Gemeinwesendiakonie als kulturelle, soziale und spirituelle Herausforderung

1.„Wo das Herz wohnt“: Kirche als kulturelle Heimat

„Heimat“ ist das neue Trendgefühl. Im Bund und in vielen Ländern werden die Innenministerien zu „Heimatministerien“. Kaum ein anderer Begriff hat so viel Imagewechsel und Definitionen erlebt, sagt Dr. Simone Egger, die diese Sehnsuchtslandschaft erforscht hat. Im 19. Jahrhundert, zur Zeit der Industrialisierung und ersten Globalisierung, entstand die romantische Sehnsuchtsheimat mit Bildern von Caspar David Friedrich und den Hausmärchen der Brüder Grimm. Dass Heimat dann in den 60ern und 70ern als piefig galt – bis die Geschichte von Schabbach eine andere Hunsrückstory erzählte –, das hing mit der politischen Instrumentalisierung im Dritten Reich zusammen. Jetzt aber ist Heimat im Trend, mit Lederhosen, lokalen Brauereien, Kaffeeröstereien und Landzeitschriften. Je mobiler die Gesellschaft, je mehr Optionen und Lebensstile, desto wichtiger wird Heimat. Identität. Vital empfiehlt eine kleine Silberkette, auf der man die Koordinaten der Heimatstadt eingravieren lassen kann – die Heimat im Herzen tragen. Die heimatliche Silhouette ist ohnehin tief in die Seele eingraviert: die Frankfurter City mit ihren Hochhäusern, die Münchner Frauenkirche, das Brandenburger Tor, der Hamburger Michel – nicht zufällig sind es häufig die Kirchen und Dome, die das Heimatgefühl stärken – auch für die, die die Kirche selbst kaum noch besuchen.

25 Jahre ist es nun her, da standen wir im Osten Londons vor einer verrammelten Kirche. Eine Gruppe rheinischer Theologinnen und Theologen auf der Suche nach „fresh impressions“ für die Gemeinden der Zukunft. Was damals in der Church of England für Aufregung sorgte, ist inzwischen bei uns angekommen: Kirchen werden geschlossen, aufgegeben und verkauft. Oder sie werden umgewidmet – zu Synagogen oder Moscheen, zu Restaurants und Nachbarschaftszentren. Ich musste an unsere Englandreise denken, als ich kürzlich in Bielefeld im Restaurant „Glück und Seligkeit“ ein Chutney genoss – der bunte Lichteinfall unter der hohen Decke schmückte den Tisch – „Glück und Seligkeit“ ist eine alte Kirche.

Die Kirche in London stand im Osten, mitten in einem globalisierten Viertel mit Menschen aller Hautfarben und Religionen, in dem die Armut offensichtlich groß war. Kein Wunder, dass der Bischof der Meinung war, sie werde nicht mehr gebraucht und sei auch nicht mehr zu finanzieren. Aber die Menschen, die wir dort trafen, waren ganz anderer Auffassung. Sie hatten eine Bürgerinitiative gegründet, um die Kirche zu erhalten. Dabei lebten viele von ihnen längst anderswo – hier aber waren sie getauft und getraut worden waren, hier hatten auch ihre Kinder den Segen bekommen. Hier waren sie wer – und gehörten dazu. So etwas gibt man nicht einfach auf. Das bewegt auch die Kirchenkuratoren und Kirchenkuratorinnen, die dafür sorgen, dass Dorfkirchen in Brandenburg oder in Mitteldeutschland saniert werden – die Orgelpaten suchen, Veranstaltungen planen, die Kirchen offenhalten, auch wenn sie selbst gar nicht Mitglied sind oder längst anderswo wohnen.

Kirche ist Teil der kulturellen Identität. In Zeiten der Verunsicherung richten sich nicht nur Hoffnungen, sondern auch Wut und Verzweiflung darauf. Wir spüren das nicht nur, wo die Kirchen Sparprogramme auflegen, Kirchenkreise fusionieren und Kirchengebäude aufgeben, verkaufen oder umwidmen. Mir fallen auch die vielen wütenden Briefe ein, die ich ebenfalls vor zwanzig Jahren im rheinischen Landeskirchenamt erhielt, als in Duisburg der Streit um den Emissionsschutz beim lautsprecherverstärkten Gebetsruf auf den Moscheen losbrach. Kirchenglocken ja – Muezzinrufe nein. Der Transformationsprozess, den wir gerade erleben, fordert die Gemeinden heraus – im Umgang mit ihren Gebäuden, in den Nachbarschaften und Quartieren, bei der Suche nach Zugehörigkeit und in den Kulturkämpfen unserer Tage.

