Im Widerstreit der Meinungen – im Einsatz für das Ganze: Engagement aus der Kraft des Glaubens.

1. Wozu wir berufen sind – zur Wiederentdeckung eines alten Begriffs

Wann haben Sie das letzte Mal dieses Funkeln in den Augen eines Kollegen gesehen? Wann haben Sie zuletzt aus tiefster Überzeugung heraus geliebt, was Sie tun? Kompromisslos, begeistert, enthusiastisch? Das fragen Anja Förster und Peter Kreuz in ihrem Buch: „ Hört auf zu arbeiten![1], eine Anstiftung zu tun, was wirklich zählt“. Dabei geht es: nicht um die vielbeschworene Work-Life-Balance, sondern um eine lohnende Aufgabe, die Freude macht und unserer Berufung entspricht. Vielleicht ist Ihnen ja auch aufgefallen, dass die Frage nach der eigenen Berufung wieder wichtig geworden ist – in einer Welt, in der wir die Jobs und Positionen, die Wohnorte, Familien und Freundeskreise oft mehrfach im Leben wechseln, fragen sich viele, was der Sinn ihres Lebens ist und wofür sie gebraucht werden. Das gilt auch für Professionelle in der sozialen Arbeit und, wie ich meine, auch für Hauptamtliche in der Kirche. Die allermeisten haben in den letzten Jahrzehnten gelernt, das professionelle Handeln von ihrer innersten Bewegung abzuspalten. „Professionalisierung heißt immer auch Vereisung“, schreibt Andreas Heller. Dabei helfe uns die Sorge füreinander reicher, lebendiger und sinnvoller zu leben. „ Wir brauchen Freunde und Freundinnen, eine Kultur der Freundschaft. Freundschaft begründet sich in dem Wissen, dass wir wohl immer mehr empfangen, als wir zu geben in der Lage sind.“


Die großen gesellschaftlichen Trends gehen allerdings in eine andere Richtung. Wo dauernd Zielerreichung und Abteilungsbudgets verglichen werden, zählt am Ende Konkurrenz mehr als Kooperation. Wo das zur Verfügung stehende Fachwissen explosionsartig zunimmt, wird Erfahrung durch Innovation entwertet. Und angesichts der wachsenden Mobilität, der realen wie der virtuellen, bedroht die schiere Zahl der Lebens- und Arbeitsbeziehungen die Dauer der Bindungen. Unser Leben droht in einzelne, aneinander gereihte Projekte zu zerfallen: den Job, den Wohnort, den Lebensabschnittspartner. Wer nur einen Zeit- oder Werkvertrag bekommt, wer nicht mehr mit einem festen Einkommen rechnen kann, stellt alles auf den Prüfstand was Menschen bindet: Haus, Wohnort und Familienplanung. Vielleicht stehen Familie und Freundschaft, aber auch Nachbarschaft und Gemeinwohl gerade deshalb so hoch im Kurs, weil wir spüren, wie viel Illusion in unserer Vorstellung von Autonomie und Machbarkeit steckt, wie viel Kälte in der Funktionalisierung, wie wenig Nachhaltigkeit in der bloßen Marktlogik.

Kein Wunder also, dass auch hauptamtlich Mitarbeitende in Diakonie und Kirche auf der Suche nach der eigenen Berufung sind. Manche finden sie, indem sie sich weiterbilden, sich spezialisieren oder selbständig machen. Mit einem Kinderhospiz, einer Wohngemeinschaft für Komapatienten wie Haus Ceres in Mössingen oder einem Leihoma- Projekt. Andere suchen neben ihrem Job ein ehrenamtliches Standbeim, einen Ort, an dem sie ihre Berufung leben können: eine Tragschule, eine Imkerei vielleicht, ein Theaterprojekt. Oft fließen die frischen Energien dann ins Hauptamt zurück.

Wenn die Spannung zwischen Haupt- und Ehrenamt in der Kirche in den letzen Jahren zugenommen hat , dann liegt das also nicht nur an knapper werdenden Ressourcen, sondern an dieser Sehnsucht, gebraucht zu werden und die eigene Berufung zu finden, die beide – Haupt- und Ehrenamtliche miteinander teilen. Die einen wollen sich nicht auf ihre Professionalität reduzieren lassen, die anderen fühlen sich unterschätzt, wenn man ihnen ihre Kompetenzen abspricht. Bei knapper werdenden finanziellen Ressourcen, bei zurück gehenden Stellen möchten die einen nicht nur managen, die anderen nicht nur umsetzen und ausführen. Besonders stark scheint mir dieser Konflikt jenseits des Pfarramts im Blick auf Jugendmitarbeiter, Pflegekräfte, Sozialpädagogen. Schließlich haben in diesen Feldern Hauptamtliche wie Ehrenamtliche Anteil am Priestertum aller Getauften wie auch am allgemeinen Diakonat, der unsere Kirche ausmacht

„Die Grundfrage an unsere evangelische Kirche lautet: Wird sich bei hauptamtlich Mitarbeitenden und ehrenamtlich Engagierten ein Paradigmen- und Mentalitätswechsel vollziehen, der die evangelische Kirche auf die neue Situation ausrichtet und ihre Chancen zu ergreifen sucht?“[i] fragt das EKD- Impulspapier „Kirche der Freiheit“[ii] Das wird bedeuten, in den Reformprozessen darauf zu achten, dass die zukünftige Gestalt der Kirche nicht nur von der Gestalt einer durch öffentliche Mittel finanzierten hauptamtlichen Organisation her weiter entwickelt wird, sondern dass innovative Ideen und Netzwerke aus den Gemeinden in die Zukunftsentwicklungen eingehen. Die Gaben und Erfahrungen der ehrenamtlich Engagierten müssen eben so viel Gewicht haben wie das Bemühen um Sparmaßnahmen und Fusionen. Vor allem die so genannten Laien sind Brückenbauer zwischen Kirche und „ Welt“. Wer das Ehrenamt als Brückenpfeiler stark macht, stärkt auch die Kirche als Hoffnungskraft in der Gesellschaft. Denn dazu sind wir berufen: mit unserem Leben Hoffnung zu geben, dass wir einer guten Zukunft entgegen gehen.

