„Pflegeentwicklung in Quartier, Gemeinde und Nachbarschaft“

1. Das Diakonissendenkmal: Zurück zum Quartier

Auf dem Marktplatz vor der Kirche in Rotenburg/Fulda steht das Bronzedenkmal einer Frau in Tracht mit einem Korb und Dackel an der Leine. Eingeweihte erkennen die alte Gemeindeschwester in Diakonissentracht. Sie erinnern sich an das blauweiße Pünktchen-Kleid und die gefältete Haube? Als ich das sympathische Denkmal entdeckte, war ich so fasziniert, dass ich ein Foto auf Facebook postete – und ich wurde belohnt: Freunde aus Hessen erzählten, warum die Bürger von Rotenburg Schwester Margarete das Denkmal gesetzt hatten. Die Kasseler Diakonisse, die damals Gemeindeschwester in Rotenburg war, hatte nicht nur für die Kranken und Alten, die Kinder und Sterbenden in der Stadt gesorgt. Sie hatte sich auch um die Stadt selbst verdient gemacht. 1945, in den letzten Kriegstagen, hatte sie auf dem Kirchturm die weiße Fahne gehisst. Frieden für die Stadt, ein gutes Miteinander für ihre Menschen.

Als ich das Foto machte, feierte die Diakoniestation gerade Jubiläum – und natürlich trug keine der Mitarbeiterinnen mehr Tracht und Haube. Aber das Bild der Diakonisse hat seine Attraktivität nicht verloren – im Gegenteil. Noch immer sehnen sich viele zurück nach diesen Frauen, die Pflegende und Sozialarbeiterinnen, Netzwerkerinnen und Seelsorgerinnen in einer Person waren. Sie waren Quartiermanagerinnen, lange bevor der Name erfunden wurde – und zugleich das lebendige Zeichen einer diakonischen Kirche.

Als ich in den 1980er Jahren Gemeindepfarrerin in Mönchengladbach war, erinnerte man sich noch gern an Schwester Johanna. Die hatte nach dem Krieg den vielen Flüchtlingsfrauen aus Ostpreußen und Schlesien geholfen, sich zu integrieren: mit Suppenküche, Kindergarten und Nähstube – und schließlich mit dem Neuaufbau unseres Gemeindesaals. Alles für ein Taschengeld – und vermutlich ohne eigene Freizeit. Aber natürlich nicht allein – denn wie viele Gemeindeschwestern hatte sie ein ausgeklügeltes System ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen aufgebaut – eine sorgende Gemeinschaft. Meine damals alt gewordenen Frauenhilfsfrauen, die Bezirksfrauen in den Nachbarschaften und die Gruppenleiterinnen waren immer zur Stelle, wenn Hilfe gebraucht wurde. Und wenn sie die Kinder oder die Alten einluden zu einem Ausflug, einem Fest, dann platzte der Saal aus allen Nähten.

In diesen 1980 er Jahren wurde Schwester Meta, die damalige Gemeindeschwester, Teil des Teams der neuen Diakoniestation. Seitdem habe ich viele grundlegende Veränderungen in diesem Feld miterlebt und zum Teil mitgestalten dürfen. Ich war Leiterin der Abteilung Sozialwesen im Diakonischen Werk Rheinland, als die Pflegeversicherung aufgebaut wurde und später Theologischer Vorstand und Vorsteherin der Schwesternschaft in der Kaiserswerther Diakonie, wo die Geschichte der Gemeindepflege von Beginn an in Bildern und Dokumenten präsent ist wie an kaum einem anderen Ort.

 

2. Von der Gemeindeschwester zum Versorgungsnetzwerk

Als Kaiserswerth gegründet wurde, in der Zeit der Industrialisierung, brachen für viele Menschen die sozialen Zusammenhänge, die sie getragen hatten, zusammen. Die Schattenseite der neuen Produktivität, des Anwachsens der Städte und des steigenden Wohlstandes waren Arbeitslosigkeit und Armut, Wohnungsnot und in der Folge oft Probleme mit Alkohol und Kriminalität, allein gelassene und verwahrloste Kinder und Kranke. Theodor Fliedner und seine Ehefrau Friederike versuchten ähnlich wie Johann Hinrich Wichern in Hamburg auf die Herausforderungen zu antworten. In Kaiserswerth wurden Frauen aus allen Schichten zu Krankenpflegerinnen oder Erzieherinnen und Lehrerinnen ausgebildet. Das Prinzip bestand darin, den Menschen eine Gemeinschaft zu bieten, in der sie Halt und Orientierung fanden – nicht zuletzt dadurch, dass sie eine Aufgabe und eine Ausbildung bekamen und selbst für andere tätig werden konnten.

