mit wachsenden Erwartungen an Mobilität und Verfügbarkeit, neuen Abhängigkeiten, Verdichtungen und Überforderungen. Die Wachstumsgesellschaft scheint an eine Grenze zu stoßen, die Wohlfahrtindustrie steht unter erheblichem Druck, die versprochene Vereinbarkeit von Beruf und Familie gelingt so nicht. In dieser Situation ist das Einkommen für viele nicht mehr der entscheidende Glücksparameter: es geht um ein gutes Leben. Viele wechseln aus ganz anderen Branchen in Kirche oder Diakonie, weil sie nach einer sinnvollen Arbeit suchen – um dann zu erleben, dass die Sozialbranche nach denselben Gesetzen gesteuert wird, wie andere auch. Wie kommen wir mit diesen Widersprüchen zurecht?

Der Philosoph und Politikwissenschaftler Matthew Crawford, der mit den widersprüchlichen Anforderungen in dem Thinktank, in dem er arbeitete, nicht mehr zurecht kam, kündigte und eröffnete stattdessen eine Motorradwerkstatt. Ein Teil der Befriedigung liegt für ihn darin, dass er den Sinn seines Tuns in seinem Handeln findet. Aus seiner Sicht ist es entscheidend, dass Arbeit uns in einer Wertegemeinschaft verankert. Was ich tue, sagt er, ist Teil eine umfassenderen Bedeutungskreises – es dient einer Aktivität, die wir als Teil des guten Lebens betrachten. Dieses Bewusstsein, das gar nicht ausgesprochen werden muss, konstituiert die Gemeinschaft, in der wir arbeiten. Wir stehen in einer Art „ tätigem Gespräch“ miteinander – und durch dieses Gespräch kann die Arbeit unser Leben zu einem in sich schlüssigen Ganzen machen. Um als Fotograf gute Arbeit zu tun, schreibt Crawford, muss man nicht nur Fotos machen, sondern Fotograf werden – man stellt sich damit in eine lange Traditionsreihe von Menschen, denen es vor allem um eines ging: Man muss sehen lernen.

Auch wir stehen in einer solchen Traditionskette, die über unsere eigene Arbeit, ja, sogar über unsere Berufung hinausreicht. Wer Pädagogik, Soziale Arbeit oder Pflege studiert und gelernt hat, will vor allem eins: für Menschen da sein. Dem sollten die diakonischen Einrichtungen mit ihren Ämtern und Diensten, mit den Kirchen und Andachten, den Gärten und Bildungseinrichtungen dienen. Wenn wir merken, dass die heutigen Rahmenbedingungen unserer Arbeit mit diesem Ziel nicht mehr übereinstimmen, müssen wir uns kritisch einbringen, um nicht auszubrennen oder zynisch zu werden. Dann führt kein Weg daran vorbei, Konflikte beim Namen zu nennen und Alternativen zu erproben.

Wer sich für andere einsetzt, wer wirklich kämpfen und etwas verändern will, muss wissen, dass er damit nicht allein steht. Darin liegt die Bedeutung der diakonischen Gemeinschaften. In seinem Buch über Zusammenarbeit hat der Soziologe Richard Sennet dargestellt, wie wesentlich Kooperation ist, um Zusammenhänge wahrzunehmen. Er zeigt aber auch, wie sehr dieser Blick aufs Ganze angesichts unserer oft so zerstückelter Jobs, Zeitarbeitsverhältnisse und individualisierter Medien bedroht ist. Angesichts wachsender Ungleichheit und institutioneller Fragmentierungen in der neoliberalen Wirtschaft wächst der Wunsch nach Solidarität- zugleich allerdings zersplittern Gewerkschaften, erodieren die alten Gemeinschaften. Auf diesem Hintergrund, so Sennet, suchen viele eine destruktive Solidarität, sie verteidigen das Eigene auf Kosten und in Abgrenzung zu anderen. Deshalb ist es heute wichtig, Organisationen, Arbeitsstrukturen und Orte zu schaffen, die ein Miteinander in Vielfalt ermöglichen – inklusive Schulen, gemischte Wohnquartiere, ein Unternehmen, das Migranten integriert, Stationsbesprechungen über die Berufsgruppen hinweg. Interessanterweise illustriert Richard Sennet diesen Gedanken am Beispiel von Gemeinschaften, die im 19. oder im frühen 20. Jahrhundert entstanden sind – wie die catholic–workers-Bewegung. Oder unsere diakonischen Gemeinschaften.

