Die reife Reise – Pastoraltheologische Überlegungen zur Spiritualität im Alter

1. Das Land des langen Lebens

Deutschland ist ein Land des langen Lebens. Neugeborene Mädchen haben zurzeit eine Lebenserwartung von 83 Jahren, Jungen von 78 Jahren. 60 ist die neue 50. 73 Prozent der Befragten ab 60 Jahren fühlen sich jedenfalls jünger, als sie es vom kalendarischen Alter her sind, und zwar im Durchschnitt 5,5 Jahre. Mehr als ein Drittel der 55- bis 69-jährigen hat keine oder höchstens eine Erkrankung und noch die Hälfte der 70- bis 85-jährigen fühlen sich trotz der einen oder anderen Krankheit funktional gesund. Noch nie in der Geschichte sind Menschen so gesund alt geworden, noch nie war die Breite der Bevölkerung so gut ausgebildet, so kompetent und selbständig wie heute, noch nie gab es auch so viele Möglichkeiten, sich zu vernetzen und gut zu organisieren. Schon ist mit Blick auf die 68er-Generation, die jetzt in Rente geht, von Power-Agern die Rede. Was es bedeutet, alt zu sein, ist aber nicht nur eine Frage nach dem biologischen Alter oder der gesundheitlichen Situation – es betrifft immer auch die gesellschaftlichen Vorstellungen vom Alter und die damit verbundenen Erwartungen an andere wie an sich selbst. Und das betrifft alle Lebensvollzüge: Arbeit und Familie genauso wie Kleidung und Mobilität – und auch das Thema Religion. Alter ist auch eine soziale Konstruktion, ganz ähnlich wie das Geschlecht. Konsequenterweise reden Soziologen von „Doing Aging“ – so wie man von „Doing Gender“ oder „Doing Family“ spricht.

Eine kleine Geschichte soll deutlich machen, was ich meine: Die amerikanische Firma Vita Needle stellt seit einigen Jahren gezielt ältere Arbeitnehmer ein. Das Geschäftsmodell basiert darauf, dass der Staat die Anteile der Renten- und Krankenversicherung für die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer übernimmt, während das Unternehmen lediglich die anteiligen Lohnkosten nach dem Mindestlohn zahlt. Im Gegenzug achtet das Unternehmen darauf, dass die Arbeitsplätze den gesundheitlichen und zeitlichen Möglichkeiten der Mitarbeitenden flexibel angepasst werden. Schon bald stellte sich heraus, dass die Produktivität mit dem Alter seiner Mitarbeitenden nicht fiel, sondern stieg. Die Älteren liefern hochwertige Arbeit und haben Spaß am Job – Arbeit ist für sie ganz offenbar keine Last, sondern verbunden mit dem guten Gefühl, gebraucht zu werden. In einem Interview lehnte es einer der Mitarbeiter, der 84-jährige Alan Lewis ab, in ein Altenzentrum zu gehen. Er könnte sich anstecken, meint er. Und auf die Frage, womit denn, ist die Antwort: „Mit dem Alter.“ Denn Alter, sagt er, werde einem beigebracht. „Man ist umgeben von alten Leuten und so lernt man, dass man so werden wird. Das muss man aber gar nicht.“ Auf den Hinweis, dass er doch auch bei Vita Needle mit alten Leuten zusammenarbeitet, sagt er: „Die sind nicht alt, die sind anders.“

Nicht nur das Alter hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert; auch die Alternsbilder ändern sich und müssen sich ändern. (Altersbericht der Bundesregierung) Bis in die 60er Jahre hat man den Ruhestand als Feierabend begriffen, er war Erholung von einem aktiven Arbeitsleben. In den 70ern dann, der großen Zeit des Wohlfahrtsstaats, wurde die Rente zur Belohnung für ein aktives Leben – mit Freizeit und Reisen. Heute ist die nachberufliche Phase länger geworden und bietet damit viel mehr Chancen, den eigenen Interessen nachzugehen, eigene Aufgaben souverän zu gestalten. Immer mehr ältere Menschen sind auch in der Rentenphase erwerbstätig, eine steigende Zahl engagiert sich ehrenamtlich. Die Übergänge werden fließend. Während übrigens der Alterssurvey ganz bewusst von der ersten und zweiten Lebensphase spricht – also von den unter und den über 40-jährigen –, wird sonst oft von nachberuflichen Zeit als einer neuen, dritten Lebensphase gesprochen. Tatsächlich differenzieren sich die Lebensalter aber immer weiter aus – inzwischen unterscheiden wir die „jungen Alten“, die „Hochaltrigen“ und die „Langlebigen“.

 

2. Ein neuer Aufbruch: Die dritte Lebensphase

Psychologie heute hat im August 2016 eine Untersuchung zum Übergang in die dritte Lebensphase vorgelegt. Im Ergebnis zeigen sich drei Wege, den Neubeginn zu gestalten. Es gibt die „Weitermacher“, die als Seniorberater, Freiberufliche oder Honorarkräfte oder auch ehrenamtlich weiter in ihrem Arbeitsfeld unterwegs sind. Sie sind gefragt, solange sie nah genug dran bleiben an den innovativen Entwicklungen im Feld. Daneben gibt es die „Anknüpfer“, die aus ihren bisherigen Kompetenzen etwas Neues entwickeln. Wir kennen das von Sportlerkarrieren: vom Spieler zum Manager oder zum Sportartikelhersteller. Und schließlich die „Befreiten“, die froh sind, endlich raus zu kommen aus einem Job, den sie als entfremdet erlebt haben. Sie finden ihr Glück vielleicht auf einer Reise, beim Lesen oder bei der Gartenarbeit oder auch in einem Ehrenamt, im Sportverein oder in der Hospizarbeit.

So oder so: Älterwerden hält noch einmal neue Entwicklungs- und Veränderungschancen bereit. Was liegen geblieben ist, vergessen oder auch verdrängt wurde, kann nun noch einmal aufgegriffen, angepackt, integriert werden. Ich kenne eine Ärztin, die mit Mitte 50 nach Afrika ging. Sie wollte dort ausbauen, was sie früher in Ferieneinsätzen bei Ärzte ohne Grenzen erlebt hatte. In Ostafrika half sie, ein Krankenhaus nach westlichen Standards aufzubauen, was Labor und Operationstechnik angeht. Zugleich arbeitete sie viel mit den Frauen der Basisgesundheitsdienste zusammen. Und lernte dabei ein ganz anderes Verständnis von Krankheit und Heilung kennen. In charismatischen Gemeinden erlebte sie die Kraft der Gebete. Sie schrieb mir einen ermutigenden Satz: „Alter ist eine einmalige und neue Form der Freiheit, die verstanden und gelebt werden will.“

„Viel, allzu viel Leben, das auch hätte gelebt werden können, bleibt vielleicht in den Rumpelkammern verstaubter Erinnerungen liegen, manchmal sind es glühende Kohlen unter der Asche“, hat der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung geschrieben. Denn das Erreichen eines Ziels, des beruflichen Aufstiegs zum Beispiel, erfolgt eben immer auch auf Kosten der Totalität der Persönlichkeit: Wir funktionieren, passen uns an, übernehmen eine Rolle. Wenn die Kinder erwachsen sind, ein weiterer Aufstieg nicht möglich ist, wenn wir gesundheitlich an Grenzen stoßen, können wir den sozialen Panzer ablegen und andere Aspekte der eigenen Person zum Zuge kommen lassen.