Was ich hier als Bild der „klassischen“ Gemeindeschwester gezeichnet habe, erscheint den meisten Menschen heute nicht mehr zeitgemäß, angefangen vom Leben in einer christlichen Gemeinschaft bis hin zu der Tatsache, dass die Diakonissen unter ihnen nur ein Taschengeld bekamen. Dennoch gibt es einiges daran, das auch für uns heute eine Inspiration sein kann. Denn auch in den heutigen Städten und Gemeinden, in denen die Menschen im Durchschnitt deutlich wohlhabender sind als zu Zeiten von Wichern oder der Fliedners, in denen Müllabfuhr, fließendes Wasser und Zentralheizungen selbstverständlich sind, gibt es erhebliche soziale Herausforderungen. Auch heute sind viele Menschen haltlos aus den verschiedensten Gründen, viele aus der jungen Generation, darunter gerade die Alleinerziehenden, sind überfordert, neben der Arbeit noch Kinder und alte Eltern zu versorgen, das Miteinander zwischen Menschen verschiedener Kulturen stellt vor Herausforderungen, viele alte Menschen sind einsam und mit dem täglichen Alltag überfordert. Hier werden Menschen gebraucht und es werden Plattformen gebraucht, um zu helfen, aber auch um Netzwerke herzustellen, damit Bürgerinnen und Bürger einander gegenseitig helfen können – das erklärt den neuen Aufbruch in Richtung „Sorgende Gemeinschaften“.

Diakoniestationen leisten einen wichtigen Beitrag dazu, dass Menschen in ihrer Wohnung, in ihrem angestammten Quartier bleiben können. Aber jeder weiß: die wenigen kurzen Besuche genügen nicht. Viele gehen am Ende in eine stationäre Einrichtung, weil sie ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen; sich selbst nicht mehr versorgen und mit ihren chronischen Erkrankungen nicht mehr richtig umgehen können oder weil sie ihre knappen Finanzen nicht mehr übersehen, mit Anträgen überfordert sind. Diese „Lösung“ ist extrem teuer, nicht nur für die Betroffenen selbst sondern auch für die Kommunen.

Wenn wir wollen, dass wir alle auch im Alter möglichst lange in unserem Umfeld bleiben können, dann braucht es gute Pflegeberatungsangebote. Außerdem Angebote mit Pools von Haushaltshilfen und anderen Dienstleistern, aber auch Ehrenamtlichen in der Nachbarschaft. Dann muss die selbstverständliche Zusammenarbeit und der Übergang zwischen ambulanter Pflege, Betreutem Wohnen, Tagespflege und Kurzzeitpflege bis hin zu stationären Angeboten, Rehazentren und geriatrischen Stationen im Sinne einer integrierten Versorgung entwickelt werden. Dabei ist klar: Was hier zu tun ist, reicht weit hinein in die Gesundheits- und Sozialpolitik. Eine quartiersbezogene Finanzierungskomponente, eine regelhafte Planung sowie Angebote der Beratung stehen in Altenhilfe und Pflegeversicherung genauso an wie zuvor in der Jugendhilfe und der Behindertenhilfe. Anders als dort geht es hier allerdings um die Schnittstellen zwischen dem Bundes-System der Sozialversicherungen und der Planung für Einrichtungen und Wohnquartiere in den Kommunen wie bei überörtlichen Trägern.

Notwendig ist zudem eine tragfähige Infrastruktur vor Ort mit der notwendigen Versorgung, öffentlichem Nahverkehr und Räumen der Begegnung, aber auch: eine aktive Bürgerschaft und die Beteiligung von Zugehörigen und Nachbarn. Das erinnert in manchem an die sorgenden Gemeinschaften des 19. Jahrhunderts: damals gingen die neu gegründeten Mutter- oder Brüderhäuser in die Kirchengemeinden, um gemeinsam neue Initiativen zu starten und Menschen, denen man bis dahin nicht viel zutraute, bekamen eine neuen Aufgabe. Aber natürlich hatte diese Entwicklung auch ihre Schattenseiten – und wenn wir die übersehen, kann der neue Aufbruch nicht gelingen.

 

3. Problemanzeigen: Vor der Behandlung die Diagnose

Eine gute Behandlung setzt die richtige Diagnose voraus. Woran liegt es aber, dass der Grundsatz „ambulant vor stationär“ zwar so alt ist wie die Pflegeversicherung, dass aber die Umsetzung so schwerfällt? Und wie kommt es, dass sich noch immer Menschen nach der alten Gemeindeschwester zurücksehnen? Es gibt inzwischen Gemeinden, die neue Modelle einer professionellen, nebenamtlichen diakonischen Mitarbeiterin, einer Gemeindeschwester neuer Form, entwickelt haben. In der Wittener Schwesternschaft gibt es dafür inzwischen eine Weiterbildung. Die Anstellung durch eine Kirchengemeinde erfolgt allerdings oft im Rahmen eines 450 Euro Jobs. Die 25 Frauen, die dort inzwischen ausgebildet worden, nehmen vielfältige Aufgaben der offenen Altenarbeit, Familienhilfe, Pflegebegleitung und Prävention wahr.