Gemeinschaften sind nicht um ihrer selbst willen da – sie sind intermediäre Organisationen, Plattformen und Bindeglieder zwischen den Einzelnen und den Organisationen, den Unternehmen, der Gesellschaft. Sie schaffen einen Raum des Austauschs, der Solidarität, der Vergewisserung in einer sich verändernden, individualisierten Welt. In den diakonischen Gemeinschaften stand deshalb immer das Engagement für andere im Mittelpunkt- Andachten, Gottesdienste, Rüstzeiten dienten dazu, sich mit den eigenen Kraftquellen neu zu verbinden. Diese zentrale Bedeutung von Engagement und Berufung hatte allerdings auch eine Gefahr. Denn tatsächlich wurden die Gemeinschaften mit dem wachsenden Erfolg der Mutter- und Brüderhäuser auch funktionalisiert. Am Anfang stand die Glaubens- Lebens- und Dienstgemeinschaft, zu der nicht nur die Schwestern oder Brüder, sondern auch die Hilfebedürftigen zählten. Konstitutiv dafür war ein Dreieck: Gemeinschaft untereinander, Gemeinschaft mit dem Hilfebedürftigen, Gemeinschaft mit Christus. In diesem diakonischen Dreieck korrespondiert eins mit dem anderen und die Rollen sind nicht festgelegt: Denn in den Kranken oder Sterbenden lässt sich Christus finden, wie das Gleichnis vom Großen Weltgericht erzählt. Und in den Schwestern und Brüdern, mit denen ich arbeite- oder auch in mir – begegne ich eben nicht nur Helferinnen und Helfern, sondern auch Hilfebedürftigen. In dem konstituierenden Dreieck der diakonischen Gemeinschaften ist die Richtung der Hilfe nicht festgelegt. Und auch Arbeit und Gemeinschaftserfahrung, Berufungserfahrung und Religion gehörten zusammen. In den eigenen Leidenserfahrungen wächst ja gerade die Empathie für andere, das Mitleiden- und gerade in dieser Haltung der Augenhöhe lassen sich bei den Hilfebedürftigen neue Kräfte entdecken. Empowerment nennt man das heute.

Allerdings leben wir heute in einer Gesellschaft, in der die Funktionsbereiche strikt getrennt sind. Arbeit und Wirtschaft, Familie und Nachbarschaft, Spiritualität und Religion gehören zu unterschiedlichen Lebensbereichen und auch Kollegen und Klienten sind zweierlei- jedenfalls, bis eine Kollegin erkrankt. Aus den Krankenhäusern und Pflegediensten, die einst von diakonischen Gemeinschaften getragen wurden, wurden diakonische Unternehmen, die – wie die gesamte Sozial- und Gesundheitswirtschaft – unter erheblichem Kostendruck stehen. Hier geht es darum, effektiv zu arbeiten- alles andere ist in den Hintergrund getreten. So wurde aus der diakonischen Dienstgemeinschaft ein arbeitsrechtlicher Begriff, der inzwischen längst unter Druck steht, weil viele Mitarbeitende ohnehin keiner Kirche mehr angehören. An die Stelle der ursprünglichen Gemeinschaft zwischen Hilfebedürftigen und Helfern trat das Arbeitsteam, das angesichts dauernd wechselnder Dienste längst nicht mehr so stabil ist wie früher. Und Religion wurde zur Privatsache- jedenfalls, bis die neuen muslimischen Kolleginnen und Kollegen danach fragten.