„Wenn ich einen Traum von der Kirche habe, so ist es der Traum von den offenen Türen gerade für die Fremden, die anders sprechen, essen, riechen. Mein Haus wünsche ich mir nicht als eine für andere unbetretbare Festung, sondern mit vielen Türen. Heimat, die wir nur für uns selbst besitzen, macht uns eng und muffig“, heißt es bei Dorothee Sölle.

 

2. In der Transformation: Kirche als Herberge

Dass Familien, möglicherweise sogar mit mehreren Generationen, an einem Ort wohnen, ist längst keine Normalität mehr. Mobile junge Leute ziehen in die prosperierenden Regionen; zurück bleiben die Älteren, weniger Beweglichen. Väter pendeln in die Städte – die Familien leben in der Region, wo die Mieten bezahlbar sind. Und jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren pendelt, weil die Karriere es verlangt. Inzwischen leben 40 Prozent der Bevölkerung allein. Die meisten genießen ihre Freiheit; sie entspricht den Werten unserer mobilen, individualistischen Gesellschaft. Zugleich aber verlieren Menschen, die häufig umziehen oder auch pendeln, die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft. Das Zerbrechen der hergebrachten sozialen Bezüge ist nicht nur eine emotionale Herausforderung. Familien mit kleinen Kindern, aber auch alte oder kranke Menschen – deren Anteil an der Gesamtbevölkerung wächst – geraten bei der Bewältigung des Alltags oft enorm unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen oder engen Freunden zurückgreifen können. Tatsächlich haben laut Alterssurvey nur noch ein Viertel der Älteren erwachsene Kinder am gleichen Ort.

Aber auch für die, die ihre Heimat nicht verlassen, verändert sich die Welt. Fremde ziehen zu – als Arbeitssuchende, Migranten oder Flüchtlinge. Geschäfte verschwinden, in der Kneipe wechselt die Speisekarte, Nachbarn sprechen eine andere Sprache. Manche, wie die Einwanderer der 60er Jahre aus Südeuropa oder aus der Türkei, gehören mit ihren Familien seit Generationen dazu; und dennoch hat sich noch nicht überall ein echtes Miteinander entwickelt. So kann die alte Heimat fremd werden – und damit das „Identifikationsgehäuse“, der Ort, wo wir uns geistig, emotional und kulturell zu Hause fühlen. Während Post und Sparkassen sich zurückziehen, finden wir noch überall Kirchen und Gemeindehäuser. Manchmal stehen sie halbleer – und die Nachbarn, die beobachten, wie Schulen und Krankenhäuser geschlossen oder Nahverkehrsstrecken stillgelegt werden, fragen sich, was daraus wird.

Ich erinnere mich an eine Kirche in der Innenstadt von St Louis in den USA. Sie hatte eine Weile leer gestanden – das Viertel war heruntergekommen und wer es sich leisten konnte, war an den Stadtrand gezogen. Aber anders als den Bischof von London war dieser amerikanischen Gemeinde nicht egal, was mit ihrer Kirche passierte – und wie es den Leuten in ihrem alten Quartier ging. Sie öffneten die Kirche für die neuen Nachbarn, meist Latinos und Farbige. Nun gab es Kinderbetreuung und Selbstverteidigungskurse, Drogenberatung und einen Mittagstisch – und immer noch Gottesdienste für alle, mit allen. Und die Gemeinde wuchs. Bei uns gehören auch in benachteiligten Quartieren noch viele zur Kirche. Sie haben ihre Kinder in der Tageseinrichtung, vielleicht kommen sie zur Familienberatungsstelle oder ein Pflegedienst kommt ins Haus – und trotzdem haben sie das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Wenn sie am Heiligen Abend in die Kirche kommen, fühlen sie sich ein bisschen wie Gäste.

Immerhin – gute Gastfreundschaft wäre schon was wert, denke ich: ein erster Schritt, um wieder Heimat zu finden. Friedrich von Bodelschwingh hat es auf den Punkt gebracht: „Das ist aller Gastfreundschaft tiefster Sinn, dass wir einander Heimat geben auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause.“ In den Anfängen der neuzeitlichen Diakonie verstanden sich Herbergen für Fremde oder Obdachlose als Orte der Gastfreundschaft, wo Menschen auf ihrem Lebensweg Station machen und auftanken konnten. Heute können auch Kirchengemeinden wie Karawansereien sein, eine Oase in den Wüsten des mobilen Alltags. Wo Menschen ihre Geschichten teilen, wo sie spüren, dass sie gemeinsame Probleme haben und sich füreinander einsetzen, da können sie einander ein Stück Heimat geben. Gemeinde als Herberge. Der holländische Theologe Jan Hendriks hat dieses Modell in den 1980er Jahren entwickelt. Die offenen Stadtkirchen und Vesperkirchen, die Diakonieläden in den Quartieren wollen genau das sein: Herbergen am Weg. Hier wachsen Verbundenheit und Zugehörigkeit über Begegnungen, Beziehungen und Engagement.