 

2.Alles auf Anfang ? Ehrenamt, Beruflichkeit und Gemeinwesenorientierung

Unsere Gesellschaft ist in besonderer Weise durch Vereine und Verbände, durch Genossenschaften und weltanschauliche Vielfalt geprägt. Dazu hat die Ehrenamtsbewegung des 19. Jahrhunderts entscheidend beigetragen. Gleich ob Diakonie oder Jugendarbeit, Arbeiter- oder Sportvereine, Genossenschaften, Ökumene oder Pressearbeit- diese Zeit ist geprägt von einer Vielzahl von Initiativen aus Kirche und Gesellschaft. Das bürgerschaftliche Engagement boomte genauso wie das Mäzenatentum der bürgerlichen Kreise. Man nutzte die Chancen der ersten Globalisierungswelle und suchte Antworten auf ganz neue Herausforderungen: Zum grenzüberschreitenden Handel und der wachsenden Mobilität ging auch damals mit Armut und prekären Beschäftigungsverhältnissen, mit überforderten Familien, der Vernachlässigung von Kindern und Pflegebedürftigen einher.

Die Gründergestalten der neuzeitlichen Diakonie- Wichern und die Fliedners, Amalie Sieveking und Bodelschwingh und viele andere reisten quer durch Europa, um die Zusammenhänge zu verstehen und neue Initiativen zu entdecken. Dabei stand für sie außer Zweifel, dass die Herausforderungen ihrer Zeit zugleich Herausforderungen an ihren Glauben waren. Sie rechneten damit, dass ihnen in den vernachlässigten Kindern, den allein gelassenen Kranken, den jungen Leuten im Gefängnis Gott selbst begegnen würde- so wie Jesus es im Gleichnis vom großen Weltgericht erzählt. „ Alles, was ihr getan habt meinen geringsten Brüdern, das habt Ihr mir getan“.

Dass also die einfachen Gesten Zeichen des Glaubens sein können- Hungrige speisen, Gefangene besuchen, Nackte kleiden- ja, dass sie sogar Glaubenserfahrung ermöglichen, das habe ich in meiner Mönchengladbacher Gemeinde im Gemeindeladen erfahren: einem niedrigschwelligen Cafe mit Kleiderkammer. Wie es einen Menschen aufrichten kann, wenn er sich trotz Armut attraktiv kleiden kann – und wie glücklich es andere macht, etwas Schönes für ihn auszusuchen! Oft musste ich an die Geschichte vom verlorenen Sohn denken, dem sein Vater Schuhe anzog und einen Ring an den Finger steckte. Und wie nährend es sein kann, einem Traurigen bei einem Stück selbst gebackenen Kuchen und einer Tasse Kaffee einfach einmal zuzuhören – so, dass er nach Monaten der Einsamkeit wieder Freundschaft spürt. Es geht anscheinend um etwas ganz Alltägliches – aber Gott ist eben auch in den kleinen Dingen, wie die Gleichnisse Jesu zeigen. Wir müssen uns bücken und erden, um ihn zu entdecken – man übersieht ihn leicht, wenn man schon glaubt, zu wissen, wer er ist. So wie die Frommen im Gleichnis vom großen Weltgericht gar nicht gemerkt haben, wen sie vor sich hatten. Für die Werke der Barmherzigkeit wie für die Demut steht übrigens eine Fürstin, die tatsächlich von ihrem Schloss herabstieg: Elisabeth von Thüringen. Die Wundergeschichten, die von ihr erzählt werden, lassen ahnen, dass es auch in diesem schlichten Tun um Glaubenserfahrungen geht. Das Brot, das sie im Korb zu den Armen herunter trug, wandelte sich vor dem Mißtrauen ihres Gatten in Rosen und der Leprakranke im Ehebett wurde zu Christus selbst.

Unerschrockene Nüchternheit und bedingungslose Hingabe kennzeichnen den Weg auf den Spuren Jesu. „ Man muss die Tiefe der Wirklichkeit mit den klaren Augen des Glaubens sehen, um sie mit den rettenden Armen der Liebe zu gestalten“, sagt Wichern. So gaben seine Bruderhäuser jungen Männern aus schwierigem Umfeld Ausbildung und Beruf, damit sie anderen Zukunft ermöglichen konnten. Und die Diakonissenmutterhäuser bote Pflege für die Kranken, zugleich aber berufliche Perspektiven für unverheiratete Frauen. Nicht nur das Priestertum aller Getauften sondern auch die Aufwertung des weltlichen Berufs gehört zur Wirkungsgeschichte der Reformation. Nicht mit einem besonderen heiligen Leben sondern in den ganz alltäglichen Vollzügen des Dienstes entsprechen Christinnen und Christen ihrer Berufung.