Glaube, Gemeinschaft und Dienst, „Believing“ und „Belonging“, sind in einem diakonischen Unternehmen kaum noch zur Deckung zu bringen. Auch in kirchlichen Einrichtungen fehlt der gemeinsame Rahmen – das meint ja Dis-embedding. Was die britische Soziologin Grace Davie als Problemanzeige für die westlichen Kirchen analysiert, das zeigt sich erst recht in der Diakonie. Grace Davie spricht davon, dass der gemeinsame Glaube, der zum gemeinsamen Handeln führt, eben nicht mehr als tragendes Fundament vorausgesetzt werden kann. Wir leben in einer nachchristlichen Gesellschaft. Die Richtung führt nicht mehr vom „Believing“ zum „Belonging“, sondern umgekehrt: vom Behaving zum Belonging zum Believing. Über das gemeinsame Handeln erschließt sich die Gemeinschaft, die dann auch neue Zugänge zum Glauben eröffnet, zu der Energie, die Arbeit und Leben trägt.

Spiritualität ist noch immer eine wichtige Ressource für diakonische Arbeit; das zeigt eine Untersuchung der Fachhochschule der Diakonie in Bethel [1]. Das gilt gerade jetzt, in einer Zeit, in der viele das Gefühl haben, unter dem wachsenden Druck auszubrennen. Aber Spiritualität in der Diakonie bedeutet eben mehr als die Einrichtung eines Raums der Stille, eines schönen Gartens oder Labyrinths. Spiritualität in der Diakonie erleben Pflegende auch in der Zuwendung zu Kranken und in der Sterbebegleitung oder im ehrlichen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen. Diakonische Arbeit ist immer Beziehungsarbeit- und damit immer auch Zusammenarbeit. Zusammenarbeit mit Patienten bei der Heilung, Zusammenarbeit untereinander, Zusammenarbeit bei der Bewältigung des schwer Erträglichen, gemeinsame Suche nach spirituellen Kraftquellen. Wenn unter Effektivitäts- und Kostendruck Stationsbesprechungen eingespart werden, wenn für Gespräche mit Angehörigen kaum noch Zeit bleibt, wenn der Zusammenhalt im Team durch Veränderungsdruck und Umstrukturierungen bedroht ist, dann tangiert das die Spiritualität. Dabei wissen wir: wenn Menschen Heilung erfahren sollen oder wenn ein Team auch unter Druck Probleme bewältigen muss, sind wir als ganze Menschen gefragt. Da geht es um Haltung und damit auch um Halt und Zugehörigkeit, um einen Platz, an dem wir uns sicher fühlen und uns öffnen können – und das hat mit Religion, mit Kultur und Gemeinschaft zu tun.

Unter Druck und in Konfliktsituationen brauchen Mitarbeitende Ermutigung, über ihre Hoffnung und Ängste, über Glauben und Zweifel zu sprechen – und das ist offenbar gerade in Kirche und Diakonie nicht einfach. Nicht nur, weil die allermeisten heute Religion als Privatsache empfinden und sie vor dem Zugriff der Arbeitswelt schützen wollen, sondern auch, weil in unseren Einrichtungen längst Mitarbeitende unterschiedlicher Kultur und Überzeugung arbeiten. Menschen also mit unterschiedlichen Prägungen, was Geschlechterrollen oder Vorstellungen vom Leben und Sterben betrifft. Das darf auch in einer kirchlichen Einrichtung kein Tabu sein – im Gegenteil. Eine gemeinsame Unternehmenskultur kann nur da entstehen, wo die Vielfalt geachtet wird, die heute auch diakonische Unternehmen prägt: andere Religionen, Atheisten und Agnostiker gehören genauso dazu wie Suchende oder überzeugte Christinnen und Christen. Wie gesagt: Glaube und Zugehörigkeit sind oft nicht mehr zur Deckung zu bringen. Gemeinschaft entsteht heute nur, wenn wir dem offen ins Auge sehen, uns der Vielfalt stellen und gemeinsam handeln. Der Rahmen, die Kultur ist nicht vorgegeben – wir müssen sie schaffen. Nicht durch Anpassung, sondern indem wir Probleme beim Namen nennen, Projekte starten, Rituale entwickeln. Denn so wie Menschen heute einen neuen Sinn in ihrer Arbeit, wie sie ihre Berufung suchen, so suchen sie auch Spiritualität und Gemeinschaft.