Für Friederike Weltzien wird das in der Gemeindeküche spürbar. Sie ist Pfarrerin in Stuttgart, hat lange im Libanon gelebt und spricht arabisch. Als im Herbst 2015 die Turnhalle mit hundert Flüchtlingen belegt wurde, da öffnete die Gemeinde die Türen. „Und es stellte sich heraus, dass das größte Bedürfnis der Menschen war, selber Essen zu kochen, etwas, was sie kennen und was ihnen schmeckt.“, erzählt Friederike Weltzien. „Also wurde jeden Dienstag für achtzig bis neunzig Leute gekocht. Die Hilfsbereitschaft war groß, Gelder mussten gesammelt werden, die Lebensmittel eingekauft und die Tische gedeckt und dann auch wieder alles abgeräumt, gespült und gesäubert werden. In der Küche trafen die Kulturen aufeinander. Dinge veränderten sich, zunächst gab es viel Aufregung in der Gemeinde und auch Sorgen und Ängste. Inzwischen wird regelmäßig syrisch gekocht und im Ramadan finden gemeinsame Iftar-Feiern statt. Und auf einmal werden religiöse Themen ganz zwanglos miteinander diskutiert und besprochen und erlebt. „Für mich ist die Gemeindeküche ein spiritueller Ort“, sagt Friederike Weltzien.

Auch in anderen Gemeinden ist die Küche zum heimlichen Zentrum geworden. Meine Nachbargemeinde gehört zu den vielen, wo alleinstehende Rentnerinnen zweimal die Woche einen gemeinsamen Mittagstisch haben. Auch da wird reihum gekocht. Und zwischendurch trifft man einander beim Einkaufen, hilft sich auch mal im Alltag, ruft sich an. Leider sind unsere Küchen eher auf Service ausgerichtet und nicht so ausgestattet, dass viele darin arbeiten können – und nicht überall haben solche Gruppen einen Schlüssel zum Gemeindehaus. Das wäre allerdings eine gute Voraussetzung, um nicht mehr nur Gäste zu sein. Ganz wie der Apostel Paulus sagt: “Ihr seid nun nicht mehr Gäste und Fremde, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.“

 

3. Überforderte Kommunen, chancenreiche Quartiere?

„Kleine Leute in der großen Stadt“ hieß eine Aktion des Londoner Künstlers Slimcachu. Er hatte überall in der City kleine Figuren platziert – nicht größer als Playmobil-Figuren. Da rudert einer in einer Pfütze, als müsse er einer Überschwemmung entkommen. Und ein anderer wird gerade mit einer Sicherheitsnadel bedroht. Die meisten übersehen diese Alltagsdramen zu ihren Füßen – genau darum ging es. Hinsehen ist also der erste Schritt.

Zum Beispiel beim Thema Armut. Zwar weist die Arbeitslosenstatistik zurzeit einen guten Stand bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung aus, aber sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze sind vielfach nicht mehr existenzsichernd – zumal, wenn davon nicht nur ein Einzelner, sondern eine Familie ernährt werden soll, wie bei der wachsenden Gruppe Alleinerziehender. Armut aber bedeutet nicht nur fehlende materielle Absicherung, sondern vielfach auch Ausschluss von der gesellschaftlichen Teilhabe. Darum ging es auch Sandra Schlensog, die Jens Spahn aufforderte, doch einmal wie sie selbst eine Weile von Hartz IV zu leben – und sei es nur für vier Wochen. Für ihren Vorschlag bekam sie 21.000 Unterschriften im Netz – sie wurde wahrgenommen. Jens Spahn allerdings sah genau darin einen Hinweis, dass SGB-II-Empfänger sehr wohl in der Lage seien, ihre eigene Teilhabe zu organisieren.