Der Philosoph Thomas Rentsch spricht vom Altern als einem „Werden zu sich selbst“. Jetzt, wo die Kürze des Lebens und seine Überschaubarkeit sichtbar und erfahrbar werden, gilt es, zu begreifen, dass sie nicht schrecken müssen. Dass nun die Chance besteht, das menschlich Wichtige vom vielen Unwichtigen dauerhaft zu unterscheiden. „Ich kann als Philosoph nicht unmittelbar an positive theologische Redeweisen anknüpfen“, schreibt er, „ich sage jedoch: Viel wäre vom Sinn dieser Reden schon bewahrt, wenn wir das Alter als eine Lebenszeit verstehen, in der die innige Verschränktheit von Endlichkeit und Sinn, Begrenztheit und Erfüllung erkennbar und einsichtig werden kann.“

Es ist kein Zufall, dass viele beim Start in die dritte Lebensphase eine Reise unternehmen oder ein Buch schreiben. Das sind Möglichkeiten, die innere Bewegung im Außen sichtbar und greifbar zu machen. Produktiv zu werden jenseits der sonst üblichen Vorstellungen von Produktivität. Jetzt muss ich nicht mehr effizient sein wie im Beruf oder funktionieren wie in der Familie. In der ersten Lebenshälfte geht es noch darum, ein Heim und eine Familie aufzubauen, ein sicheres Fundament für das Leben. Dann aber besteht die Herausforderung darin, das alles loszulassen und noch einmal frei zu werden. Wer jetzt noch einmal neu startet, will eine andere Produktivität entdecken. Ein neues Lebenstempo, eine andere Kultur, eine Kunst vielleicht, die er bisher nicht beherrscht hat. Vielleicht auch sich einsetzen, damit es anderen gut geht. Wesentlich werden – aber nicht einfach auf den bekannten Kern schrumpfen, sondern einem neuen Samen Raum zum Leben geben. Dabei geht es in einem existenziellen Sinne um spirituelle Erfahrungen. Lars Tornstam, der in Schweden Untersuchungen zur Spiritualität älterer Menschen durchgeführt hat, spricht von Ego-Transzendenz oder auch von Gero-Transzendenz. Er meint: Das Alter bietet die Chance, sich selbst zu überschreiten. In der Fachsprache: sich selbst zu transzendieren. So gesehen, hat es Transzendenz nicht nur mit einem Jenseits außerhalb unserer Welt zu tun; vielmehr geht es darum, mich grundsätzlich offen zu halten für ganz neue Möglichkeiten – neue Erfahrungen und Bilder von der Welt, von mir selbst und auch von Gott.

Mich hat dabei Margarete von Trottas Film über Hildegard von Bingen inspiriert. Sie erzählt, wie die bekannte Klostergründerin gegen Ende ihres Lebens eine ungewöhnliche Entscheidung trifft. Sie verlässt das Kloster, in dessen Aufbau sie ihr ganzes Leben investiert hat, verlässt den Konvent und ihre Rolle als Äbtissin und bricht zu Pferd auf eine Predigt- und Seelsorgereise auf. Allein, nur von wenigen Freunden begleitet. „Wir sind hier, um das, was uns gegeben wurde, vollständig und freiwillig zurück zu geben“, sagt der Franziskanerpater Richard Rohr über die reife Reise des Älterwerdens.

 

3. Im Alter neu werden können

Auch die jüngste EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zeigt: 75 Prozent der 60- 69 –jährigen blicken zuversichtlich auf ihr weiteres Leben; und über ein Drittel geht davon aus, dass noch ein Neuanfang stattfinden kann. Viele machen sich noch einmal auf den Weg und helfen international als Au-pair, im Senior Expert Service oder übernehmen einen freiwilligen Einsatz in Krisengebieten. Andere engagieren sich jetzt in der Flüchtlingsarbeit, lernen Menschen aus anderen sozialen und kulturellen Kontexten kennen oder arbeiten mit am Entstehen neuer Netzwerke – als „Leih-Omas“, Stadtteilmütter, Senior-Mentoren für Schüler und Azubis, in Familienzentren und Generationenhäusern. Und oft entstehen dabei tragfähige neue Freundschaften und Liebesbeziehungen.

„Im Alter neu werden können“ – so hat die Evangelische Kirche in Deutschland die Orientierungshilfe zum Thema Altern genannt, die sie vor einigen Jahren herausgegeben hat. (1) Es geht darum, was jeder Einzelne und was die Kirche zum gelingenden Altern beitragen können. „Kann man denn im Alter noch einmal neu geboren werden?“ Diese Frage treibt Nikodemus um. Er ist ein hoher jüdischer Würdenträger. Heimlich besucht er Jesus in der Nacht, weil die Frage ihm peinlich ist – und doch nicht loslässt. Und Jesus antwortet: „Ja, man kann im Alter noch einmal neu geboren werden.“ Er spricht vom Neuanfang aus dem Geist Gottes.

Tatsächlich ist die Bibel voll von solchen Neuanfängen. Denken Sie nur an die Geschichte von Abraham und Sara, die in hohem Alter aufbrechen in das Gelobte Land und spät noch den ersehnten Sohn zur Welt bringen – so spät, dass Sara schon allein den Gedanken an eine Schwangerschaft lächerlich findet. 127 Jahre soll sie alt geworden sein – ein legendäres Alter. Aber die Zahl der über 100–Jährigen wächst. Und einer davon soll ja sogar aus dem Fenster gestiegen sein, um ein neues Leben zu beginnen. Das Altenheim war ihm zu eng geworden. Vielleicht kennen Sie das Buch, das die Bestsellerlisten erklommen hat. Die Geschichte von Abraham und Sara ist also gar nicht so unwahrscheinlich – es gibt sie, die alternden Frauen und Männer, die im Aufbruch noch einmal jung werden.