Im letzten FWS wurde zum ersten Mal die informelle, außerfamiliale Unterstützung in Freundschaft und Nachbarschaft abgefragt, soweit sie eben unentgeltlich und außerhalb beruflicher Tätigkeiten erfolgt. Es ging also nicht um gering bezahlte „Jobs“ in der Pflege – auch wenn der Übergang manchmal unscharf und der gesellschaftliche Druck gerade hier immens ist. Immerhin 25 Prozent der Befragten engagieren selbstorganisiert, spontan oder über längere Zeit sich in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten oder Kinderbetreuung – und es sind, bis auf die Unterstützung Pflegebedürftiger, mehr Männer als Frauen und eher Jüngere als Ältere. In der Befragung wird deutlich: die wechselseitigen Unterstützungsleistungen verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten. Die so entstandenen Kontakte zu unterstützen und in den Nachbarschaften Netzwerke zu bilden, gehört auch zu den Aufgaben der Diakonissen neuer Form – wie zu denen von Quartiersmanagern oder Sozialpädagogen in ambulanten Pflegediensten. Dennoch sind alle diese Dienste bislang ökonomisch schlecht abgesichert und häufig auf Zeit konzipiert.

Bleibt die Verknüpfung von Pflege und Quartier also ein Traum? Seit Einführung der Pflegeversicherung ist der Trend zur stationären Pflege kaum abgemildert. Der prozentuale Anteil der Pflegebedürftigen in Heimen ist nur geringfügig gesunken; die absoluten Zahlen steigen ohnehin. Dahinter steht ein gesellschaftlicher Wandel, der mit dem demographischen einhergeht: Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen, die wachsende berufliche Mobilität und geringere Kinderzahlen haben die familiären Netze fragiler gemacht. Und die wachsende Zahl von Single– und kinderlosen Paarhaushalten lässt erwarten, dass der Bedarf an professionellem Dienstleistungen in der Pflege weiter steigt.

Unsere Gesellschaft ist eine Erwerbsgesellschaft – Aufstiegschancen, Armutsvermeidung und Konsummöglichkeiten wie eben auch die soziale Sicherung – insbesondere in der Rente – hängen von der Erwerbstätigkeit ab. Angesichts des tiefgreifenden Strukturwandels am Arbeitsmarkt und in der Familie sprach schon der Siebte Familienbericht über das „erhebliche Defizit an Fürsorge/Care“. Dabei werden noch immer zwei Drittel der Pflegebedürftigen oder 1.5 Mio. Menschen in Deutschland von Angehörigen gepflegt. Die Schwiegertöchter, die die kranke Mutter über Jahre pflegen, die Männer, die ihre Frauen pflegen – sie verzichten auf eigenes Einkommen und Karriere und werden oft nicht einmal gesehen. Sie verschwinden einfach aus dem Kollegen- und Freundeskreis, haben keine Zeit und kein Geld mehr für Einkaufsbummel und Geburtstagsbesuche, für Urlaub oder den Friseur. Neun Jahre dauert die häusliche Pflege im Durchschnitt. Und damit steigt das Armutsrisiko erheblich. Im Vorfeld der jetzigen Tarifauseinandersetzungen hat die IG Metall ihre Mitglieder zu diesem Thema befragt. Da zeigte sich: 84 Prozent der Befragten fordern eine finanzielle Unterstützung für diejenigen, die wegen Kindererziehung oder der Pflege von Angehörigen ihre Arbeitszeit reduzieren müssen.

Mit dem längeren Verbleib im Erwerbsleben und der steigenden Zahl pflegebedürftiger Hochaltriger stehen immer mehr Menschen vor der Herausforderung, Berufs- und Sorgetätigkeiten vereinbaren zu müssen. Das Vereinbarkeitsproblem, das wir meist im Kontext von Erziehungsaufgaben der 20-40-jährigen Eltern denken, gilt inzwischen für die Altersgruppe der 40- bis 65-jährigen Frauen , wenn es um die Betreuung der Enkel, die Unterstützung der betagten Eltern oder um häusliche Pflege geht. Unter den Bedingungen einer Erwerbsgesellschaft ist klar: Ohne eine gute Infrastruktur und bezahlbare Dienstleistungen, ohne öffentliche Unterstützung wie Vereinbarkeitsregeln in der Wirtschaft ist die Pflege Angehöriger nicht zu leisten. Dabei genügt es nicht, auf freiwillige Vereinbarungen zu setzen. Pflegende Angehörige brauchen Rechtssicherheit.