Es ist diese Erfahrung, gebraucht zu werden, nach der sich heute wieder viele Menschen sehnen- Berufsträger wie Hartz-IV-Empfänger, Frührentner wie abgehängte Jugendliche und die vielen, die nicht mehr mithalten können in der beschleunigten Arbeitswelt – die Mütter kleiner Kinder, Menschen mit Behinderung und psychisch Kranke. All die Abgehängten, die das Gefühl haben, auf sie käme es nicht mehr an. Die modernen Arbeitssklaven, von der Globalisierung über die Kontinente gekarrt. In manchem gleichen die Herausforderungen der weltweiten Globalisierung denen des 19. Jahrhunderts und manche Probleme, die wir längst überwunden glaubten, kehren in neuem Gewand zurück.

 

3. In der Transformation- zur Rolle des Ehrenamts in der neuen Sozialkultur

Dabei ist aus den diakonischen Aufbrüchen des letzten Jahrhunderts längst ein gut ausgebauter Sozialstaat geworden. Erziehungs- und Pflegeleistungen werden aus Steuern und Sozialversicherungen finanziert, die Rechte der Einzelnen gegenüber Kranken- Renten- und Unfallversicherung sind weit ausgebaut und die professionellen Standards sind von den Weltanschauungen weitgehend unabhängig. Ob aber die Struktur dieses Wohlfahrtsstaats krisenfest ist- angesichts der wachsenden Staatsverschuldung, des demographischen Wandels, veränderter Geschlechterrollen und Familienkonstellationen- das steht noch dahin. Vor lauter Effizienzdenken und Effizienzsteigerung habe man den roten Faden verloren, sowohl individuell als gesellschaftlich, sagt Stefan Grünewald vom Institut Rheingold. Dieses Gefühl wirke beängstigend. Die Menschen blickten in ein schwarzes Loch und fragten sich, was als nächstes kommen werde. Es herrsche der Wunsch nach Sicherheit.

Aber die soziale Struktur unserer Gesellschaft ist im Umbruch. Und dabei geht es um mehr als um die fiskalische Krise der sozialen Sicherungssysteme . Zwar wirken sich prekäre Beschäftigungsverhältnisse, unterbrochene Erwerbsbiografien und Teilzeitbeschäftigungen auf die Stabilität der Sozialsysteme aus – aber der demographische Wandel und die Veränderung von Familien und Geschlechterrollen reichen tiefer: sie verändern das Design unseres Zusammenlebens. Die alte Rollenaufteilung, nach der die erwerbstätigen Männer das Geld für diesen Sozialstaat erarbeiten, während Frauen sich in Familie, Nachbarschaft und Gemeinde unentgeltlich fürs Soziale engagieren, trägt nicht mehr. Und die traditionelle Form der Subsidiarität, nach der vor allem die Verbänden und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, auskömmlich finanziert, dafür zuständig waren, soziales Handeln professionell zu gestalten, ist auch längst Geschichte.

Vielleicht stehen wir am Ende einer langen Phase der Sozialstaatsentwicklung, die mit der neuzeitlichen Diakonie begann. Mit Initiativen und Vereinen, die sich aus der Kirche heraus, aber eben auch neben der Staatskirche entwickelten und schließlich deren öffentlichen Einfluss wieder stärkten. In einer Gesellschaft, in der Christengemeinde und Bürgergemeinde noch zusammen fielen, konnte Wichern mit der Rede vom allgemeinen Diakonat noch alle Bürger ansprechen: Christlicher Glaube und Alltagshandeln waren zwei Seiten der gleichen Medaille. Und auch berufliches und ehrenamtliches Handeln entwickelten sich miteinander.

Aber das Verhältnis von Ehrenamt und Hauptamt, von Geschwisterschaft und Hierarchie, von Bewegung und Organisation hat sich in der evangelischen Kirche immer wieder verändert. Nach den Aufbrüchen des 19. Jahrhunderts, die in hohem Maße durch Ehrenamtliche geprägt waren, nahm um die Jahrhundertwende der Sozialstaat mit seinen bezahlten Fürsorgeleistungen Gestalt an – und dazu gehörten von Anfang an Hauptamtliche in den staatlichen und kirchlichen Organisationen, aber auch Ehrenamtliche aus Bürgertum und Arbeiterschaft, Frauenbewegung und Humanismus. Seit der Trennung von Kirche und Staat war der Sozialstaat weltanschaulich offen, aber – mit Ausnahme des Dritten Reiches- immer noch subsidiär geprägt. So konnten sich die Kirchen in den 60er- und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht zuletzt dank öffentlicher Mittel und starker Kirchensteuereinnahmen zu differenzierten hauptamtlichen Organisationen entwickeln – Jugendarbeit und Schulen, Bildung und soziale Arbeit wurden und werden zum Teil zu mehr als 80 Prozent staatlich und zu 100 Prozent aus Sozialversicherungen refinanziert.

Angesichts schrumpfender öffentlicher Etats gewinnt ehrenamtliches Engagement auch gesellschaftlich an Bedeutung. Dahinter stehen neue Konzepte des Sozialstaats, aber auch ein wachsendes Selbstbewusstsein der Zivilgesellschaft. So zeigt der letzte Freiwilligensurvey der Bundesregierung einen neuen Ausgleich von Ich- und Wir-Orientierung, weg von der Geselligkeitsorientierung hin zu Gemeinwohlorientierung. Und parallel entwickeln sich auch in der Kirche Gemeinwesendiakonie, Tafelarbeit und Nachbarschaftshilfen zu wichtigen ehrenamtlichen Arbeitsfeldern. Manche fürchten allerdings nicht zur Unrecht, dass die Ehrenamtlichen zum billigen Jakob von Kirche und Sozialstaat geworden sind. Ehrenamtliche Küster sind längst keine Seltenheit mehr; Eltern streichen die Klassenräume ihrer Kinder, ganze Gemeindegruppen putzen die Kirche. Und tatsächlich mutet es merkwürdig an, wenn im Kontext der Einführung des Mindestlohns immer wieder betont wurde, dass die 8,50 nicht Ehrenamtliche gelten.