Einem Traum geht Sara nach mit ihrem Abraham. Nachts unter dem Sternenhimmel hat Gott ihm versprochen, dass sie eine neue, eine bessere Zukunft finden würden – und dass ihre Nachkommen so zahlreich sein würden wie die Sterne am Himmel. Selbstverständlich ist es nicht, dass einer seinen Träumen folgt. Sich auf den Weg macht Schritt für Schritt. Es muss ein schwerer Weg gewesen sein durch die Wüste. Voll Fremdheitserfahrungen, Misstrauen und der Angst, allein gelassen zu werden, zu versagen und sich lächerlich zu machen. Aber Abraham und Sara haben dem Unwahrscheinlichen eine Chance gegeben. Sie haben Gott eine Chance gegeben.

Wenn ich etwas ganz Neues beginne, dann muss ich mein Leben so einrichten, dass ich meinen Traum auch verwirklichen kann. Das wurde dem französischen Soziologen Roland Barthes klar, als seine Mutter gestorben war. Bei aller Trauer des Abschieds – in diesem Augenblick begann für ihn ein neues Leben. Er wollte endlich tun, was ihm längst vorschwebte – er wollte einen Roman schreiben. Aber das neue Leben beginnt nicht einfach von selbst; es braucht einen bewussten Entschluss. Man muss den Alltagstrott verlassen, die eigenen Routinen überprüfen. Ich muss innehalten, meine Erfahrungen reflektieren loslassen, was war, und meinen Hoffnungen trauen.

 

4. Sterblichkeit und Gebürtlichkeit

Zu den beliebtesten Texten der letzten Jahre gehört Hermann Hesses Gedicht „Stufen.“ Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, blüht jede Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern…“ Der Text ist ein Aufruf zu immer neuen Aufbrüchen; es geht darum, dem Ruf des Lebens zu folgen, loszulassen und weiterzugehen – Stufe für Stufe. Das Bild der Lebensalter, das sich dabei einstellt, ist eine Treppe, die immer weiter ins Offene, ja eigentlich ins Unendliche führt: „Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Räumen jung entgegensenden; des Lebens Ruf an uns wird niemals enden. Wohlan denn, Herz, nimmt Abschied und gesunde.“

Diesen Neubeginn assoziieren die meisten Menschen heute auch mit dem Beginn der dritten Lebensphase. Was man früher mit dem Alter verband, Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit, verschieben wir gedanklich in die letzte, die vierte Lebensphase, die statistisch gesehen erst mit Mitte 80 beginnt. Eine religionssoziologische Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD zeigt: Nicht Sterblichkeit, sondern „Gebürtlichkeit“, wie die Philosophin Hannah Arendt es nennt, ist das vorherrschende Gefühl der dritten Lebensphase –auch wenn das der Thema Endlichkeit wie eine gegenläufige Unterströmung spürbar ist.

Mit dem Alter kommt der Psalter“, hieß ein altes Sprichwort – so als ob Ältere automatisch frömmer würden. Als Gemeindepfarrerin in den 1980-er Jahren hatte ich den Auftrag, alle Gemeindemitglieder zu besuchen, wenn sie 70, 75 oder 80 plus wurden. Manchmal habe ich dabei ungeheuer spannende Lebensgeschichten gehört – aber selten kam es zu Gesprächen über Glauben und Religion. Vielleicht hat es damit zu tun, dass die überkommenen Erwartungen an Pfarrer und Kirche mit ganz bestimmten Alternsbildern verbunden sind. Die alten Lieder und Liturgien vermitteln den Eindruck, die letzte Lebensphase diene vor allem der Vorbereitung auf Tod und Ewigkeit. Christine Westermann, die zu Ihrem 65. Geburtstag das Buch „Da geht noch was“ geschrieben hat, erzählt, wie sie sich aufregt, weil eine Reportage, die sie kurz vorher über einen Klosteraufenthalt gedreht hat, mit folgendermaßen beworben wurde: Christine Westermann: „Wieviel Leben bleibt mir noch?“ Möglichkeit 1, meint sie: Sie hat eine todbringende Krankheit. Möglichkeit 2: Sie ist stark vergreist und verabschiedet sich mit dieser Dokumentation. Und dann: „Wie viel Leben bleibt mir noch?“ Das ist keine Sinnfrage. Das ist eine Unsinnsfrage. Es geht mir nicht um das Wieviel. Das Wohin ist das Entscheidend, die Richtung, die ich meinem Leben noch geben will. Nur deshalb habe ich mich auf die Suche eingelassen.“

Im 19. Jahrhundert waren die sogenannten Lebenstreppen populär. Wie auf einem Schwippbogen stellten sie den Lebenslauf als auf und ab dar – meist in zehn Stufen zu je zehn Jahren. Ganz unten an den Seiten standen Kind und Greis, unmündig das Kind, hilfebedürftig der Greis – auf dem Höhepunkt in der Mitte die Menschen in den so genannten besten Jahren zwischen 40 und 50. „Von da an ging‘s bergab“, wie Hildegard Knef einmal gesungen hat. Da hieß es, zurückzutreten und der neuen Generation Platz zu machen – in der Firma, auf dem Hof, als Großeltern auf dem „Altenteil“. Die Lebenstreppen sind in den Museen verschwunden, aber in unserem Denken werfen sie noch Schatten. Tatsächlich stehen ja noch immer die „hart arbeitenden Menschen“, die Fitten und Mobilen, die Sportlichen und die Steuerzahler in der gesellschaftlichen Rangliste ganz oben; der technische Fortschritt hat Berufs- wie Lebenserfahrung entwertet. Stattdessen erleben wir die so genannte Juvenalisierung der Gesellschaft: Eltern übernehmen Kleidungsstil, Sprache und Sportarten ihrer „Kids“. Inzwischen gibt es nicht nur „junge Väter“ im Großvateralter, sondern auch Mütter von Mitte 40, Trennungen und Scheidungen nach der „Silberhochzeit“ sind nicht mehr ungewöhnlich und späte Lebenspartnerschaften fast schon erwartbar. Vieles ist möglich in jedem Alter – im Lebensstil wie in der Kleidung ist eine große Freiheit zu finden. Und sie gibt uns jenseits festgelegter Altersrollen die Möglichkeit, den eigenen Lebensruf zu hören, den eigenen Begabungen zu folgen.