Es geht um eine neue Anerkennung der Care- und Fürsorgearbeit – in der Familie wie im Beruf. Mit dem Professionalisierungsschub, der die alte Rolle der generalistischen Gemeindeschwester zur Pflegekraft vorantrieb, wurde Pflege Teil des Gesundheitssystems. Sie ist abhängig nicht nur von den fachlichen, sondern auch von den ökonomischen Standards, die dort gesetzt werden. Klar festgelegte Zeiten für die einzelnen Leistungen, oftmals lange Wege, Nachweise und Controlling setzen die Mitarbeiterinnen in Sozialstationen genauso unter Druck wie die Fachkräfte in Krankenhäusern oder Altenhilfeeinrichtungen.

Auf der Rückseite traten diejenigen Aspekte der Gemeindeschwesternarbeit, die eher Sozialarbeit waren oder auch Beratungscharakter oder Seelsorgecharakter hatten, in den Hintergrund. Wenn wir von Quartierspflege reden, geht es also darum, diese Aspekte in neuen Netzwerken wieder zu gewinnen. Die ambulante Palliativversorgung zeigt die Richtung – da finden sich gemischte Teams von Pflegenden, Psychologinnen, Sozialarbeitern, die mit Hausärzten und Kliniken, mit Seelsorgerinnen und Ehrenamtlichen zusammenarbeiten – allerdings im System der Krankenkassen und mit Wahrnehmung auch der spirituellen Dimension von Pflege. Von einer ähnlichen Integration von ambulantem und stationären System, unterschiedlicher Versicherungsleistungen wie auch der Seelsorge sind wir in der Pflegeversicherung noch weit entfernt.

Die Probleme sind drängend. Pflege ist unterfinanziert und leidet unter erheblichem Fachkräftemangel. „Wir haben jetzt schon einen Notstand – aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was kommt“, sagt der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird in den kommenden 30 Jahren von rund drei Millionen auf fünf Millionen Menschen steigen. Ausgehend vom heutigen Verhältnis der in der Pflege Beschäftigten zu den Pflegebedürftigen tut sich bis zum Jahr 2030 eine Lücke von 350.000 Vollzeitstellen auf.

Umso beeindruckender ist es, was Pflegekräfte leisten, sowohl in rein fachlicher Hinsicht als auch darüber hinaus im Sinne der Zuwendung und Menschlichkeit. Dass sie dafür im Verhältnis schlecht bezahlt werden – Heinz Bude spricht inzwischen von dem neuen Dienstleistungsproletariat – hat nicht nur mit einem durch demografischen Wandel und medizinischen Fortschritt überforderten Gesundheitssystem zu tun, sondern auch mit dem unguten Erbe, dass Pflege – ebenso wie die Erziehung – traditionell die Aufgabe von Frauen war. An der Wurzel der Pflegegeschichte in der Diakonie steht die Überzeugung, dass die Erziehungs-und Pflegeberufe eine Art Ersatz für die Arbeit der Ehefrau in der Familie sind. Damit schließt sich der Kreis.

Die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland, insbesondere die Pflegeversicherung, sind im Blick auf eine männliche Vollzeiterwerbstätigkeit und weibliche, private Sorge hin kalkuliert. Diese Vorstellung ist an eine Grenze gekommen. Die Forderung der IG -Metall, die Möglichkeit zur Reduktion der Arbeitszeit mit Lohnausgleich zu kombinieren, zeigt: unser Verständnis von Arbeit ist im Wandel. Sorgearbeit in der Familie wie in der Zivilgesellschaft muss als Arbeit anerkannt werden – mit Konsequenzen in der Rente und anderen Versicherungssystemen.

Das allerdings muss über kurz oder lang zu steigenden Beitragssätzen in der Pflegeversicherung führen – zumal es nach der Einführung der integrativen Ausbildung – oder den ersten Schritten in diese Richtung – auf Dauer nicht möglich sein wird, Altenpflege und Krankenpflege unterschiedlich zu bezahlen. Allein die Anhebung der Entgelte von Pflegenden in der Altenhilfe auf das Niveau der Kliniken würde aber bereits jetzt einen halben Prozentpunkt ausmachen. Weil die Pflege aber nur eine Teilversicherung ist, treffen die Kostensteigerungen allerdings nicht alle in gleicher Weise. Sie betreffen zwar alle Beitragszahler, vor allem aber die Pflegebedürftigen selbst, ihre Angehörigen und die Kommunen, die die Hilfe zur Pflege zahlen. Die Zahl der Menschen, die Hilfe zur Pflege beantragen mussten, steigt deshalb bei steigenden Beiträgen ebenfalls kontinuierlich. Dabei war Armutsvermeidung und Unabhängigkeit von der Sozialhilfe einst das Motiv zur Gründung der Pflegeversicherung. Anders als die Krankenversicherung war die Pflege bewusst als „Teilkasko-Versicherung“ geplant – als Kombination von familiärer, privater Eigenleistung mit Geld- und Sachleistungen aus Versicherung und Kommunen. Und das bedeutet unter heutigen Gesichtspunkten: als Kombination von Familie und Pflegemarkt, die viele nicht nur finanziell überfordert, sondern auch allein lässt.