Längst gibt es offenbar eine Grauzone zwischen dem klassischen Ehrenamt und prekären Beschäftigungsverhältnissen- mit Übungsleiterpauschale, Bürgerarbeit und Minijobs. Langzeitarbeitslose im Osten, die den Bundesfreiwilligendienst für sich entdeckt haben, und Rentnerinnen mit kleinen Renten gehören zu den Ehrenamtlichen, die ihre Aufgabe ganz ähnlich sehen wie einen Beruf- Und die es sich in der Regel nicht leisten können, nur für Ehre und Anerkennung zu arbeiten. Studien, die in den Blick nehmen, aus welchen Schichten und Milieus die Engagierten kommen, zeigen deutlich: sie sind gut ausgebildet, mit gut situierter Familie und Freundeskreis, oft an vielen Stellen zugleich engagiert. Es gilt das Matthäusprinzip. Wer hat, kann weitergeben. Wer aber wenig an Ressourcen mitbekommen hat, der findet oft den Einstieg nicht. Können Bundesfreiwilligendienste, Übungsleiterpauschalen, Minijobs hier Rückenwind zu geben? Oder was können Kirchengemeinden sonst tun, um auch diejenigen zum Engagement einzuladen, die sich bisher als Hilfeempfänger verstanden haben? Menschen mit Behinderung zum Beispiel, oder auch Arbeitslose ? Wie können wir ernst machen mit der Idee einer Gemeinde von Schwestern und Brüdern, in der die verschiedenen Ämter der Kirche keine Hierarchie bilden ? Diese Zielbestimmung aus der Theologischen Erklärung von Barmen 1934 wird nicht nur im Ehrenamtsgesetz der rheinischen Kirche zitiert- sie bleibt eine Zielsetzung für die Kirche der Zukunft.

 

4. Kirche in gesellschaftlichen Umbrüchen – vom Wandel des ehrenamtlichen Engagements

Die Mitgliederzahlen gehen insgesamt zurück, aber die Zahl der Ehrenamtlichen in der Kirche ist zwischen 1999 und 2009 sogar gestiegen[2]. Neben Sport und Bildung gehören Kirche und Religion noch immer zu den größten Engagementbereichen in unserem Land. Eine Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD[3] aus dem Jahr 2013 zeigt: Die meisten kirchlich engagierten Ehrenamtlichen geben die Kirchengemeinde als Ort bzw. Rahmen ihrer Tätigkeit an. Übrigens wird der Ehrenamt nach wie vor eher im kirchlichen Kontext genutzt , während in der Diakonie von freiwilligem Engagement gesprochen wird. Gerade in der Kirchengemeinde, so die Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts, haben Engagierte oft mehrere Ehrenämter. Und es sind oft diese Hochengagierten, die Gemeinden oder Einrichtungen dann auch im Leitungsamt tragen. Hier könnte allerdings auch einer der Gründe dafür liegen, dass es in vielen Landeskirchen schwieriger geworden ist, Menschen für Leitungsaufgaben zu gewinnen. Dabei ist auch bei denen, die sich anderwo- in Sport und Schule oder in anderen Wohlfahrtsverbänden engagieren die Bindung zur Kirche stärker ausgeprägt als im Schnitt der Bevölkerung. Christinnen und Christen, die ihre Weltverantwortung beruflich oder ehrenamtlich nicht in der Gemeinde, sondern an anderer Stelle wahrnehmen, haben Wertschätzung und Unterstützung durch die Gemeinde verdient. Denn aus der Perspektive gesellschaftlicher Verantwortung wie im Blick auf die Gabenvielfalt liegen hier oft ungenutzte Chancen der Gemeindeentwicklung.

Schließlich hat nicht nur die Kirche Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen; das umgekehrte gilt eben auch. Das zeigt sich heute besonders deutlich in der Jugend- wie in der Frauen- und Altenarbeit. Ein großer Teil derer, die sich als Erwachsene engagieren, kommen aus der verbandlichen Jugendarbeit. Angesichts der Veränderungsprozesse in Schulen und Universitäten mit G8, Bologna und der Entwicklung hin zu Ganztagsschulen ist die außerschulische Jugendarbeit unter Druck geraten. Die Zeit für das Engagement in der Freizeit wird knapper, die Frage nach dem biographischen Nutzen wird wichtiger. Dagegen werden die Jugendfreiwilligendienste wie der Bundesfreiwilligendienst als Chance begriffen, sich an der Schwelle zwischen schulischer und universitärer oder beruflicher Ausbildung eine Zeit der Reflexion und Sinnsuche zu gönnen. Kirchengemeinden und Kirchenkreise werden sich darauf einstellen müssen.