Ein „zu spät“ scheint es dabei nicht zu geben. Tatsächlich aber gibt es Aufgaben der einzelnen „Lebensstufen“, die sich nur um den Preis einer eigenen Entwicklung verweigern und auch nicht beliebig nachholen lassen. Im Blick auf Kinder ist uns das heute sehr bewusst – es gilt aber durchaus auch im späteren Lebensalter. Auf die Phasen der Produktivität und Reproduktion folgen Zeiten des Loslassens und Weitergebens – bis wir verstehen, dass beides Teil eines umfassenden Engagements für das Leben ist. Solange wir lernen und uns verändern, bleiben unser Gehirn wie unser Lebensstil plastisch. Noch im Alter können wir uns neu erfinden. Dazu gehört aber auch, dass wir Versäumtes verabschieden und Verlorenes betrauern – Kinderlosigkeit oder der Verlust eines Lebenstraums sind eben nicht einfach „reparierbar“. James Fowler hat Anfang der 80er Jahre auf dem Hintergrund einer spirituellen Psychologie beschrieben, dass wir solche Entwicklungsschritte auch im Glauben durchlaufen – vom intuitiven und mythischen „Kinderglauben“ über die reflektierte Auseinandersetzung mit Religion bis hin zu einer universellen Perspektive, in der wir die bloße Identifikation mit den eigenen Traditionen überwinden und zu einer umfassenden Liebe, einem „grenzenlosen Vertrauen in den Sinn des Seins“ finden können. Eine Studie katholischer Soziologen zeigt: „Der strenge Vater-Gott der Kindheit macht immer mehr einer Vorstellung von Gott Platz, in welcher der Mensch als Partner ernst genommen wird“ (Fürst u.a. 2003). 60 Prozent der Befragten gaben an, dass sich die Gestalt ihres Glaubens im Lauf des Lebens geändert hat.

Für Fowler geht es darum, jene „Altersweisheit“ zu finden, die die westlichen Gesellschaften lange aus dem Blick verloren hatten. In Personen wie dem hochaltrigen Stephane Hessel, der mit seinem Buch „Engagiert Euch“ einen Blick in die Zukunft eröffnete, begegnen wir ihr wieder. Er konnte in der letzten Finanzkrise auch und gerade Jüngere inspirieren. Denn die unterschiedlichen Lebensalter stehen eben nicht nur für sich, sie haben Aufträge aneinander. Es geht darum, voneinander zu lernen und einander zu stützen, das Generationenerbe weiter zu geben und die Zukunft offen zu halten – nicht nur individuell, sondern generativ. Die Aufgaben der Lebensalter erschließen sich letztlich nur dann, wenn wir weder uns selbst und unsere eigene Entwicklung noch die eigene Zeit absolut setzen, sondern uns in Beziehung zueinander sehen – in der vergehenden Zeit mit ihren jeweiligen Herausforderungen.

 

5. Familie, Freundschaft, Nachbarschaft – Sorgende Gemeinschaften

Auch wenn die meisten von uns lange jünger, körperlich leistungsfähiger und sozial aktiv bleiben – wir dürfen nicht übersehen, dass mit der Zahl der Hochaltrigen auch die der pflegebedürftigen Menschen weiter wächst. Tatsächlich steht die Frage nach der Versorgung im Alter im Sorgenbarometer der Bürgerinnen und Bürger ganz oben. Dabei sind Alter und Pflegebedürftigkeit keinesfalls deckungsgleich, wie manche immer noch meinen. Zwar steigt die Pflegebedürftigkeit mit dem Alter, sie betrifft aber nicht die Mehrheit. Bei den 70 – 75-jährigen sind es etwa 5 Prozent, bei den 75 – 80-jährigen 10 Prozent, bei den 80 bis 86-jährigen 20 Prozent und erst bei den Hochaltrigen über 85 steigt der Prozentsatz auf 40 Prozent. Dennoch wird die Zahl der Leistungsempfänger in der Sozialen Pflegeversicherung bis 2040 auf mindestens 2,98 Mio. steigen – gegenüber dem Jahr 2000, als es 1,86 Mio. waren, um 61 Prozent.

Der hohe Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die den assistierten Suizid befürworten, zeigt in aller Schärfe die Herausforderung: Die Befragten bezweifeln, dass für sie gesorgt sein wird, wenn sie allein nicht mehr zurechtkommen. Und wer in der nachfolgenden Generation keine Angehörigen oder Freunde hat, wird möglicherweise einsam alt. Schon heute leben mehr als 40 Prozent der 70- bis 85-jährigen allein und nicht alle können auf tragfähige Freundschaften und Nachbarschaftsnetze zurückgreifen. Die pflegenden Töchter und Schwiegertöchter sind heute im Schnitt 55 Jahre. Und wer wird die Kinderlosen pflegen, die in der Generation der Babyboomer immerhin 30 Prozent ausmachen? Aktuell wird die häusliche Pflege von etwa 300.000 privaten Haushaltshilfen und Pflegekräften aus Osteuropa gestützt. Das Sterben in Pflegeheimen oder im Krankenhaus ist für viele zum Schreckgespenst geworden – nach einer aktuellen Umfrage wünschen sich weniger als 10 Prozent einen Aufenthalt in einer stationären Einrichtung; dabei sterben 80 Prozent dort. Nicht zufällig ist also der Begriff der „Sorgenden Gemeinschaften“ populär geworden. In unserer Gesellschaft, die stark geprägt ist vom Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstoptierung, angesichts der Vermarktlichung des Sozial- und Gesundheitssystems, in dem Zugänge zunehmend über Geld und Wissen gesteuert werden, geht es um ein Gegengewicht: um wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung.

Manchmal sehe ich mich im Appartement meiner Mutter in „ihrem Stift“ sitzen und erzählen. In ihrem letzten halben Jahr, sie war durch eine Demenzerkrankung verwirrt, hatten wir viele solcher ruhigen halben Stunden, wenn ich abends nach Feierabend bei ihr vorbeifuhr. Manchmal musste ich sie dann zunächst einmal suchen – irgendwo im Haus, vielleicht auch in einem anderen Appartement. Dann legten wir eine ihrer geliebten Platten mit klassischer Chormusik auf, kochten einen Tee und schälten Äpfel oder Apfelsinen. Ihre Hände hatten nicht vergessen, wie man kunstvoll schält – möglichst in einem einzigen Schalenstück – selbst wenn sich der Kopf nur noch an Bruchteile von Geschichten erinnerte. An solchen Tagen war ich froh – über die Erinnerungen, die wir teilen konnten. Die Begleitung von Menschen mit Demenz oder von schwer Pflegebedürftigen stellt unser Denken über Leistung, Produktivität und Lebenssinn sehr grundsätzlich in Frage. Denn das Bild vom immer wachen, gesunden und leistungsstarken Menschen, der nicht auf andere angewiesen ist – dieses Bild von Freiheit und Autonomie hält am Ende nicht stand. Andreas Kruse und Thomas Klie schreiben: „Die mit einer Gesellschaft des langen Lebens verbundenen Herausforderungen verlangen nach einer Auseinandersetzung mit Fragen des Menschseins, mit dem Verständnis von Würde und mit den Vorstellungen eines guten und sinnerfüllten Lebens unter Bedingungen der Vulnerabilität. Vorstellungen von Leben und Autonomie, die den Beziehungscharakter menschlichen Lebens und dessen Angewiesenheit auf andere nicht einbezieht, sind unvollständig.“