 

3. Gemeinschaft , Freundschaft, Wahlfamilien- Netzwerke sind nötiger denn je

„Wir stehen hier immer vor der Frage, wie sieht unsere Balance zwischen Ökonomie und Gemeinschaft aus“, sagt der Geschäftsführer von Schloss Blumenthal, Martin Horack, der mit acht Familien begann und inzwischen in einem kleinen Dorf lebt – mit Kindern und Älteren und Menschen aus allen Berufsgruppen. Auf Schloss Blumenthal in Bayern haben sich Menschen zusammengetan, um anders miteinander zu leben. Eine bunte Mischung von Individualisten vom Parkettpfleger über die Medizinerin, die Hotelkauffrau bis zur Steuerfachangestellten oder zur Yogalehrerin. Ihre Zukunftsvision ist ein Grundeinkommen für jedes Mitglied aus den Gewinnen der Betriebe und eine gemeinsame Altersversorgung. Schloss Blumenthal ist eine GmbH und Co KG; die wirtschaftliche Basis bildet ein Hotel mit achtzig Betten in einem alten Herrenhaus, ein Gasthaus sowie Gärten und Parks.

Mich erinnert das an die Entstehung diakonischer Gemeinschaften im neunzehnten Jahrhundert. Das Spannungsfeld zwischen Gemeinschaft, Gemeinwesen und Wirtschaftlichkeit ist alt – und spielt heute wieder eine große Rolle. Wir spüren das in den diakonischen Unternehmen, wo kaum noch Zeit für Beziehungsarbeit, Team – und Kulturentwicklung bleibt – geschweige denn für gemeinschaftliche Angebote. Wir spüren das aber auch in der Gesellschaft, die insgesamt auf Erwerbsarbeit ausgerichtet ist. Für Menschen, die alleinerziehend mit Kindern leben, die in die dritte Lebensphase eintreten und damit rechnen, mehr Hilfe zu brauchen, für Menschen mit einer Behinderung oder für Singles, die einen Ort der Zugehörigkeit suchen, wird es wichtiger, darüber nachzudenken, wo und wie sie leben. Wo sie Halt und Unterstützung finden. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe Politikerinnen und Politiker, die sich für ein neues Wohnprojekt entschieden haben und die Idee gemeinschaftlichen oder genossenschaftlichen Wohnens bekannt machen. Henning Scherf, Malu Dreyer stehen für solche Projekte. Für starke Nachbarschaften, in denen man einander wechselseitig hilft.

„Wir brauchen Freunde und Freundinnen, eine Kultur der Freundschaft. Freundschaft begründet sich in dem Wissen, dass wir wohl immer mehr empfangen, als wir zu geben in der Lage sind“, schreibt Andreas Heller[2] in einem Buch über Sorgenetze und Sorgende Gemeinschaften in einer älter werdenden Gesellschaft. Die wechselseitige Sorge füreinander ist eben mehr als eine bezahlbare Dienstleistung; sie kann uns helfen, selbst reicher, lebendiger und sinnvoller zu leben. Über die wechselseitige Fürsorge entwickeln wir Zugehörigkeit, fühlen uns eingebunden und zu Hause. Wohnprojekte und Mehrgenerationenhäuser bieten vielleicht auch Dienstleistungen an, aber sie leben von der freundschaftlichen Sorge füreinander. Die Lebens- und Dienstgemeinschaften der Diakonie, in denen der verletzte Mensch, der sterbende, der kranke oder behinderte Mensch die gleiche Würde hat wie der gesunde, sind oft auch Freundesnetzwerke. Ich denke an eine diakonische Initiative von Eltern behinderter Kinder, die zusammen einen Reiterhof gründen. An die Ehrenamtliche in der Hospizarbeit, die einen Jugendlichen aus einer Migrantenfamilie im Sterben begleitete- und seitdem die deutsche Oma der ganzen Familie geworden ist. Oder an die Angehörigen, die eine Wohngemeinschaft für Komapatienten gegründet haben, und die Mitarbeitenden dort als Familien unterstützen. An die Diakonie-Hotels, in denen Menschen mit Behinderung das Serviceteam stellen. Und natürlich an die Arche-Projekte für Menschen mit und ohne Behinderung. Solche neuen Gemeinschaftschaften wachsen an vielen Stellen, vielleicht weil wir spüren, dass Professionalisierung und Funktionalisierung nicht genügen. Das ist der Grund, warum auch die „Sorgenden Gemeinschaften“, die Caring Communities sozialpolitisch ganz oben stehen. Diese Idee nimmt die Energie der diakonischen Gemeinschaften in neuer Gestalt auf.