 

4. Alte Muster verlassen: Wie Pflege Zukunft hat

Angesichts des demographischen Wandels und der Veränderung von Familien und Arbeitswelt müssen wir neu über die Lastenverteilung in Erziehung, Pflege und Rente nachdenken. Das gilt für das Miteinander zwischen den Geschlechtern und in den Familien, es gilt aber auch gesamtgesellschaftlich. Und es betrifft auch die Balance zwischen privater Sorge und Erwerbsarbeit.

Die Frage nach der Versorgung im Alter steht im Sorgenbarometer der Bürgerinnen und Bürger ganz oben. Und bei den Jüngeren nimmt das Vertrauen in die Stabilität und Nachhaltigkeit der Sozialen Sicherungssysteme ab. Die pflegenden Töchter und Schwiegertöchter sind heute im Schnitt 55 Jahre. Und wer wird die Kinderlosen pflegen, die in der Generation der Babyboomer immerhin 30 Prozent ausmachen?

Das Berlin-Institut für Bevölkerungsentwicklung hat bereits 2010 eine Prognose veröffentlicht, nach der die Pflegesituation zur Jahrhundertmitte nicht mehr durch stationäre Einrichtungen aufzufangen sein wird – selbst dann nicht, wenn die fehlenden Pflegekräfte importiert werden könnten, wie es jetzt schon im Graubereich der häuslichen Pflege geschieht. Denn auch in den Gesellschaften Osteuropas wächst die Zahl der pflegebedürftigen Älteren und Demenzerkrankten – und sie wächst sogar, wie in allen weniger entwickelten Ländern, noch schneller als bei uns.

Die Fragen der Generationensolidarität, die Zukunft der Pflege und die Sorge um ein Sterben in Würde gehören deshalb ganz oben auf der politischen Agenda. Der hohe Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die den assistierten Suizid befürworten, zeigt in aller Schärfe die Herausforderung: Die Befragten bezweifeln, dass für sie gesorgt sein wird, wenn sie allein nicht mehr zurechtkommen. Das Sterben in Pflegeheimen oder im Krankenhaus ist für viele zum Schreckgespenst geworden – nach einer aktuellen Umfrage wünschen sich weniger als 10 Prozent einen Aufenthalt in einer stationären Einrichtung dabei sterben 80 Prozent dort.

Nicht zufällig ist also der Begriff der „Sorgenden Gemeinschaften“ populär geworden. In unserer Gesellschaft, die stark geprägt ist vom Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstoptierung, angesichts der Vermarktlichung des Sozial- und Gesundheitssystems, in dem Zugänge zunehmend über Geld und Wissen gesteuert werden, geht es um ein Gegengewicht: um wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung.

Viele spüren inzwischen deutlich: Wir müssen die alten Muster verlassen, die Pfade wechseln und umdenken. Es darf nicht länger sein, dass im Familienministerium Pflegezeitmodelle diskutiert werden, im Gesundheitsministerium ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff, neue Pflegeschlüssel und Abrechnungsmodalitäten entwickelt werden und im Finanzministerium über die private Zusatzversicherung nachgedacht wird. So gut es ist, wenn die soziale Landschaft sich bunt und vielfältig entwickelt – die verschiedenen Systeme müssen ineinanderpassen. Eine realistische Stärkung der ambulanten Dienste, eine quartiersnahe Versorgung, eine viel bessere Vernetzung von privater und professioneller Sorge, von Pflege und Reha, braucht eine Verzahnung von Familien-, Gesundheits- und Sozialversicherungspolitik im Sinne einer neuen, geschlechter- und generationengerechten Sozialkultur. Dabei geht es auch um neue Schwerpunkte zwischen hochtechnisierter Medizin und pflegerischer Versorgung. In Zukunft muss aber der Pflegebegriff noch deutlicher so gestaltet werden, dass er auf den Grad der verbliebenen Selbstständigkeit ausgerichtet ist. Anders als in der Eingliederungshilfe umfasst der Pflegebedürftigkeitsbegriff das Ziel der Befähigung zur Teilhabe an der Gesellschaft bislang nicht – geschweige denn Budgets, die eine Gesamtverantwortung ermöglichen.

 

5. Teilhabe stärken – Sorgende Gemeinschaften bilden

Kann es gelingen, die professionelle Pflege wieder neu in Sorgende Gemeinschaften einzubringen – oder bleibt das ein Traum? Angesicht der knappen Ressourcen ist klar: das Team der Pflegekräfte ist auf die Zusammenarbeit mit Beratungseinrichtungen und anderen Berufsgruppen in der Quartiersarbeit angewiesen. Und es geht darum, professionelle Dienste und lebenspraktische Hilfen zu verschränken.