In ihrem Buch Vita activa betont Hannah Arendt, wie wichtig es für jeden Menschen ist, sich mit anderen auszutauschen und am Leben teilzuhaben. Das gilt auch für hochaltrige, pflegebedürftige und demenzkranke Menschen. Ich erinnere mich an die Feierabendhäuser der Diakonissen hier in Kaiserswerth. Das Konzept glich lange einer offenen Wohngemeinschaft mit der Möglichkeit, sich selbst zu versorgen und ambulante Pflege zu bekommen. Es war schön zu sehen, wie viele Jüngere aus der Gemeinschaft dorthin zu Besuch kamen und sich Rat und Unterstützung holten. „Wenn ich selbst nicht zum Einkaufen komme“, sagte letztes Jahr eine jüngere, berufstätige Schwester „dann kaufen meine Feierabendschwestern für mich ein.“ Am Leben der Jüngeren Anteil zu nehmen, ist für die allermeisten alten und auch sehr alten Menschen ein zentraler Lebensinhalt. Die Hochaltrigenstudie der Universität Heidelberg von 2013 zeigt: 76 Prozent der befragten 80- bis 99-jährigen empfinden Freude und Erfüllung in emotional tieferen Begegnungen mit anderen Menschen, 61 Prozent im Engagement für andere Menschen und 60 Prozent haben das Bedürfnis, – vor allem von den jüngeren Generationen – auch weiterhin gebraucht und geachtet zu werden. Diese Ergebnisse sprechen eine ganz andere Sprache als unsere Ängste und Vorurteile. Während die meisten von uns das Thema Hochaltrigkeit weit wegschieben und eine Pflegesituation als „Anfang vom Ende“ verstehen, zeigen sich in den Antworten der Befragten Lebendigkeit, Teilhabe und Engagement. Und ein großes Interesse an der Zukunft. Bei mehr als Dreivierteln der Befragten zwischen 80 und 99 steht die Todesnähe nicht im Vordergrund. Die meisten freuen sich, wenn sie sich noch für andere Menschen engagieren können, und 85 Prozent der Befragten beschäftigen sich intensiv mit den Lebenswegen der nachfolgenden Generation – der Enkel und Urenkel. Und ich habe selbst erfahren, wie sich diese Sorge in der Fürbitte ausdrücken kann. Fürbitte ist wie der Segen vielleicht die reinste Form des Engagements.

Das Neue Testament erzählt, als Maria und Josef ihren erstgeborenen Sohn zur Beschneidung in den Tempel brachten, seien sie am Eingang von zwei alten Menschen empfangen worden, von Simeon und Hanna. Eine alte Frau, die keine eigenen Kinder hatte, und ein Prophet am Ende seines Lebens. Er nimmt den kleinen Jesus auf den Arm wie ein eigenes, lang erwartetes Kind – das Kind einer anderen Familie, ein Zeichen der Hoffnung „Jetzt also kann ich in Frieden gehen“, sagt er, „denn ich habe den Erlöser gesehen – mit meinen eigenen Augen.“ Dass wir nicht für uns allein leben, sondern nach vorn und hinten in einer Lebenskette stehen, kann uns über uns hinaussehen lassen – und ein tiefes Lebensvertrauen schenken, das mit Gottvertrauen verbunden ist. Simeon und Hanna jedenfalls sehen ihren Traum in einer Zukunft erfüllt, an der Sie nicht mehr teilhaben – und die doch wie ein hilfebedürftiges Kind von ihnen gesegnet sein will. Ihre Hoffnung, die tief aus der Gottes Geschichte kommt, gibt der Zukunft einen Energieschub.

Ich erinnere mich daran, wie meine Urgroßtante auf mich aufpasste, wenn meine Eltern abends unterwegs waren. Sie saß dann mit ihrem steifen Beinen – sie hatte Arthritis – auf einem kleinen Bänkchen und las mir vor oder sang mir vor. An einem Abend rutschte sie von diesem Bänkchen herunter und konnte sich nicht mehr allein aufrichten – und auch ich war zu klein und zu schwach, ihr zu helfen. So saß sie den gesamten Abend und sang das Choralbuch von vorn bis hinten durch – und ich genoss es. Das wichtigste, was sie mir gegeben hat, war vielleicht das Gefühl, das man auch mit Angewiesenheit gut leben kann. Ihre Lebenserfahrung und Gelassenheit und ihr Gottvertrauen haben mich lange über ihren Tod hinausgetragen.

Der ehemalige Chefredakteur von Psychologie heute, Heiko Ernst, spricht in diesem Zusammenhang von Generativität. Dabei geht es nicht nur um die eigenen Kinder, sondern um die Zukunft der nächsten Generationen. Um die Zukunft unserer Städte und Dörfer. „Generativität“, sagt Heiko Ernst, „ist unser Zukunftssinn. Wir richten das Denken über die eigene Existenz hinaus. Generativität ist die Fähigkeit, von sich selbst abzusehen, für andere da zu sein, sein Wissen und seine Erfahrungen in die Gesellschaft einzubringen und etwas weiter zu geben. Generativität gibt Antwort auf zwei Fragen: Wie geht es mit mir weiter? Und: wie geht es mit meinem Umfeld weiter?“ Und sie könnte die Schlüsseltugend für das 21. Jahrhundert werden. In diesem Sinne braucht die Gesellschaft die Alten – und sie bringen ihre Erfahrungen gern ein.