Noch sind Gemeinde und Diakonie auch geprägt von den ehrenamtlichen Familienfrauen. Neben denen in der Familienphase, die sich vor allem in Tageseinrichtungen und Schulen engagieren, sind es Frauen über 50, gut gebildet und sozial abgesichert sind, die Gruppen und Initiativen tragen. Im Blick auf die Gemeinden geben 28 Prozent der Frauen, aber nur 22 Prozent der Männer an, sich außerhalb des Gottesdienstes am kirchlichen Leben zu beteiligen.[4] Rechnet man aber die diakonischen Arbeitsfelder mit, dann sind zwei Drittel der ehrenamtlich Engagierten in Kirche und Diakonie Frauen.. Männer dominieren – nicht nur in der Kirche- häufiger in Leitungsfunktionen und öffentliche Ämtern. Frauen prägen das soziale Ehrenamt in der Gesellschaft . Aber diese geschlechtsspezifische Rollenteilung verändert sich und wird auch die Ehrenamtskultur der Kirche verändern: Die wachsende Erwerbstätigkeit von Frauen, aber auch neue Familienmodelle und die Zerreißproben einer mangelnden Vereinbarkeit von Erwerbstägigkeit, Erziehung und Pflege machen es nötig, über neue Zugänge zum Ehrenamt, eine andere Verankerung in den Umbrüchen des Lebens und eine gerechtere Rollenteilung der Geschlechter nachzudenken. Zu den Konsequenzen zählen neue Fortbildungskonzepte und „Wiedereinstiegs-programme“ und insgesamt eine neue Achtsamkeit für Lebensübergänge, bei denen ehrenamtliches Engagement Neues ermöglichen kann: zwischen Schule und Beruf, in der Elternzeit oder auch beim Wiedereinstieg, in Pflegezeiten und zu Beginn des Ruhestands. Und auch die Verknüpfung von Ehrenamt mit Erwerbsarbeit stellt eine gesellschaftliche Herausforderung dar. Viele große Firmen von Henkel und Ford bis zur Deutschen Bank haben diese Herausforderung schon angenommen, ermöglichen Seitenwechsel und fördern das ehrenamtliche Engagement ihrer Mitarbeitenden. Kirche und Diakonie haben sie bislang noch selten als Partner entdeckt.

Neben der Frage der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbswelt wird in Zukunft die Arbeit in der Nachbarschaft zu den großen Herausforderungen gehören. Dabei spielen die so genannten „jungen Alten“ eine besondere Rolle. Sie sind häufig sozial und oft auch politisch engagiert, bringen breite Lebenserfahrungen, soziale Netze und berufliche Kompetenzen ein und sind damit Teil einer neuen, generationenübergreifenden und gemeinwohlorientierten Bewegung. Engagierte zwischen 60 und 69 bilden die zweitgrößte Ehrenamtsgruppe in der Kirche; und dabei tragen sie auch neue Projekte vom Mentoring bis zu Wohngemeinschaften.

Aber auch im Blick auf die jungen Alten hat Kirche längst keine sichere Bank mehr. Der letzte Freiwilligensurvey zeigt: die Zahl derer, die sich neben ihrem kirchlichen Engagement auch in anderen Organisationen, in Schulen oder Vereinen oder auch in ihren Betrieben und in der Politik engagieren, wächst. Und angesichts des wachsenden Pluralismus werden Kirche und Diakonie immer mehr darauf angewiesen sein, auch solche Menschen zu gewinnen, die nicht kirchlich sozialisiert sind. Sie sind am besten über die Arbeitsfelder anzusprechen, die ihnen am Herzen liegen- von der Hospiz-über die Tafelarbeit bis zur Begleitung von Flüchtlingen, der Quartiersarbeit und dem Engagement für ein inklusive Gesellschaft, von der Gospelbewegung bis zu den Kirchenkuratoren. Nicht alle, die sich in diesen Arbeitsfeldern engagieren, tun das als engagierte Mitglieder – aber sie zeigen sich offen für kirchliche Angebote der Qualifizierung und Profilierung und oft genug auch für Glaubenskurse und Gemeindeangebote. Es geht also darum, Engagierten Herberge und Heimat zu geben- und nicht mehr nur darum, sich aus einem Heimatgefühl heraus zu engagieren.

Dass aber das Engagement im kirchlichen Kontext eine Chance bietet, auch über Glaubensfragen ins Gespräch zu kommen, zeigt die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. So geben 10 Prozent der ehrenamtlich Engagierten an, dass sie sich mit anderen häufig über den Sinn des Lebens austauschen und 22 Prozent, dass sie mit anderen über religiöse Fragen sprechen. Bei den Nichtengagierten liegen die Prozentzahlen unter 10 Prozent. Ehrenamt bietet die Chance, Gemeinschaft zu erfahren; es ist zudem oft Ausdruck des Glaubens. Und anders als in anderen Arbeitsfeldern bietet die Kirche eben auch ganz spezifische ehrenamtliche Aufgaben, die Teil von Seelsorge und Verkündigung sind. Prädikantendienste und Seelsorgeaufgaben oder Kindergottesdienstarbeit, um nur einige zu nennen. Was wird in Zukunft an Zurüstung für diese Aufgaben gebraucht? Und wie weit lassen sie sich funktionalisieren? Kann man sich vorstellen, dass ein gutes Team mit einer ausgearbeiten Liturgie durch verschiedene Gemeinden reist und sich sozusagen spezialisiert? Oder welche Rolle spielen die Lebenszusammenhänge, in die Seelsorge eingebunden ist ? Kann man sich vorstellen, dass junge Teamer in der Kindergottesdienstarbeit den Kindern nur schrittweise voraus sind – oder was müssen sie mitbringen an Glaubenswissen?