Tatsächlich erhalten Ältere, wenn sie hilfsbedürftig werden, vielfältige praktische Hilfe von Angehörigen – von Einkauf, Behördengängen und Arztbesuchen und Instandhaltung der Wohnung bis hin zur Pflege. Aber die Wohnentfernung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern hat in den letzten Jahren ständig zugenommen. Der letzte Alterssurvey zeigt: Nur noch ein Viertel der Befragten geben an, dass ihre erwachsenen Kinder noch am selben Ort wohnen und bei einem weiteren Viertel sind die Wohnungen mehr als zwei Stunden voneinander entfernt. An der Verbundenheit hat das zwar nichts geändert. Immer noch geben 80 Prozent der Befragten an, dass sie wöchentlich Kontakt zueinander haben – aber im Vergleich der letzten Jahre erhalten die über 70-jährigen immer seltener praktische Hilfe; die Quote sank um 8 Prozentpunkte von 19, 5 Prozent 1996 auf 11,7 Prozent 2014.

Mehr als 40 Prozent der 70- bis 85-jährigen leben allein und nicht alle können auf tragfähige Freundschaften und Nachbarschaftsnetze zurückgreifen. Auch deshalb wird die häusliche Pflege inzwischen von ca. 300.000 privaten Haushaltshilfen und Pflegekräften aus Osteuropa gestützt. Deswegen ist es ein wichtiger Schritt, dass im PSG II neben der Pflege nun auch Hauswirtschafts- und Betreuungsleistungen anerkannt und wenigstens zum Teil refinanziert werden.

Und auch Stadtplanung, Architekturbüros und Wohnungsbaugesellschaften machen inzwischen ernst damit, dass in den neuen Wohnquartieren Rollatoren wie Kinderwagen über die Schwelle kommen und Häuser so barrierefrei sein müssen, dass auch Rollstuhl oder Krankenbett Platz finden. Aber nach wie vor leben die wenigsten älteren Menschen in barrierearmen Wohnungen. Und die Refinanzierungsstrukturen in unseren Sozialsystemen machen eine integrierte Arbeit schwer. Initiativen wie das SONG-Netzwerk, das von der Bertelsmann-Stiftung initiiert wurde oder Wohnquartier hoch 4 in Rheinland-Westfalen-Lippe geben seit Jahren Anstöße, rund um die Lebensbereiche Wohnen, Gesundheit, Bildung und Freizeit neue Netzwerke zu organisieren – also nicht länger an Defiziten, sondern an Dimensionen des alltäglichen Lebens orientiert. Allerdings verlangt die Arbeit in solchen Modellen ein Grenzen überschreitendes Denken. Denn die Leistungen unserer sozialen Sicherungssysteme sind bisher an Zielgruppen mit bestimmten Bedarfslagen entlang organisiert: an Kranken, Arbeitslosen, Gefährdeten… So wichtig wie die Zusammenarbeit der sozialen Dienste ist aber die Entwicklung der Quartiere und Stadtteile selbst. Wo es weder Einkaufsmöglichkeiten noch Bürgertreffpunkte gibt, wo nicht mehr regelmäßig Busse fahren, wo man sich ohne Auto nicht mehr selbst versorgen kann, entscheiden sich auch Menschen, die ansonsten gut zu Hause bleiben könnten, für eine stationäre Einrichtung.

In Kaiserswerth, wo ich sechs Jahre Vorsteherin war, leben viele der älteren Diakonissen in sogenannten Feierabendhäusern. Das Konzept glich bis vor kurzem dem der heutigen Seniorenwohngemeinschaften und Mehrgenerationenhäuser: offene Gemeinschaften mit einem Hauswirtschaftsangebot und einem Hausmeisterdienst und der Möglichkeit, sich selbst zu versorgen und ambulante Pflege zu bekommen. Schön zu sehen, wie viele Jüngere aus der Gemeinschaft, aber auch aus der Mitarbeiterschaft, dorthin zu Besuch kamen und sich Rat und Unterstützung holten. „Wenn ich selbst nicht zum Einkaufen komme“, sagte kürzlich eine jüngere, berufstätige Schwester „kaufen meine Feierabendschwestern für mich ein.“ Umgekehrt gilt: Am Leben der Jüngeren Anteil zu nehmen, ist für die allermeisten alten und auch sehr alten Menschen ein zentraler Lebensinhalt. Was für eine Großfamilie normal war und ist, zeichnet auch diese Wahlfamilien aus.

Es waren vor allem Politikerinnen und Politiker wie Henning Scherf oder Malu Dreyer, die solche Wohnprojekte populär gemacht haben. Die Idee hinter den Mehrgenerationenhäusern, Wohngemeinschaften, Genossenschaften: starke Nachbarschaften, in denen man einander unterhalb der Schwelle professioneller und bezahlter Dienstleistungen wechselseitig hilft. So wie in den neuen Modellen des Zusammenwohnens von Älteren und Studentinnen, in denen die einen mietfreies Wohnen genießen und die anderen den einen oder anderen Dienst in ihrem Alltag. Aber auch in den Stadtteilcafés, in Quartiersprojekten und bei Mittagstischen und Tafeln sind Sorgende Gemeinschaften entstanden. Und natürlich können auch ganz normale Nachbarschaften und Vereine zu Sorgenden Gemeinschaften werden. So wie es früher in den Kranzvereinen der Fall war, wo Nachbarn sich ganz selbstverständlich in der ersten Trauer und Bestattungsphase unterstützen und wie es heute die neuen Bestattungsvereine versuchen.