Ältere Menschen sind stärker ortsgebunden; sie engagieren sich in Vereinen und Verbänden, wo junge Leute immer schwerer Anschluss finden, aber zunehmend auch in Bürgerinitiativen und Genossenschaften oder in der Kommunalpolitik. Übrigens engagieren sich Freiwillige über 65 stärker als in anderen Bereichen in Kirche und Religion – genau sind es 22 Prozent dort gegenüber 13 Prozent in allen anderen Bereichen. Vielleicht ist noch zu spüren, dass die Rolle der „Ältesten“ in der Kirche eine lange Tradition hat. Früher wurden Kirchenvorsteher so genannt. Heute kehrt die Rolle wieder in den vielen Mentorenaufgaben, die in unserer Gesellschaft immer wichtiger werden. Ausbildungsmentoren, Lesepaten, ehrenamtliche Betreuer, Kulturpaten und Stadtteilmütter. Die Pflegebegleiter, die für hauswirtschaftliche und nachbarschaftliche Dienste sorgen. Es gibt inzwischen zahlreiche Projekte, in denen mit innovativen Konzepten hilfreiche Angebote im Quartier geschaffen werden. Hier sind Kirche und Diakonie besonders gefragt. Thomas Klie sagt das so: „Gemeinschaft bedeutet mehr als wohlfahrtspluralistische Arrangements. Gemeinschaften sind geprägt durch Zugehörigkeit, durch gemeinsame Werte, durch Reziprozität, durch Verantwortungsbeziehungen.“

 

6. Der Weg nach innen

Das Leben als Reise, als Pilgerschaft ist für viele heute zu einem spirituellen Bild geworden. Es passt in eine Zeit der Mobilität und Migration und der immer neuen Aufbrüche – beruflich wie privat. Und es hat zu tun mir der Frage nach dem Wohin, die auch Christine Westermann stellt. Frühere Generationen haben den Weg weiter gedacht bis in eine Ewigkeit, die wir uns trotz aller Erfahrung nicht vorstellen können. „Ich preise dich, mein Erretter, dass du mir auf der Erde kein Vaterland und keine Wohnung gegeben hast, so dass ich mit David sage: „Ich bin dein Pilgrim und dein Bürger“, heißt es bei Johann Amos Comenius. „Du hast mich vor der Torheit bewahrt, das Zufällige für das Wesentliche, den Weg für das Ziel, das Streben für die Ruhe, die Herberge für die Wohnung, die Wanderschaft für das Vaterland zu halten.“

„Auch das geht vorüber“ ist einer der neuen, buddhistisch geprägten Slogans für die Stufen auf unserem Weg. Aber was bleibt? Und worauf kommt es am Ende an? „Es lohnt sich nur der Weg nach innen“, heißt eines der Bücher von Sam Keen über „Das kreative Potenzial der Langeweile“. Keen legt den Finger in die Wunde einer Zeit, in der immer etwas los sein muss, damit man sich spürt. Nur keinen Stillstand aufkommen lassen, nur nicht zur Ruhe kommen. Dabei ist genau das die Voraussetzung, unsere Erfahrungen zu reflektieren und uns zu verändern. Nichtstun und Träume haben, anderen mit Empathie begegnen – für Sam Keen sind das Haltungen auf dem Weg nach „oben“, zu mehr Gesundheit, Lebendigkeit und Engagement.

Darum geht es, wenn Menschen im Alter noch einmal neu beginnen und für andere, aber auch für sich selbst Verantwortung übernehmen – nun aber in einem Sinne, dass sie sich selbst zugleich realisieren und überschreiten. So wie Jakob, der nach Hause kommt – nun aber einen neuen Namen trägt. Sie erinnern sich an den Zweitgeborenen, der seinem Bruder Esau das Erbe abluchste –und seinem Vater Isaak den Segen. Ein junger Mann, voller Hunger nach Leben, dem jedes Mittel Recht scheint, um zu bekommen, was das Schicksal ihm verweigert: Land und Herden, die dem Erstgeborenen zustehen, eine große Familie und viele Nachkommen, eben Erfolg und Segen. Der Schwindel fliegt auf und Jakob flieht durch die Wüste zu seinem Onkel Laban. Er wird sich durchkämpfen durch die Widrigkeiten der kommenden Jahre und es wird ihm tatsächlich gelingen, sich nach und nach den Reichtum aufzubauen, von dem er geträumt hatte – und es scheint tatsächlich, als stünde ihm der Himmel offen. Davon erzählt der Traum von der Himmelsleiter, den er auf der Flucht geträumt hatte.

Interessanterweise lässt uns die Geschichte diesem Jakob noch einmal begegnen – in einer anderen Nacht, gegen Ende seines Lebens. Es ist eine Art Gegengeschichte – denn Jakob ist auf dem Weg zurück, um sich mit Esau zu versöhnen. Seine Herden, seine Frauen und Kinder hat er am Ufer gelassen; er ist allein, als er in der Nacht am Fluss Jabbok mit seiner unbekannten Macht ringt. Noch einmal geht es um den Segen – jetzt aber nicht mehr in diesem äußeren Sinne von Erfolg, Land und Besitz, sondern in einem inneren Sinn. Es geht um die eigene Integrität, um das Akzeptiertwerden – nicht nur von der Familie, sondern letztlich von Gott. Am Ende ist Jakob verletzt – er hinkt, aber er geht der Sonne entgegen. Und er ist ein anderer geworden oder in einem tieferen Sinne er selbst: von jetzt an trägt er den Namen Israel.

Der Maler Max Beckmann hat die beiden Gottesbegegnungen Jakobs in einem einzigen Holzschnitt dargestellt – er zeigt Gott mit Jakob auf der Leiter. Wie Jakob sich festhält an dieser Gottesgestalt und doch zu fallen droht in die Tiefe und Dunkelheit des Flusses. Von oben aber, von der Spitze der Leiter, strahlt Licht ins Bild – die aufgehende Sonne. Es ist, als zöge sie den Fallenden nach oben. „Ich bin in meinem Leben oft gefallen, sei es in Beziehungen oder im Beruf, emotional oder körperlich, doch immer gab es einen Trampolineffekt, der bewirkte, dass ich letztlich nach oben gefallen bin“, schreibt dazu der Franziskanerpater Richard Rohr.

Jakobs Weg wird beschrieben wie eine Schrittfolge in einem Coaching-Prozess; sie ist mir zum Symbol für Wege des Wandels und der Veränderung geworden: Wir werden herausgerufen aus dem Gewohnten. Wir finden Mentoren, die uns über die Schwelle begleiten. Wir müssen Prüfungen und Kämpfe bestehen und haben Erfolge. Und dann kehren wir mit allem, was wir erreicht haben, den Rückweg an und müssen noch einmal eine Schwelle überschreiten – uns auch mit unseren Schatten auseinandersetzen – und mit unserer tiefsten Sehnsucht. Und dabei wird spürbar: wir sind ein anderer geworden. Während wir im Außen unterwegs waren, sind wir zugleich einen inneren Weg gegangen.    