Aber Sandra Schlensog zog Kraft aus der Tatsache, dass sie für Millionen anderer sprach. „Wir reden von Millionen von Ausgeschlossenen, die einen Keil durch unsere Gesellschaft treiben“, schreibt Heinz Bude. „Kinder, die in Verhältnissen aufwachsen, wo es für keinen Zoobesuch, Musikunterricht oder für Fußballschuhe reicht, junge Leute, die sich mit Gelegenheitsjobs zufriedengeben müssen, Minijobber und Hartz-IV-Empfänger, denen es kaum zum Leben reicht. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Überzeugung gewonnen haben, dass es auf sie nicht mehr ankommt.“[1] Dass sie nicht gesehen werden. Es gäbe inzwischen eine Art „heimatlosen Antikapitalismus“ der zum Treiber der rechtspopulistischen Bewegungen werde. Dahinter steht die diffuse Erfahrung, dass die Märkte nicht nur den Wettbewerb um Produkte, Dienstleistungen, Arbeitsplätze antreiben, sondern inzwischen auch auf Lebensbereiche übergreifen, die bislang öffentlich und solidarisch organisiert waren. Es geht um öffentliche Güter. Wo Theater und Schwimmbäder geschlossen und Brunnen abgestellt werden, verschwinden gerade jene Orte, die Raum gaben für ein Miteinander der Menschen in der Öffentlichkeit. Es geht um öffentliche Güter.

Vor einiger Zeit hat Bertelsmann eine Karte der boomenden und schrumpfenden Regionen heraus gegeben – sie zeigt das wachsende Gefälle, das inzwischen nicht nur zwischen gesellschaftlichen Gruppen, sondern auch zwischen Bundesländern und Regionen zu erkennen ist. Sie stehen im Wettbewerb um Wirtschaftskraft und Steuereinnahmen und werden entsprechend unternehmerisch geführt. Die Orientierung an wettbewerblichen Strukturen der Wirtschaft lässt das Verhältnis zwischen Bürgern und Kommunen nicht unberührt. Die soziale Arbeit verliert an Stabilität und Stetigkeit, weil die soziale Arbeit durch regelmäßige Projektvergabe an den günstigsten Anbieter immer nur auf Zeit gegeben ist. Und auch wer einen neuen Personalausweis beantragt, ist jetzt Kunde. Was nach Service und Zuvorkommenheit klingt, verrät möglicherweise, dass die Angesprochenen nicht mehr als politische Subjekte wahrgenommen werden.

Gleichzeitig allerdings entwickelt sich der Wunsch nach Bürgerbeteiligung. Beteiligung ist eine der Voraussetzung für Beheimatung. So entstehen Bürgerkommunen, runde Tische werden gebildet und das Quartier hat Konjunktur. Damit verbindet sich die Hoffnung auf eine neue Kooperation zwischen dem ausblutenden öffentlichen und dem privaten Bereich, zwischen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Trägern sozialer Dienste. Dafür braucht es Netzwerke und runde Tische, Räume der Begegnung und Beratungsdienste; vor allem aber ein neues Denken. In unserer individualisierten Gesellschaft mit all ihren funktionalen Diensten geht es darum, ganzheitlich, vernetzt und feldorientiert zu arbeiten. Dabei lässt sich an den Netzwerken der Bürgerinnen und Bürger anknüpfen – den Begegnungen in Schulen und Wartezimmern, beim Einkaufen oder im Sportverein, in Kitas und Konfirmandenarbeit.

Kirche und Diakonie können entscheidend dazu beitragen. Manchmal müssen wir uns selbst in Erinnerung rufen, welches Sozialkapital Gemeinden mitbringen – an Kontakten, Netzwerken und Beziehungen. Schließlich wohnen die Kirchenvorstandsmitglieder in der Nachbarschaft – das ist anders als in St. Louis, und manche arbeiten sogar noch in der Nähe. Und auch in den Elternräten der Schulen, in den Vorständen der Vereine sitzen Kirchenmitglieder. Dieses Potenzial gilt es zu nutzen. Die kirchlichen Räume und Grundstücke sind dabei eine wesentliche Ressource: Gemeindehäuser können zu Stadtteilzentren werden, in denen runde Tische, interkulturelle Dialoge oder politische Debatten genauso Platz haben wie Beratungsangebote oder Freiwilligenmanagement. Sie können Raum geben für Initiativen oder spontane Hilfe, wie wir es in der so genannten Flüchtlingskrise erlebt haben. In den EKD-Denkschriften und -Orientierungshilfen der letzten Jahre – von „Gerechte Teilhabe“ bis zu „Es ist normal, verschieden zu sein“, ging es immer wieder um die Frage, wie es gelingen kann, die Schranken zu öffnen, die dazu geführt haben, dass der Horizont von Kirchengemeinden immer enger wurde. Es dominiert ein Mittelschichtsmilieu, das sich im Bildungsniveau, Lebensstil und im ganzen Verhalten deutlich gegen andere abgrenzt.