Sorgende Gemeinschaften entwickeln sich vor allem in den Nachbarschaften, in Wohnprojekten und sozialen Initiativen von Angehörigen und Betroffenen – manchmal auch in Kirchengemeinden, zumeist aber jenseits der unternehmerischen Diakonie, die sich nach Angeboten und Strategien sortiert und wirtschaftlich arbeiten muss wie andere Dienstleister auch. Denn sorgende Gemeinschaften leben von Engagement und Freiwilligkeit. Und sie haben deshalb einen anderen Umgang mit Zeit und Gefühlen – nicht alles muss kalkuliert werden. Die Seele des Sozialen schlägt in solchen Gemeinschaften; und trotzdem ist es gut, wenn sie mit funktionalen Diensten verknüpft werden. Denn Pflege und Soziale Arbeit brauchen Professionalität – nicht umsonst hat die neuzeitliche Diakonie eben Berufe entwickelt. Und sorgende Gemeinschaften brauchen Sorgestrukturen, heißt es im jüngsten Altenbericht der Bundesregierung. Diakonische Gemeinschaften finden ihre Plattform auf dem Boden diakonischer Unternehmen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie zu Brückenbauern würden- zwischen Dienstleistern und Engagierten, zwischen Unternehmen und Kirchengemeinden, zwischen Angehörigen und Nachbarschaften. Vielleicht sind es nicht die berufstätigen, die selbst kaum Luft zum Atmen haben- es könnten aber die Rentnerinnen und Rentner sein, die nach einer langen sozialen Berufstätigkeit einen neuen Blick entwickeln für die diakonischen Aufbrüche rundum.

 

4. Rituale gegen die Zerstreuung

Der moderne Individualismus steht meines Erachtens nicht nur für einen persönlichen Impuls, sondern auch für einen sozialen Mangel, einen Mangel an Ritualen… Die moderne Gesellschaft hat die durch Rituale hergestellten Bindungen geschwächt“, schreibt Sennet am Schluss seines Buches über Zusammenarbeit. In unseren Häusern fehlt oft nicht nur die Zeit für Zuwendung und Austausch, sondern auch für Rituale. Dabei ist Diakonie reich an Ritualen – mit Weihnachts- und Sommerfesten, Tagen der Offenen Tür, Einweihungen und Jubiläen. Rituale geben dem Leben Rhythmus, sie können den Alltag unterbrechen, Lebensschwellen bewusst machen. Sie können aber auch helfen, Übergänge zu gestalten und schwer erträgliche Situationen auszuhalten.

Heute brauchen wir eine interkulturelle Sensibilität, die auch die Traditionen der muslimischen Bewohner oder der orthodoxen Mitarbeiter achtet. Auch hier gilt: der Rahmen ist nicht mehr der gleiche – wir müssen, und wir können uns die Freiheit nehmen, Rituale so zu gestalten, dass Menschen das Gefühl haben, ihre eigenen Traditionen einbringen zu können. Damit Fremdheit überwunden wird. Es ist übrigens ein Fehlschluss, dass Rituale viel Zeit brauchen– manchmal genügen wenige Minuten, um miteinander inne zu halten. Und manchmal gelingt es, verlorene gemeinsame Zeiten neu als Ritual zu gestalten – wie die Frühstücksrunde der Stationsleitungen in einem Altenheim. Ein Krankenhaus in Halle lässt jeden Mittag Luftballons für die Neugeborenen aufsteigen und lädt dazu Verwandte und Mitarbeitende ein. Im Rahmen des Palliativ-Care-Projekts der Kaiserswerther Diakonie entwickelte die Schreinerei eine Lade für die Aussegnungen auf den Stationen – mit Kerze und Karte und einem kleinen Parament, das von Ehrenamtlichen gestickt wurde. Die Initiatoren sitzen meist nicht in der Führungsetage – es sind Künstlerinnen, Lehrer, Fotografen, Träumer – oder eben diakonische Gemeinschaften. Sie können die alten Instrumente der Unternehmenskultur neu zum Klingen bringen. Rituale und Feste, Kunst und Spiritualität öffnen unseren Blick für die andere Wirklichkeit jenseits der Kennzahlen und Zielvereinbarungen und schaffen damit Zugehörigkeit.