          

7. Herzensgebet und Achtsamkeit

„Winterarbeit“ nannte Kurt Rose, ein inzwischen verstorbener Freund, sein letztes Buch. Ich denke dabei an die Erfahrung der „Entlaubung“, die Hannah Arendt im Alter beschrieb. Es ging um den Verlust von Freunden, um das Gefühl, auf der Welt ohne die gewohnten und geliebten Gesichter, nicht mehr zu Hause zu sein. Im Dezember 1973 schrieb sie an ihre enge Freundin Mary McCarthy, sie habe nichts dagegen, sich auf das eigene Sterben als einen Prozess der Transformation einzulassen, aber das, was ihr wirklich etwas ausmache, sei die „stufenweise“ Transformation der vertrauten Welt in eine Art Wüste. Winterwüste. Aber wenn die Blätter fallen und die Äste kahl in den Himmel ragen, werden auch die Konturen deutlicher; wir sehen klarer. Was zeitbedingt war, tritt zurück – aber die wesentlichen Fragen werden zeitlos und präzise gestellt. Wozu sind wir hier? Was ist das Leben wert? Worauf dürfen wir hoffen? Ein neuer, ein offener Raum entsteht, auch der innere Raum weitet sich – wir gewinnen „Durchblick“ – unser Blick auf Gott und die Welt ändert sich. Die Geschichten von Simeon und Hanna und auch die von Jakob zeigen: es geht dabei auch um eine neue Geburt.

Ist es also doch die bewusste Auseinandersetzung mit der Endlichkeit, die dem Altern Tiefe gibt? Jedenfalls kann die kürzer werdende Zeit auch ein Energieschub sein, die Neuanfänge ganz bewusst wahrzunehmen und zu gestalten. Und umgekehrt: Wenn unser Alltag neue Tiefe gewinnt, lernen wir möglicherweise ganz nebenbei, mit unserer Sterblichkeit umzugehen. Die Kieler Praktische Theologin Sabine Bobert sieht das orthodoxe Herzensgebet als eine Möglichkeit, uns auf das Wesentliche zu zentrieren und Ruhe, Gelassenheit und Frieden zu finden. Es geht dabei nicht um viele Worte, sondern eigentlich nur um eine Gebetsformel wie das 1500 Jahre alte „Jesus Christus, erbarme dich meiner“ oder das „Liebe umgibt mich“ aus der Wolke des Nichtwissens. Diese Form des Gebets und der Meditation hat viel gemeinsam mit der mystischen Versenkung und den Mantren im Buddhismus, der die Generation der 68er Blumenkinder mitgeprägt hat. Auch hier geht es um die Konzentration auf den Atemrhythmus, eine Erfahrung von Führung aus der Mitte, die gerade im Übergang in einen neuen Lebensabschnitt sehr wichtig ist.

Ich bin dankbar, dass die christliche Tradition mir einen Deutungsrahmen gibt, in dem ich zu Hause bin, den ich zugleich immer neu füllen kann. Für die alten Lieder und Choräle, die ich gelernt habe. Aber ich freue mich auch daran, religiöse Traditionen des Judentums und des Islam erlebt zu haben: die Ramadan-Leuchten in den Straßen von Kairo oder Beirut, die festlichen Iftar-Essen, die Stille auf den Straßen am Großen Versöhnungstag in Jerusalem. Und auch die buddhistischen Tempelglocken in Thailand. Das alles hat auch meinen Blick auf das Christentum bereichert –auf das Fasten und Feiern, auf Veränderung und Versöhnung. Ich kann dem Gedanken von Willigis Jäger viel abgewinnen, der Religion mit einem Glasfenster vergleicht. „Es bleibt dunkel, wenn es nicht von hinten durch das Licht erhellt wird. Dieses Urlicht ist selbst nicht sichtbar, bekommt aber im Glasfenster der Religion Struktur und wird für jeden Menschen begreifbar. (…) Wir sollten aber „nie vergessen, dass nicht das Glasfenster das Letzte ist, sondern das Licht, das dahinter leuchtet.

Das Christentum der Zukunft wird mystisch sein, schrieb Jörg Zink. Und Sabine Bobert will mit ihren Übungen einladen, sich ganz und offen auf das Leben, auf Gott einzulassen. „Die mystische Erfahrung der Unio setzt voraus, dass wir von Barrieregefühlen frei geworden sind“, schreibt sie – von Gefühlen wie Hass, Angst, Wut, Neid, Lähmung und Zweifel. Solche Gefühle entfremden uns voneinander und von uns selbst; sie schneiden uns von unserer Wesensmitte und von Gott ab. Im Alltagsstress unterdrücken wir sie oft, schieben sie einfach beiseite – aber wenn plötzlich Zeit und Raum dafür ist, am Beginn der dritten Lebensphase zum Beispiel, können die alten Gespenster noch einmal richtig munter werden. „Sie wollen uns keine Angst einjagen; vielmehr wollen sie endlich in Rente gehen“, schreibt Brigitte Hieronimus in ihrem Buch „Mut zum Lebenswandel“, das dabei helfen will, die biographischen Erfahrungen im Alter sinnvoll zu nutzen. Situationen und Menschen, die uns schwierige Erfahrungen in Erinnerung rufen, nennt sie deshalb „Entwicklungshelfer“, „weil sie dazu beitragen, das Blockierte in uns wieder wahrzunehmen.“ Und zu versöhnen mit alten Widersachern, uns auszusöhnen auch mit den Ecken und Kanten auch des eigenen Lebens.

Der Weg bildet sich im Gehen. Das entspricht unserer heutigen Alternserfahrung, die ja gerade nicht so selbstverständlich auf geprägte Altersbilder zurückgreifen kann. Auch wenn ich nicht weiß, woher der Wind demnächst weht und wie hoch die Wellen schlagen werden – ich verlasse mich darauf, dass sie mich am Ende ans Ufer spülen ich meine Füße wieder auf Land setzen kann. Surfer empfehlen, sich im schlimmsten Fall den Wellen lieber zu überlassen, als dagegen anzukämpfen – und einfach nur darauf zu achten, dass man genügend Luft bekommt und atmet. Und darauf zu vertrauen, dass das Wasser trägt. Dieses Vertrauen ist eine entscheidende Dimension der Spiritualität. In der Praxis zeigt es sich in der Meditation und im Singen von Chorälen wie in Gebeten, im Tagebuchschreiben wie auf Wegen durch die Natur und auch in der Begleitung anderer. Es geht darum, von Zukunftsangst frei zu werden und im eigenen Hier und Jetzt die Gegenwart der Ewigkeit zu spüren.