Die so genannten jungen Alten tragen entscheidend dazu bei, dass Nachbarschaften wiederbelebt werden. Ältere Menschen sind stärker ortsgebunden; sie engagieren sich in Vereinen, wo junge Leute immer schwerer Anschluss finden, aber zunehmend auch in Bürgerinitiativen und Genossenschaften oder in der Kommunalpolitik. Die Freiwilligensurveys der letzten Jahre zeigen: Wer sich engagiert, gewinnt zugleich neue Beziehungen und eigene Netzwerke, Lebensvertiefung und soziale Kompetenzen. Inzwischen sind es vor allem die jungen Alten, die für den Aufbau von Sorgenden Gemeinschaften gebraucht werden. Sie sind es, die sich in besonderer Weise ehrenamtlich für das Gemeinwesen engagieren und dafür auch Kompetenzen und Zeit mitbringen. Allerdings bewegen sich manche mit Übungsleiterpauschalen, 450-Euro-Jobs und Bundesfreiwilligendienst in der Grauzone zwischen Erwerbsarbeit und Ehrenamt –das CSI in Heidelberg spricht von einer dritten Form der Beschäftigung – weil ihre Renten einfach zu niedrig sind.

Wenn sich der Staat seiner Verantwortung entzieht, warnt Thomas Klie, „werden klassische Frauenrollen“ – und ich ergänze: klassische Großelternrollen – „reaktiviert. Dann gibt es einen „Rückschritt“ in Richtung Deprofessionalisierung und Romantisierung gegenseitiger Solidarität.“ Tatsächlich erfährt das Engagement der jungen Alten, die im Augenblick einen großen Teil des sozialen Ehrenamts leisten, aber noch wenig Anerkennung und Unterstützung. Klar ist: Care-Arbeit in Familien und Sorgende Gemeinschaften in der Zivilgesellschaft können nur nachhaltig sein, wenn die finanziellen Ressourcen gegeben sind – eine sichere und auskömmliche Grundrente und eine tragfähige Infrastruktur. Die Förderung „Sorgender Gemeinschaften“ muss eingebettet sein in ein breit angelegtes Kommunalentwicklungsprogramm. Die Sozial- und Gesundheitspolitik des Bundes zum Beispiel in der Pflegeversicherung muss die örtlichen Entwicklungspotenziale aufnehmen und neue Modelle und Verantwortungsgemeinschaften stützen.

 

6. Sorgende Gemeinde werden: Die Verantwortung der Kirchengemeinden

Die Herausforderung, die professionelle Pflege nicht nur mit Hauswirtschaft und Betreuung, sondern auch mit anderen Dienstleistungen im Quartier und mit bürgerschaftlichem Engagement zu verknüpfen, geht Kirche und Diakonie in besonderer Weise an.

Tatsächlich sind Alter und Pflegebedürftigkeit keinesfalls deckungsgleich, wie manche immer noch meinen. Zwar steigt die Pflegebedürftigkeit mit dem Alter, sie betrifft aber nur wenige. Bei den 70 – 75-jährigen sind es etwa 5 Prozent, bei den 75 – 80-jährigen 10 Prozent, bei den 80 bis 86-jährigen 20 Prozent und erst bei den Hochaltrigen über 85 steigt der Prozentsatz auf 40 Prozent. Und damit ist noch immer nicht jeder Zweite betroffen. Nein, Alter und Pflegebedürftigkeit sind nicht deckungsgleich. Wenn wir uns aber noch einmal daran erinnern, wie viele Menschen sich schon mit 55 plus Sorgen um ihren Hilfebedarf im Alter machen und wie viele pflegende Angehörige von der Situation betroffen sind, dann wird deutlich: Hier gibt es Bedarf an Seelsorge, Netzwerken und Prävention. Es ist notwendig, gemeinsam die Nachbarschaft zu stärken und es wäre töricht, wenn Kirchengemeinden die Frage nach der Pflege ausblenden und an die Diakonie delegieren. Genau das ist aber geschehen, seit die ambulante Pflege refinanziert und von Diakoniestationen getragen wurde.