Heilung und Erfolg, Verstehen, Gemeinschaft und gelingendes Leben bleiben letztlich unverfügbar. Mitarbeitende in der Diakonie sind deshalb in besonderer Weise auf Rituale wie auf tragende Netzwerke angewiesen. Ehrliche Begegnungen, Offenheit, Spiritualität können Menschen stark machen, mit dem Unberechenbaren umzugehen. Wo dafür die Zeit fehlt, wo wir mit Grenzen und Scheitern allein bleiben, wo mit Widerspruch und Konflikten nicht offen umgegangen wird, wo Menschen nur nach ihrer Funktionalität und der Effektivität ihrer Arbeit beurteilt werden, geht die Glaubwürdigkeit der Diakonie verloren. Da geht das Feuer aus – was dann bleibt, ist nur noch Asche. Die diakonischen Gemeinschaften hüten die Schätze und die Energiequellen der Unternehmensdiakonie, so wie die Vestalinnen auf dem Forum das Herdfeuer Roms hüteten. Mit ihrem Dasein symbolisieren sie die zentralen Energien – so wie der Tempel neben dem Caesartempel. Gemeinschaften wären aber überfordert, wenn Unternehmensleitungen sie erneut funktionalisieren, um den diakonischen „Mehrwert“ zu erwirtschaften. Um diakonische Kultur heute zu prägen, brauchen die Unternehmen mehr: Leitbilder und Qualitätsentwicklung, Fortbildung und Ethikberatung- eine diakonische Unternehmenskultur. Gemeinschaften können und sollten sich an solchen Prozessen beteiligen- und sie können in der Gestalt der Gemeinschaft daran erinnern, wie wesentlich es ist, die eigene Werteorientierung auch tatsächlich zu leben.

Dafür brauchen sie Räume und Treffpunkte für Andacht, Begegnungen und Aktionen – und auch Freiräume für neue Modelle. Ganz ähnlich, wie Mitarbeitervertretungen Freiräume für die Vertretung des Personals und neue Kompetenzen brauchen, wenn das kirchliche Arbeitsrecht Zukunft haben soll. Wenn diakonische Gemeinschaften eine Zukunft haben wollen, müssen sie in viel stärkerem Maße auf theologische Bildung, Beratung und Coaching setzen und in einem größeren Verbundsystem denken. Die traditionell unterschiedlichen Netzwerke und Entwicklungspfade des Kaiserswerther, des Zehlendorfer Verbandes und der Diakoninnen und Diakonen bauchen heute gemeinsame Treffpunkte, Wege und Markplätze. Nur so kann es gelingen, mit den sich fusionierenden Unternehmen mit zu gehen und deren Zukunft mit zu gestalten. Gemeinsame Zukunftskonferenzen, Kurse, Einkehrtage und Feste sind ein Weg in diese Richtung.