 

8. Und nun – wie weiter?

Seit 2015 kommen die Babyboomer ins Rentenalter. Und in noch einmal 20 Jahren, 2050, wird die Zahl der Über-60-Jährigen zwischen 35 und 42 Prozent liegen. Entsprechend steigt auch die Zahl der Hochbetagten – je nach Höhe der Lebenserwartung von 3,0 Millionen 1998 auf eine Zahl zwischen 9,9 und 13,1 Millionen im Jahr 2050. Im Jahr 2030 werde ich selbst bald die Hochaltrigkeit erreicht haben. Der Prozentsatz der unter 20-jährigen in Deutschland liegt dann wahrscheinlich bei unter 20 Prozent.

Was bedeutet das für die Kirche, die pastorale Begleitung und die Entwicklung sorgender Gemeinschaften? Ich wünsche mir eine Kirche, die Menschen ganz bewusst darin unterstützt, das Alter mit all seinen Veränderungen souverän zu gestalten und damit auch anderen Mut zu machen zum Leben und Sterben. Das kann nur gelingen, wenn wir im Dritten Lebensalter das Vierte nicht verdrängen. Wenn Angehörige, Nachbarn und Ehrenamtliche aktiv werden und ihre Erfahrungen miteinander teilen. Wenn also Pfarrerinnen und Pfarrer, aber auch Ärztinnen und Pflegende sich als Unterstützer von Nachbarschaften, Pflegebedürftigen und Angehörigen verstehen und wenn Kirchengemeinden, Pflegedienste und stationäre Einrichtungen zusammenarbeiten. Wir wissen, dass Alter heute sehr viel differenzierter und bunter ist als in früheren Generationen. Das kann aber nun nicht heißen, immer mehr und differenzierte Angebote nur für diese Zielgruppe zu machen – vielmehr geht es um generationenübergreifende Arbeit. In manchen Gemeinden gibt es inzwischen Konfirmandenarbeit mit Goldkonfirmanden – und ich wünsche mir viel mehr Gelegenheiten, bei denen sich die Generationen auch über ihre Glaubenserfahrungen austauschen. Auf einer lebendigen Suche nach dem lebendigen Gott – Zweifel eingeschlossen.

Die Ärztin Beate Jakob vom DIFAEM, die in Indien an Gesundheitsprojekten mit Kirchengemeinden arbeitete, versteht Gemeinden als Orte des Zuhörens, wo mehr zu finden ist als praktische Hilfe oder das gemeinsame Finden von Lösungen. Wo zu spüren ist, dass Menschen bei einem sind, die neuen Mut und Energie geben. Und wo im gemeinsamen Gebet Gottes Geist als Kraftquelle erfahrbar ist. „Mein Anliegen ist, dass in Gemeinden „geschützte Räume“ entstehen“, sagt Beate Jakob in einem Interview auf meinem Pilgerorte –Blog. „Im Englischen spricht man von „safe“ oder „sacred spaces“ und meint damit Orte/Räume/Begegnungsmöglichkeiten, an denen sich Menschen frei und offen begegnen und austauschen können, anstatt eine Rolle spielen zu müssen. Das kann zum Beispiel ein Gesprächsangebot sein, ein Hauskreis, eine Trauergruppe usw. – Orte, wo Menschen sich nicht als stark und als „Sieger“ präsentieren müssen, sondern auch einmal ihre Masken ablegen und ihre Schwachheit und Hilfsbedürftigkeit benennen dürfen. Dadurch wächst in Gemeinden auch das Bewusstsein, nicht eine Gemeinschaft von Starken zu sein, sondern von Un-Perfekten, die alle auf Gottes Gnade angewiesen sind.“ Ein schöner Gedanke: Sich versöhnen mit dem Un-Perfekten! Das steht an im Alter: nicht Selbstoptimierung, sondern Selbstakzeptanz. „Am Ende der Suche und der Frage nach Gott“, schrieb Dorothee Sölle, „steht keine Antwort, sondern eine Umarmung.“

Cornelia Coenen-Marx, 04.02.2018, Kaiserswerther Tagung „Theologie des Alters“

 

Literatur:
Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, Zürich 2013 [The Human Condition, Chicago 1958; deutsch München 1967].
Petra-Angela Ahrens: „Uns geht’s gut“ Generation 60 plus. Religiosität und kirchliche Bindung, Münster 2011
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Der Siebte Altenbericht der Bundesregierung. Sorge und Mitverantwortung in der Kommune Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften, Berlin 2016. Broschüre zu Themen und Zielen des Siebten Altenberichts im Internet: https://www.siebter-altenbericht.de/index.php?eID=tx_nawsecuredl&u=0&g=0&t=1478256145&hash=e061c4e0e9811a8655963338a9ee22eb59bb0cd7&file=fileadmin/altenbericht/pdf/Broschuere_Themen_Ziele_Siebter_Altenbericht.pdf
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland: Altersbilder in der Gesellschaft, Berlin 2010. Im Internet zugänglich: https://www.bmfsfj.de/blob/77898/a96affa352d60790033ff9bbeb5b0e24/bt-drucksache-sechster-altenbericht-data.pdf
Deutsches Zentrum für Altersfragen: Deutscher Alterssurvey 2014. Zentrale Befunde, Berlin 2016. Kurzfassung im Internet: https://www.dza.de/fileadmin/dza/pdf/DEAS2014_Kurzfassung.pdf
Bernhard Gückel: Politische Implikationen des demografischen Wandels, in: Bevölkerungsforschung aktuell. Informationen über aktuelle bevölkerungswissenschaftliche Themen und Nachrichten aus dem BiB / Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Bd. 37/2016
Thomas Klie: Caring Community – Verständnis und Voraussetzungen von Verantwortungsübernahme in lokalen Gemeinschaften, in: Beate Hofmann, Cornelia Coenen-Marx (Hg.): Drama, Symphonie oder Powerplay – Haupt- und Ehrenamt in der Kirche‎, Kohlhammer April 2017
Andreas Kruse: Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter. Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg mit Unterstützung des Generali Zukunftsfonds; PDF im Internet: http://www.uni-heidelberg.de/md/presse/news2014/generali_hochaltrigenstudie.pdf
Caitrin Lynch: Geht’s noch? – Die Rentner-GmbH, Bielefeld 2016
Ralf Mai: Die Alten der Zukunft. Eine bevölkerungsstatistische Datenanalyse, Wiesbaden 2003
Julia Simonson, Claudia Vogel und Clemens Tesch-Römer (Hrsg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland – Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2016. Kurzfassung im Internet: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/freiwilliges-engagement-in-deutschland-/96254
Cornelia Coenen-Marx, Die Seele des Sozialen, Neukirchen 2013
Cornelia Coenen-Marx, Aufbrüche in Umbrüchen, Göttingen 2016