Die Antworten, die gesucht werden, sind nicht immer geeignet, Gemeinschaft und damit vielleicht auch Heimat zu stiften. In einem Aufsatz über Milieus und Kirchenreform hat Franz Grubauer beklagt, dass die Analyse von Gemeindegruppen anhand der Sinus-Milieustudien dazu verführt, zielgruppengerechte Angebote zu schaffen, als sei auch die Kirche ein Unternehmen oder ein Club. Er schreibt: „Die Logik des Marktes beteiligt sich beabsichtigt oder unbeabsichtigt an der kulturellen und ästhetischen und schließlich sozialen Ausdifferenzierung und damit auch an der sich verschärfenden Spaltung der Gesellschaft. Die Milieuforschung selbst beschreibt ja diese Spaltung […].“ Angesichts „wachsende[r] Wohlstandspolarisierung, prekäre[r] Beschäftigungsverhältnisse, Erosion der klassischen Familienverhältnisse und biographische[r] Brüche“ sei das aber die falsche Strategie: „Die theologische Orientierung der Kirche (dagegen) lautet: Zusammenhalt und Integration fördern, Grenzen und Schranken durch die Botschaft überwinden.“

 

4. Caring Communities – Zugehörigkeit gestalten

Die diakonischen Aufbrüche im 19. Jahrhundert gingen vom Quartier aus und führten ins Quartier zurück – mit Wicherns Utopie eines neuen Wohnquartiers in Hamburg-St. Georg genauso wie mit Fliedners Gemeindeschwestern. Dann aber führt die Entwicklung des Sozialstaats über die Anstaltsdiakonie zur fallbezogenen Dienstleistung. Damit verbunden war ein Blick auf die Defizite, der zwischen Hilfebedürftigen und Helfern unterschied und zur Exklusion führte. Bis heute spiegelt sich die Trennung von Kirche und Diakonie in der Trennung der Klientel – auch dann, wenn alle Betroffenen Kirchenmitglieder sind. Die Klienten diakonischer Dienstleistungen fehlen meist in der Gruppengemeinde vor Ort –das gilt für Hartz-4-Empfänger genauso wie für Alleinerziehende oder für Menschen mit Behinderung. „Die Hochbetagten, Dementen und Pflegebedürftigen sind von zunehmender Exklusion betroffen und brauchen Unterstützung, um auch weiterhin Teil der Gemeinde zu bleiben“, sagte kürzlich Prof. Eckart Hammer aus dem Beirat des Projekts „Alter neu gestalten“ in Württemberg.

Mit dem Anspruch „Ich will leben und sterben, wo ich dazu gehöre“, hat Klaus Dörner seit den 70er Jahren gegen diese Exklusion gekämpft. Und damit einen Aufbruch anstoßen, der den Quartiersinitiativen des 19. Jahrhunderts gleicht. Inzwischen haben sich die Einrichtungen der Behindertenhilfe mehr und mehr ambulantisiert und auch die Altenhilfe und Pflege differenzieren sich aus – von der stationären Einrichtung über die Kurzzeit- und Tagespflege bis zum Pflege- und Hauswirtschaftsdienst mit Demenznetzwerk. Heute bringen Angehörige, Nachbarn, Ehrenamtliche und auch die jungen Alten ihre Perspektiven auf gelingendes und selbstbestimmtes Altern ein und verändern die Hilfesysteme. So entstanden die Mehrgenerationenhäuser und Demenz-Wohngemeinschaften und auch die Sorgenden Gemeinschaften im Quartier. Das ist das große Thema des 7. Altenberichts. Zwischen Quartierscafés, Pflegestationen und Kirchengemeinden entwickelt sich der Dritte Sozialraum – nicht an Defiziten orientiert, sondern an Lebensbereichen wie Wohnen, Gesundheit oder Bildung.

Es hat gedauert, bis die Kirchengemeinden auf das Konzept vom dritten Sozialraum und Dörners neue Wertschätzung reagiert haben. Meine Vermutung ist: Die Kirche hatte die hilfe- und pflegebedürftigen Älteren an die Diakonie delegiert – nicht nur aus Gründen der Professionalität, sondern auch aus Refinanzierungsgründen – und sie damit oft exkludiert. Und mit ihnen die pflegenden Angehörigen. Die auf eigenes Einkommen und Karriere verzichten. Sie verschwinden einfach aus dem Kollegen- und Freundeskreis, haben keine Zeit und kein Geld mehr für Einkaufsbummel und Geburtstagsbesuch und werden vergessen. Auch von den Gemeinden.