Das Gemeindeschwesternmodell, dem viele bis heute nachtrauern, lebte aus einer Kooperation von Gemeinden und Mutterhäusern. Und es gewann seinen Charme daraus, dass Pflege eine selbstverständliche Hilfeleistung unter anderen war – so selbstverständlich wie Familienhilfen oder Mittagstische. In Hamburg-Altona ist die Diakonie einer der Partner, die das Projekt Altonavi gegründet haben, eine barrierefreie offene Quartiersberatungsstelle mit vier Mitarbeiterstellen – mitgesponsert von der Stadt, aber auch von AWO, Aktion Mensch, der Nordmetall-Stiftung und vielen anderen Trägern. Die Mitarbeitenden von Altonavi informieren über öffentliche Unterstützungsangebote und bringen Hilfesuchende und Hilfeanbietende zusammen beispielsweise für die Begleitung bei Arztbesuchen, für Hausaufgabenhilfe oder für Beratung, wenn Angehörige an Demenz erkrankt sind.

Aber die Kirche ist auch mit ihren Räumen und ihren hauptamtlich Mitarbeitenden gefragt – und das heißt mit ihren eigenen Ressourcen. Es geht um die Aufgabenbeschreibungen von Gemeindepädagogen, Diakoninnen, Sozialpädagogen, aber auch mit Küstern oder Musikern, es geht aber auch um den Umbau von Gemeindehäusern zu Gemeinwesenzentren. Dazu müssen Gemeinden sich allerdings öffnen, sich nicht nur als Gastgeber verstehen, sondern auch als Dienstleister – am besten als Gemeinde mit der Diakonie zusammen den „dritten Sozialraum“ entwickeln.

Die evangelische Kirchengemeinde Lindlar im Rheinisch-Bergischen Kreis hat vorgemacht, was das bedeutet: Sie nahm nicht nur die Situation ihrer Mitglieder, sondern auch die der Immobilien in der Gemeinde unter die Lupe und zog Konsequenzen. Die Kirche auf dem Hügel, die erst nach dem Krieg für die Heimatvertriebenen gebaut worden war, füllte sich nicht mehr wie früher. Viele Gemeindemitglieder waren älter geworden, sie brauchten Hilfe, um das Haus zu verlassen. Es fehlten alternsgerechte Wohnungen, Haushaltshilfen, aber auch ein Ort der Begegnung zwischen den Generationen. So entschied sich der Kirchenvorstand für einen radikalen Neuanfang: Das Pfarrhaus auf dem Kirchenhügel wurde abgerissen und ein Teil des Landes verkauft. In Zusammenarbeit mit einer kirchlichen Wohnungsbaugenossenschaft wurden barrierefreie Wohnungen errichtet. Von dem erzielten Gewinn wurde das Jubilate-Zentrum errichtet – ein Treffpunkt der Generationen. In das Wohnprojekt zog ein Pflegedienst ein und, das war der Clou des Ganzen, mit Hilfe des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA) wurde ein Aufzug hinunter in die Innenstadt gebaut, damit auch Ältere wieder die Chance hatten, gut zum Einkaufen zu kommen. Das Konzept hat nicht nur die Gemeinde neu belebt, es hat auch ihren Einfluss in der Kommune gestärkt, den sie nun für die Entwicklung zur alternsgerechten Stadt nutzt.

„Mein Anliegen ist, dass in Gemeinden „geschützte Räume“ entstehen“, hat Beate Jakob gesagt. Im Englischen spricht man von „safe“ oder „sacred spaces“ und meint damit Orte/Räume/Begegnungsmöglichkeiten, an denen sich Menschen frei und offen begegnen und austauschen können, anstatt eine Rolle spielen zu müssen. Orte, wo Menschen sich nicht als stark und als „Sieger“ präsentieren müssen, sondern auch einmal ihre Masken ablegen und ihre Schwachheit und Hilfsbedürftigkeit benennen dürfen. Dadurch wächst in Gemeinden auch das Bewusstsein, nicht eine Gemeinschaft von Starken zu sein, sondern von Un-Perfekten, die alle auf Gottes Gnade angewiesen sind.“.Da liegt die spirituelle Quelle der sorgenden Gemeinschaften und eine der ganz großen Stärken unserer Kirchengemeinden. Hier ist Raum für Seelsorge und Biographiearbeit, Raum zur Selbsthilfe und zum Netzwerkeknüpfen. Raum zu entdecken, dass keiner mit dieser Situation allein ist und allein bleiben muss.

Längst ist eine Angehörigenbewegung im Gange, die die Mauern durchbricht – Stella Braam oder Arno Geiger begreifen Demenzerkrankte als Gegenüber, von dem wir lernen können, wie sehr wir alle auf Beziehung und Zusammenhalt, auf Einfühlung und Respekt angewiesen sind – nicht nur in der Pflege und nicht erst, wenn wir hochaltrig werden. Und auch Pflegende haben sich neu organisiert, um die Not endlich zur Sprache zu bringen. Es lohnt sich, das zu entdecken – bei Pflege- in -Bewegung zum Beispiel oder auf der Plattform CareSlam. Gemeinsam können wir Vorreiter sein für eine neue, humane Gesellschaft. Und Kirche und Diakonie haben viel dazu beizutragen.

Cornelia Coenen-Marx, Tutzing, 10.01.2018