Um einen Pflegeberuf zu erlernen oder um Sozialpädagogik zu studieren, ist die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft längst nicht mehr nötig. Aber wer sich wünscht, die eigene Berufung mit anderen zu teilen und das Feuer gemeinsam zu pflegen, dem kann eine Gemeinschaft dienen. Das gelingt nur in Freiheit, jenseits beruflicher Hierarchien. Aber gute und erfahrende Mentorinnen können die Brücke über die Generationen schlagen. Gemeinschaften können eine Rolle bei der Personalentwicklung spielen, sie können Bildungsangebote machen- aber sie sind nicht einfach Teil des Unternehmens und auch keine Mitarbeiterorganisation. Eher ein Freundeskreis, eine Initiative, ein Netzwerk von Diakonikern solchen, die sich dort beruflich oder auch freiwillig engagieren.

Aber funktioniert das noch in einer mobilen Welt, über die vielen Wechsel des Arbeitsplatzes, des Unternehmens und Umzüge hinweg? Damit hat die Mutterhausdiakonie Erfahrung. Schließlich entstand sie in der Zeit, als die Arbeitsmobilität erheblich zunahm und die Familienverbände überfordert waren. Die Haltetaue, die Menschen auch über große Entfernungen zusammenhalten können, sind lange erprobt: regelmäßige Rundbriefe und Mails, Verabredungen für Besuche und Telefonate, Treffpunkte zu bestimmten Zeiten, aber gemeinsame Gebetszeiten, die jeder einhält, gleich wo er gerade unterwegs ist. Das Losungswort, das Christinnen und Christen überall auf der Welt am Morgen lesen – manche im Losungsbuch, manche auf dem PC. Dann die Zeichen, die die Einzelnen erinnern, dass sie zu anderen gehören: ein Freundschaftsarmband, eine Schwesternbrosche, ein Schal. Und natürlich gemeinsame Projekte und Aufgaben. Inzwischen entstehen selbst in den sozialen Netzwerken neue, spirituelle Gemeinschaften, christliche Communities. Warum nicht jeden Mittag ein Mittagsgebet in die eigene Facebook-Gruppe schicken? Warum nicht geschlossene Chaträume nutzen, um Probleme der Gemeinschaft zu besprechen? Das Netz ermöglicht ein erstaunliches Maß an Offenheit und spontaner Unterstützung füreinander.

Es gibt tatsächlich Freundschaften im Netz, aus denen dann später Face-to-Face-Verbindungen entstehen. Und auch geistliche Begleitung, gemeinsame Gebete und Seelsorge sind hier möglich. „Ein guter Freund ist jemand, der einen an einen selbst erinnert, wenn man sich aus den Augen verloren hat“, schreibt Ariane von Schirach in ihrem Buch „Du sollst nicht funktionieren“: „Dieser Blick ist unersetzlich, vor allem, weil es manchmal leichter ist, sich selbst zu täuschen als einen Menschen, der einem nahe steht. Und „“Ihr seid Freunde, sagt Jesus zu seinen Jüngern- und Gemeinschaft der Freunde nennt sich auch die Kirche der Quäker, die keine Sakramente kennt, aber im diakonischen Handeln stark ist und sich um das innere Feuer gruppiert.

 

5. Das innere Feuer – was entscheidend wichtig ist

Kommen wir zurück zum Gedanken des Herdfeuers. In den 60-er Jahren sagten Sozialwissenschaftler, das Fernsehen habe das Herdfeuer ersetzt, an dem man früher zusammen saß und einander Geschichten erzählte. An ihre Stelle trat die heilige Zeit der Tagesschau und der Familienshows am Samstagabend. Aber auch das ist längst vorbei. Heute hat jeder das elektronische Feuer selbst in der Hand- lauter kleine Funkenflüge, jeder mit seinem eigenen Horizont. Es liegt an uns, ob und wie wir uns verbinden- ob wir nur in unserer eigenen Welt leben, oder die Perspektiven miteinander teilen. Dass heute aber das gemeinsame Wohnen so zum Thema geworden ist, das hängt auch mit dem Wunsch zusammen, nicht nur elektronisch, sondern auch ganz spürbar miteinander verbunden zu sein. In einem Raum, im gemeinsamen Engagement, im Essen und Trinken und Singen und Feiern.