Mir fällt auf, dass sich noch immer Menschen nach der alten Gemeindeschwester zurücksehnen. Pflege ist heute Teil des Gesundheitssystems – abhängig nicht nur von den fachlichen, sondern auch von den ökonomischen Standards, die dort gesetzt werden. Auf der Rückseite dieser Entwicklung traten diejenigen Aspekte der Gemeindeschwesternarbeit, die eher Sozialarbeit waren oder auch Beratungscharakter oder Seelsorgecharakter hatten, in den Hintergrund. Wenn wir heute von Quartierspflege reden, geht es darum, diesen Teil der alten Rolle in neuen Netzwerken wieder zu gewinnen. Die Rückbindung der Gemeindeschwester ans Mutterhaus kann ein Vorbild sein für den Brückenschlag zwischen Gemeinden und diakonischen Dienstleistern. Wenn in und mit Kirchengemeinden Caring Communities entstehen sollen, dann brauchen sie Sorgestrukturen: Ehrenamtliche brauchen Hauptamtliche, auf die sie sich stützen können.

Gemeinwesendiakonie zielt auf den dritten Sozialraum. Der indische Theoretiker Homi Bhabha hat das Konzept des „dritten Ortes“ entworfen, eines Ortes, der keiner Gruppe eindeutig zuzuschreiben ist, an dem sich die Verschiedenen ohne Hierarchisierung begegnen und ihre Anliegen aushandeln können. Dritte Orte sind leicht zugänglich und offen; die Teilnahme kostet nichts. Gemeindehäuser können zu dritten Orten werden, wenn sie den frei gewordenen Raum mit anderen Gruppen im Quartier teilen – mit Sportvereinen, einem diakonischen Dienst oder einer Beratungsstelle. Mittagstische und Quartierscafés entstehen und das signalisiert: Hier ist jeder willkommen. In Gelsenkirchen, in Bochum und an anderen Stellen haben Kirchengemeinden Bürgervereinen gegründet, die die neuen Zentren tragen. Dazu muss die Kirche sich neu entdecken: als Plattform für Teilhabeprozesse, als Lebensmittelpunkt, als Ermöglicherin, als Herberge auf dem Weg.

Es muss aber nicht das Gemeindezentrum sein. Die Nachbarschaftsläden mitten im Wohnquartier ziehen Menschen an, weil sie beiläufig sind – fußläufig, niedrigschwellig. So wie der Wickrather Gemeindeladen – ursprünglich ein Tante-Emma-Laden in der Fußgängerzone und ein Kooperationsprojekt mit der Diakonie. Wer eintrat, muss nicht schon bekannt sein, aber er kann andere kennenlernen – im Café, in einem Kurs,– kann Hilfe bekommen oder mithelfen von der Kleiderkammer bis zum Familiennachmittag. Die Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie an solchen „dritten Orten“ eröffnet die Möglichkeit, die Mauer zwischen den verschiedenen „Welten“ einzureißen. Zwischen Steuerzahlern und Transferempfängern. Den Einheimischen und den Zugezogenen. Denen, die dazugehören und denen, die um Respekt ringen. Dabei kann die Diakonie, die ja geradezu Spezialistin für die „anderen“ ist, Brückenbauer und Türöffner.

 

5. Gemeinschaft (er)leben: Powervolle Netzwerke

Die ersten Kapitel der Apostelgeschichte erzählen idealtypisch, wie die Gemeinde Schranken überwindet. Die Gemeinde als Caring Community teilt und organisiert Teilhabe. Armut ist kein Hindernis am Tisch des Herrn und Menschen mit Behinderung werden genauso einbezogen wie Migrantinnen und Migranten. Aber das Ideal hat Risse; auch damals wurden Menschen übersehen. Apg. 6 erzählt von den griechischen Witwen. Frauen, Migrantinnen, ohne eigenes Eigentum. Sie sitzen ganz unten an der Tafel, sie müssen von dem leben, was dort ankommt. Der entscheidende Schritt : Die griechischen Männer machen die Versorgung der Witwen zu ihrer Sache. Die Apostelgeschichte erzählt, welche Kräfte frei werden, wenn Menschen bereit sind, für andere einzutreten, wenn Menschen, die am Rande stehen, integriert werden. Die griechischen Diakone, die damals berufen werden, werden Teil der Gemeindeleitung und beginnen, das Evangelium in ihrer eigenen Sprache zu predigen. Die Gemeinde öffnet sich und sie wächst.