Eine der bekanntesten Geschichten der Bibel, die Geschichte vom Barmherzigen Samariter, stellt die Frage, wer unser Nächster ist -oder besser: wem wir zum Nächsten geworden sind. Sie ist eingebettet in eine Rahmenerzählung, das Gespräch Jesu mit einem Schriftgelehrten. „ Wie kann ich das ewige Leben bekommen“, fragt der Mann. In der Sprache unserer Zeit: Wie wird mein Leben sinnvoll , was ist gutes Leben – was soll ich tun und was kann ich lassen ?“ Jesus antwortet mit der Geschichte von dem Mann, der unter die Räuber gefallen ist – und er nimmt dabei , ganz wie im Gleichnis vom großen Weltgericht, einen radikalen Perspektivwechsel vor. Er erzählt aus der Perspektive des Hilfebedürftigen. Dabei geht es nicht um ewige Wahrheiten, sondern um den Moment, in dem wir einander brauchen. Um die Herausforderung, die unsere Pläne stört. Es geht nicht um das perfekte Leben , sondern um Gemeinschaft über alle Grenzen hinweg.

In diesem Sinne gehören geistliche Erneuerung, Kirchenreform und soziales Engagement zusammen. Das wird in der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts besonders spürbar. Der historische Rückblick zeigt jedoch: alle kirchlichen Aufbrüche, die durch Laienbewegungen geprägt waren, haben besondere Akzente in geistlichem Leben und sozialem Engagement gesetzt. Jugendarbeit und Erwachsenenbildung hatten den Anspruch, sich selbstbewusst und mündig in einer komplexen Welt zu orientieren und den eigenen Glauben verantwortlich zu leben. Aber auch in der Friedens- und Ökologiebewegung haben sich Christinnen und Christen mit ihrem Engagement eingebracht. Und der konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung hat nicht unwesentlich zu Demokratisierungsprozessen in der früheren DDR beigetragen. In diesen Tagen wurde am Beispiel von Christian Führer daran erinnert, welchen Beitrag das zivilgesellschaftliche Engagement von Christen zur deutschen Einigung beigetragen hat. Das lässt darauf hoffen, dass engagierter und verantwortlich gelebter Glaube sich weiterhin „seine“ Engagementfelder sucht, und dass Menschen, die der Kirche auf solchen Engagementfeldern begegnen, dort auch den Glauben neu entdecken.

 

5. Zeitzeichen im Stadtteilladen

Es ist nun dreißig Jahre her, dass ich jeden Mittwochnachmittag an einem der kleinen Kaffeehaustische im Wickrather Gemeindeladen saß. Der Laden, bis kurz vorher ein altes Lebensmittelgeschäft in einem Stadtteil von Mönchengladbach war einer der wichtigsten Schritte zur Öffnung der Gemeinde ins Gemeinwesen. Ein offener Diakonieladen mit Cafe und Kleiderkammer, mit Büchereiarbeit und Sozialberatung, mit Bildungsangeboten und Mutter-Kind-Gruppen mitten in der Fußgängerzone der Kleinstadt. Er ist bis heute lebendig- getragen von mehr als 25 freiwillig Engagierten und professionell begleitet von einer Sozialpädagogin. Und das alte Motto: „Mach Dich auf, lass Dich ein“ prangt noch immer am Schaufenster. In himmelblauer Farbe.

Der Laden hatte nicht nur ein großes Schaufenster; er war selbst offenes Fenster für einen unvoreingenommenen Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen Wir hielten das Ohr in den Strom und nahmen auf, was kam- und immer fing es mit einfachen Gesten an- nicht mit Programmen. Kaffee einschenken, Kleider aussuchen, zuhören. Und gemeinsam neue Wege entdecken. Der Laden veränderte die Gemeinde- neue Ehrenamtliche kamen hinzu, Familien, die von Armut bedroht waren, der Sonntag für Alleinstehende entstand- das Ladenteam arbeitete ganz selbstverständlich mit Sportvereinen und dem Gewerbekreis zusammen. Die Gemeinde wurde vielfältiger, sie wurde bunter.

Bei der Feier zum „Silberjubiläum“ erzählt die Leiterin, wie sich die Herausforderungen und Angebote in diesen 25 Jahren mit der Gesellschaft verändert haben: da waren zunächst das Arbeitslosenprojekt mit vielfältigen Hauswirtschaftsdiensten und die Kurse für pflegende Angehörige. Die Mutterkind-Kurse, solange es noch keine Krippenplätze in der Tageseinrichtung gab, und die Mittagsangebote für Schulkinder, solange eine Ganztagsschule fehlte. Heute spielt die Entwicklung einer altersgerechten Stadt eine große Rolle – in einem neuen Netzwerk mit Stadt und Wohlfahrtsverbänden wird gerade ein Stadtplan für Ältere erarbeitet. Fast 30 Jahre Zeitgeschichte spiegeln sich in diesem Schaufenster der Stadt.