So gut es möglich ist, eine Freundschaft oder Gemeinschaft elektronisch über die Zeit zu retten, so wichtig sind deshalb auch die intensiven Zeiten der Begegnung. Ein gemeinsames Abendessen in der Woche , gemeinsames Einkaufen und Kochen. Zusammen Musik machen. Zusammen Singen oder auch Reisen. Solche Erfahrungen der Begegnung verankern uns in der Zeit und eben auch im Miteinander. Und sie können helfen, das Feuer neu zu entfachen. Dafür ist es noch lange nicht zu spät.

Vorgestern las ich in der HAZ einen Artikel über die Wiederentdeckung der mittelalterlichen Musik in den Heideklöstern. Ulrike Volkhard, Professorin für Blockflöte an der Musikhochschule in Essen, hat sich vor 10 Jahren auf die Suche nach den Noten gemacht und ist um die Welt gereist- nach London, Oxford, Kopenhagen. Und sie hat die gregorianischen Gesänge wieder gefunden, in denen sich die unterschiedliche Kultur der Heideklöster spiegelt. Ein ganzer Schatz. „ Die Kunstwerke sind heute stark im Bewusstsein“; sagt sie, sie wurden bestens gepflegt und archiviert“- aber die Musik war fast vergessen. Volkhardt aber, die aus einer Pastorenfamilie kommt, ist neugierig geblieben auf die Glut unter der Asche. Und sie hat sie wieder entfacht. In diesen Tagen erscheinen die Noten- und auch eine CD mit der Musik. Ein Beispiel, was geschehen kann, wenn jemand sich begeistern lässt und andere damit ansteckt.

Was also kann geschehen, um das Feuer zu entfachen? Lassen Sie mich fünf Gedanken am Schluss zusammenfassen:

  • Gemeinschaften leben von der Erfahrung der Zusammenarbeit, der Zusammengehörigkeit. Diakonische Projekte, gemeinsames Lernen, Kochen und Essen, Musikmachen, Bibelteilen und Rituale- all das kann die Gemeinschaft stärken. Dabei geht es immer mehr darum, dass jeder und jede sich einbringen kann- dass Verschiedenheit nicht nur respektiert, sondern entfaltet wird.
  • Deshalb ist es bereichernd, wenn wir die Vielfalt der Gemeinschaftstraditionen neu auf den Prüfstand zu stellen, die Zusammenarbeit zu stärken und neue, gemeinsame Formen und Angebote entwickeln. Wenn Gemeinschaften Unternehmen und Mitarbeiterschaft in ihrem diakonischen Kern stärken wollen, müssen sie gemeinsam ihre Stärken herausarbeiten und ihre Angebote entwickeln.
  • Gemeinschaften halten die Berufung ihrer Mitglieder wach. Dazu sollten sie Angebote machen, die ihrer Tradition entsprechen: Bildung, Ethik, Spiritualitätserfahrungen, Musik. Als intermediäre Organisationen sollten sie dabei mit den Unternehmen, aber auch mit anderen Partnern zusammenarbeiten- mit Kirchengemeinden, Netzwerken, Selbsthilfegruppen, Initiativen, Studios und Sportverbänden, Musikgruppen.
  • Gemeinschaften liegen im Trend breiter Bürgerbewegungen, die auf Engagement und Netzwerke setzen. Sie sollten sich deshalb mit anderen verknüpfen- und damit Sorgenetzwerke und Sorgestrukturen stärken.
  • Auch Communities im Netz sind heute Gemeinschaften – umgekehrt sollten die traditionellen Gemeinschaften sollten die neuen Medien und sozialen Netzwerke nutzen, um sich virtuell zu verknüpfen und neue Mitglieder zu erreichen. Zugleich aber bieten sie die kostbare Chance, in Ritualen und an Schwellen immer neu unmittelbare Erfahrungen zu teilen.

 

 

Cornelia Coenen-Marx, Hannover, 19.5.16

 

 

[1] Prof. Dr. Tim Hage nah, Lehrstuhl für Arbeits-, Organisations- und Gesundheitspsychologie an der Fachhochschule der Diakonie
[2] Andreas Heller, Reimer Gronemeyer, In Ruhe sterben – Was wir uns wünschen und was die moderne Medizin nicht leisten kann, München 2014.