Die Sportvereine, die sich für Migranten geöffnet haben, die Elternvertreter in den Inklusionsklassen, die Großeltern, deren Enkel weit weg wohnen, die konfessionsverbindenden und die bikulturellen Familien – sie alle sind längst daran interessiert, Trennungen zu überwinden und Gemeinschaft zu gestalten. Viele engagieren sich als Leihomas, als Pflegebegleiter oder Jobpaten. Und dabei spielen die sogenannten „jungen Alten“ eine besondere Rolle. Sie sind häufig lange am Ort, sozial und oft auch politisch engagiert, bringen breite Lebenserfahrungen und soziale Netze ein und sind damit Teil einer neuen, generationenübergreifenden und gemeinwohlorientierten Bewegung. Engagierte zwischen sechzig und 69 tragen viele neue Projekte vom Mentoring über die Tafeln bis zu den Wohngemeinschaften. Sie fahren die Bürgerbusse, arbeiten in den Dorfläden mit und sind die Initiatoren der Sorgenden Gemeinschaften. Diese Power-Ager gehören zu den stärksten Potenzialen der Kirche. Angesichts schrumpfender öffentlicher Etats wird das ehrenamtliche Engagement dieser Generation zu einer entscheidenden Ressource des schrumpfenden Sozialstaats.

Manche fürchten nicht zu Unrecht, dass sie zum billigen Jakob werden. Tatsächlich gibt es längst eine Grauzone zwischen dem klassischen Ehrenamt und prekären Beschäftigungsverhältnissen mit Übungsleiterpauschale, Bürgerarbeit und Minijobs. Auch in der Nachbarschaftshilfe arbeiten Rentnerinnen und Rentner auf dieser Basis mit. Viele von ihnen könnten es sich nicht leisten, nur für Ehre und Anerkennung zu arbeiten. Andererseits steckt eine große Chance darin, wenn Menschen sich über ein Ehrenamt eigene Netzwerke aufbauen, neue Kompetenzen entwickeln und letztlich an Selbstachtung gewinnen. Was ist nötig an finanziellem Einsatz, aber auch an hauptamtlicher Unterstützung, um Menschen zum Engagement zu ermutigen? Auch die, die sich bisher als Hilfeempfänger verstanden haben? Was lässt sich lernen von anderen Trägern?

Community Organising zeigt, wie es geht: Zuhören und Raum für Selbstorganisation geben – tatsächlichen und ideellen Raum: Ehrenamtliche fördern, Projekte professionell unterstützen und auch Mittel zur Verfügung stellen. Dabei kann es durchaus darum gehen, Projekte zu fördern, deren Mittelpunkt nicht die Kirche ist – sondern vielleicht ein Familienzentrum, eine Schule oder auch ganz einfach eine Fußgängerbrücke. In Saarbrücken wurde das Bürgerengagement gegen den Abriss einer Fußgängerzone zum Kristallisationspunkt des Quartiers. Es geht um die Entwicklung eines neuen, quartiersbezogenen und inklusiven Selbstverständnisses der Kirche. Oder ist das alles in der Parochie schon angelegt?

Nicht alle, die sich heute in Sorgenden Gemeinschaften oder bei der Integration von Flüchtlingen engagieren, sind Kirchenmitglieder. Häufig hatten sie sich schon lange der Kirche entfremdet oder gehörten ohnehin nie dazu. Wenn man aber die Einsicht ernst nimmt, dass Glaube immer nur prozessual geschieht und dass Areligiosität auch unter Kirchenmitgliedern vorhanden ist, dann bietet das Engagement eine große Chance, auch über Glaubensfragen ins Gespräch zu kommen. Die jüngste KMU zeigt: immerhin zweiundzwanzig Prozent der ehrenamtlich Engagierten geben an, dass sie mit anderen über religiöse Fragen sprechen. Bei den Nichtengagierten sind es weniger als 10 Prozent. Engagement bietet Chancen auch für die Gemeindeentwicklung – unter einer Voraussetzung: Es sind Menschen nötig, die offenen Augen, Ohren und Herzen haben und die Suche der anderen wahrnehmen.

 

6. Unterwegs in die neue Stadt

Es geht darum, Räume zu schaffen, in denen Resonanzerfahrungen möglich sind. Orte entstehen zu lassen, an denen jeder gefragt und mit seinen Gaben gebraucht wird. Haltepunkte im Quartier, wo man Orientierung findet. Es geht darum, die Stadtlandschaft so zu gestalten, dass Raum für das „Wir“ ist. Kirchengemeinden sind dazu prädestiniert. Eine große Zahl an erfolgreichen Projekten ganz unterschiedlicher Größenordnung zeigt, was es bedeutet, Problemanzeigen aufzugreifen und etwas in Bewegung zu setzen. Ein Blick auf die Website von „Kirche findet Stadt“ genügt.