Unser Selbstbewusstsein verbindet sich mit der Erfahrung, etwas beitragen zu können zum Ganzen. Das gilt für alle Beteiligten: die ehrenamtlich Engagierten wie diejenigen, die im Laden Kontakt und Hilfe suchen. Sie alle haben etwas einzubringen. In unserer Arbeitsgesellschaft scheint jedoch nur noch zu zählen, was jemand beruflich leistet und verdient. Das zeigt sich selbst im Blick auf das Ehrenamt. Arbeitslose fallen aus allen Netzen heraus, während sich Erwerbstätige durchaus auch ehrenamtlich engagieren. Selbst unsere sozialen Sicherungssysteme hängen an der Erwerbsarbeit. Aber auch die Zeit, die Väter und Mütter, Töchter, Söhne und Partner mit Erziehungs- und Pflegeaufgaben verbringen, und die Zeit, die Menschen für ihre Nachbarn oder für Gemeindeglieder da sind, muss sich im Steuer und Sozialversicherungsrecht niederschlagen. Zurzeit gelingt das über das Ehegattensplitting und die Mitversicherung von Ehepartnern. Wer allerdings alleinerziehend ist oder in einer Patchworkfamilie lebt, hat davon keinen Gewinn. Und Familienfrauen, die um der Erziehung und Pflege willen zeitweilig zurück stecken, droht in Zukunft Altersarmut. Das kann dazu führen, dass angesichts der zunehmenden Verdichtung der Arbeitszeiten- die vielen Menschen, die auf andere angewiesen sind, nicht mehr die Nachbarschaftsunterstützung bekommen, die sie brauchen. Unsere Städte sind Sozialwüsten, sagt Reimer Gronemeyer. Und er spricht vom Triumph der Vereinzelung und der Zusammenhanglosigkeit. Am Ende bleibe nur die Lebensform der Versingelung oder der Anstalt. Und tatsächlich gehen viele Ältere in stationäre Einrichtungen, weil Haushalts- und Nachbarschaftshilfen fehlen.

Ohne Veränderungen in den Stadtteilen, ohne ein neues Selbstverständnis von Nachbarschaften und Vereinen, Schulen und Tageseinrichtungen, wird es nicht gelingen, eine neue und freundschaftliche Sozialkultur zu schaffen. Was haben Gemeinden gegen den Trend zu setzen ? Noch leben fast alle Projekte von den Tafeln bis zu Amtslotsen, von Mentorinnen und Mentoren bis zu Mehrgenerationenhäuser vom Engagement einzelner Initiativen. Ganz wie zu Beginn der diakonischen Bewegung sind es Sponsoren, die die Entwicklung voran treiben. Bürgerinnen und Bürger werden zu Anwälten deren, die selbst keine Kraft mehr haben, ihre Stimme zu erheben. Kirche und Diakonie können eine wichtige Rolle übernehmen, wenn sie zusammenarbeiten; sie haben die Chance, Quartiersarbeit und professionelle Fachlichkeit, bürgerschaftliches Engagement und soziale Beruflichkeit, Basisarbeit und politische Reflexion zu verknüpfen.

Angesichts des Ausblutens von Kommunen und des Verlustes an Gemeingütern ist zudem die Frage, wie wir als Kirche mit unseren Immobilien, mit den politischen Zugängen, die wir haben, mit unserem öffentlichen Auftrag umgehen. Wenn wir wollen, dass die Kirche im Dorf bleibt, müssen wir neu entdecken, wie viel uns noch immer zugetraut wird und was wir an Spezifischem zu geben haben: -.Denn auch, wenn Geld und Macht der Kirche schwinden: die Suche nach Spiritualität und nach Gemeinschaft hat nicht aufgehört- im Gegenteil: angesichts der Wüsten einer ökonomisierten Gesellschaft, angesichts der schmerzhaften Spaltungen sehnen sich die Menschen nach Gemeinschaft.

Die Diakoniedenkschrift der EKD mit dem schönen Titel „Herz und Mund und Tat und Leben“, die 1998 zum 150-jährigen Jubiläum der Inneren Mission veröffentlicht wurde, nennt die Aufgaben, die vor den Gemeinden liegen. Es geht darum,

  • die Distanz zwischen Kirchengemeinden und Diakonischen Diensten überbrücken
  • die Kontakte zu Betroffenen und zivilgesellschaftlichen Initiativen zu verbessern und ihre Bedürfnisse besser wahrnehmen und
  • schließlich die Vernetzung mit außerkirchlichen Initiativen im Gemeinwesen.

Manchmal müssen wir uns selbst in Erinnerung rufen, welches Sozialkapital Gemeinden mitbringen – an Kontakten, Netzwerken und Beziehungen, an symbolischen Orten, an gemeinsamer Geschichte mit Stadt und Quartier. Kirche ist stark, wenn sie mit den Menschen verbunden bleibt. Kirchenvorstände und Ehrenamtliche leben mit den Menschen im Stadtteil, die kennen die Brüche und Umbrüche, die Menschen erleben, noch bevor die Politik sie aufgreift.

Die EKD-Synode 2009 hat unter dem Motto „Ehrenamtlich. Evangelisch. Engagiert“ auch die anstehenden gesellschaftlichen Fragestellungen aufgenommen. „Ehrenamtliches Engagement ist ein zentraler Ausdruck des Glaubens und unersetzlich für den Zusammenhalt einer Gesellschaft“, heißt es in der der Kundgebung der EKD-Synode. „Gerade ein sich immer stärker ausdifferenzierendes und individualisierendes Gemeinwesen ist auf dieses Engagement angewiesen. Sich zu engagieren ist Ehrensache – es geschieht freiwillig, öffentlich, gemeinwohlorientiert, unentgeltlich. Soziale Netzwerke geben Menschen Halt und Orientierung“.

Die sozialwissenschaftliche Forschung ist der Frage nach dem Sozialkapital ehrenamtlich Engagierter nachgegangen.[5]: Menschen, die sich in Gruppen engagieren, entwickeln ein überdurchschnittlich hohes Vertrauen, eine positive Grundeinstellung in der Begegnung mit anderen. Und das gilt nicht nur für die anderen in der eigenen Gruppe, sondern auch gegenüber Fremden und Andersartigen. Hier wird der Kitt produziert, den ein größeres Gemeinwesen auch der Gegenwart braucht.