Kürzlich habe ich einen „City-Guide für kurze Auszeiten und überraschende Begegnungen“ entdeckt. Die Autorin erinnert daran, dass wir „die Einheit und Ganzheit des Lebens nicht nur auf dem Meditationskissen erleben können, sondern auf den Straßen der Stadt“ – in der Begegnung mit Obdachlosen, beim Besuch der Wohngemeinschaft von Menschen mit und ohne Behinderung, beim Deutschkurs in der Flüchtlingsunterkunft. Sie erzählt von den spirituellen Erfahrungen eines Notarztes und von der Rückkehr der Gärten in die Stadt, von einer Kirche, die in der Woche vor Ostern zu meditativen Konzerten einlädt. Während ich das inspirierende Buch las, dachte ich zurück an die Kleinstadtgemeinde, in der ich die Menschen hinter vielen Fenstern kannte. Familien, in denen seit Jahren jemand gepflegt wurde, Kinder, die in Armut aufwuchsen, die Frau, die mit einem Sikh verheiratet war und nun den Vater an der Taufe beteiligen wollte; der Mann, der zum Islam konvertiert war und vor 30 Jahren für den ersten Islamkurs im Gemeindeladen sorgte. Menschen aus der Nachbarschaft – nach und nach kamen sie in unserem Kirchenladen, engagierten sich für das Quartier.

Die neue Stadt Gottes braucht keinen Tempel mehr, erzählt die Offenbarung. In der Mitte stehen keine Geldtürme, aber auch keine Kirchtürme; in der Mitte steht das Lamm mit seinen Verwundungen und dem Siegeszeichen. Hier waren die Opfer nicht umsonst, Tränen werden abgewischt, Schmerzen gestillt, blutige Kleider ausgewaschen, das beschädigte Leben beginnt neu. Wir sehen die Völker von Osten und Westen, von Norden und Süden durch alle Zeiten zu dieser Stadt pilgern. Das neue Jerusalem ist ein Versprechen, eine Herausforderung und eine Einladung, sich jetzt schon einzulassen auf das neue Leben, indem wir dafür sorgen, dass unsere irdischen Städte etwas vom Glanz der himmlischen spiegeln. „Auch wenn wir noch auf den neuen Himmel und die neue Erde warten – lasst uns anfangen, die neue Stadt zu bauen, die Stadt von Frieden und Gerechtigkeit“, (Anthony Pilla Bischof von Cleveland, in einer Rede über die Kirche in der Stadt.)

Angesichts des Verlustes an Gemeingütern und Zusammenhalt ist Kirche wieder gefragt. In meiner Nachbargemeinde in Berenbostel brannte die Willehadi-Kirche ab – ein 70er Jahre Gemeindehaus in einem sozialen Brennpunkt. Brandstiftung – der Täter wurde nie gefunden. Aber viele hatten die Jugendbanden im Blick, die schon lange Feuer gelegt hatten. Aber die Gemeinde hielt stand und ließ sich nicht beirren von all dem Hass. Vor drei Jahren wurde das neue Gemeindezentrum eingeweiht – und während der Bauphase hielt man Gottesdienste in der Scheune oder im Einkaufszentren, in der Sporthalle oder im Altenzentrum, Konfirmandenarbeit fand in der Schule statt, Arbeitsgruppen im Rathaus, Elternabende beim Griechen –es war gut, da zu sein, wo die Menschen auch sonst sind. Wir müssen nicht immer Gastgeber sein – manchmal ist es auch gut, einfach Gast zu sein oder die anderen zu bedienen, heißt es in den Grundsätzen zur Gemeinwesendiakonie. Mehr denn je ist das Gemeindehaus in Berenbostel heute Teil der Nachbarschaft; und das alte Kruzifix hängt an einem Mauerstück aus Steinen der alten Kirche – aber noch immer nutzt die Gemeinde auch ganz andere, inzwischen vertraute Orte im Quartier.

Alles beginnt damit, dass wir unsere Stadt mit den Augen der anderen sehen. Eine New Yorker Journalistin hat das getan. Ein ganzes Jahr lang hat sie jede Woche einen Stadtspaziergang mit einer fremden Person gemacht. Sie war unterwegs mit einer älteren Dame mit Rollator, mit einem Architekten und mit einem zweijährigen Kind. Sie hat einen Blinden begleitet und einen Arzt, der ihren Blick für die Entgegenkommenden schärfte. Wäre das nicht ein inspirierender Anfang?

 

Cornelia Coenen-Marx, Hamburg 2018

[1] Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München, Hanser, 2008.