Dazu schreibt Eberhard Hauschildt: „Pfarrer/innen und andere hauptberuflich Tätige müssen professionelle Distanz wahren. Sie könnten sonst nicht idealerweise auf alle Fälle der Gemeinde eingehen und hin- und herschalten zwischen den Situationen tiefster Trauer und größter Freude, den Situationen nagenden Zweifels und unerschütterten Traditionalismus‘, denen sie im Verlauf eines Arbeitstages bei den Begegnungen in der Gemeinde ausgesetzt sind. Die Ehrenamtlichen hingegen haben nicht so viele „Fälle“. So können sie sich in viel größerer emotionaler Nähe engagieren und tun dies zugleich ganz privat. Darin stecken freilich auch Fallen.

In unseren großen Kirchen, die Teil einer religions- und weltanschauungspluralen Gesellschaft sind, sind Ehrenamtliche gleichwohl die glaubwürdigsten Vertreterinnen und Vertreter der Kirche. Die Hauptberuflichen mögen zwar differenzierter und komplizierter als Ehrenamtliche von Gott reden, aber sie bekommen dafür Geld und werden deshalb als Lobbyisten wahrgenommen. Es sind die Ehrenamtlichen, die erzählen können und verkörpern, was für einen Unterschied es für sie ausmacht, zur Kirche zu gehören und worin für sie ihr Glaube praktisch und relevant für die Lebensführung wird. Es wird deshalb wesentlich sein, die gesamte Organisation daraufhin auszurichten, ob und wie sie die Arbeit der ehrenamtlich Engagierten unterstützen kann. Evangelische Kirche ist in ihrem Kern eine „Ehrenamts-Kirche“, insofern als sie auf Gestaltung und Verantwortung aller Christinnen und Christen angewiesen ist

Die Reformprozesse, die damit notwendig werden, müssen zu Veränderungen im Profil hauptamtlicher Arbeit, den Prioritäten und Budgets führen. Da die Mehrheit der Ehrenamtlichen direkt in den Kirchengemeinden engagiert ist, brauchen auch die Gemeinden neue Strategien und Strukturen. Ehrenamtskoordination sollte eine Funktion der Gemeindeleitung werden und eng mit den Aufgaben und Funktionen des Kirchenvorstands verbunden sein. Die Aufgabe eines Ehrenamtskoordinators/ einer Koordinatorin selbst kann eine interessante ehrenamtliche Funktion/Tätigkeit sein – sie sollte professionell angegangen werden und wird meist im Team umgesetzt.

 

6. Erweckung: Ein neuer Aufbruch

„Wenn das Selbst aus dem Bild der Welt verschwindet, wird die Welt plötzlich sehr mächtig, sehr wunderbar. Es ist ein Augen öffnendes Erlebnis: O Gott, schau Dir diese Welt an“; sagt Keith Campbell, Sozialpsychologe an der Universität von Georgia. Er hat sich mit dem Phänomen des „ Ich – Schocks“ beschäftigt, mit tiefgreifenden Erschütterungen, die unser Lebensgefühl verändern können. Es geht um jene Augenblicke, in denen der Schutzfilter, der uns normalerweise von der Wirklichkeit trennt, weggerissen wird. Das kann eine schwere Krankheit sein, eine berufliche Katastrophe, ein Todesfall oder eine unerwartete, harte Entscheidung – wir reagieren zunächst wie betäubt. Unser Kopf ist leer und das Vertraute erscheint plötzlich fremd. Illusionen platzen. Eine andere Wahrheit wird sichtbar, eine tiefere. Vielleicht kennen Sie solche Erfahrungen: Wenn im Schicksal eines einzelnen Jugendlichen plötzlich erkennbar wird, wie verfahren die Situation für eine ganze Generation ist. Wenn Eltern sich gegen ein Kind mit Trisomie 21 entscheiden, obwohl andere damit glücklich leben. Wenn jemand, für den wir uns verantwortlich fühlen, sich das Leben genommen hat. Plötzlich zerreißt ein Schleier und wir nehmen unsere Umgebung ganz anders wahr: brutaler, direkter, bunter. Campbell vergleicht diese Situation mit einem Meditationszustand, einem spirituellen Erweckungserlebnis. Es ist, als öffne sich ein anderer Horizont- wir hören auf, uns um uns selbst zu drehen, lassen uns ein, lassen uns vielleicht auch verstören.[6]. Wir werden weitsichtig und mutig – und sammeln Kraft für einen neuen Aufbruch. Ist das eigentlich das Gegenteil der Selbstannahme und Selbstentwicklung, die in der Entdeckung der eigenen Berufung steckt ? Nein, ich bin überzeugt, dass beides zusammen gehört: Erweckung und Berufung. Es geht darum, die Welt und sich selbst mit Gottes Augen zu sehen und den eigenen Platz darin zu finden. Darum geht es für jeden und jede Einzelne von uns aber auch für unsere Kirche.

Mir scheint es, als seien es im Augenblick drei Fragen, die uns im Blick auf das Thema Ehrenamt besonders beschäftigen müssen:

Das Verhältnis der Ämter und Dienste in der Kirche zum Priestertum aller Getauften sowie das Verhältnis der Berufe zum Ehrenamt. Dabei ist zu bedenken, dass beides nicht unbedingt überein geht: es gibt ehrenamtlich wie hauptamtlich ausgeübte Ämter; die Mehrzahl der beruflich Tätigen in Kirche und Diakonie haben kein kirchliches Amt und das Ehrenamt ist nicht die einzige Form, in der Gemeindeglieder das allgemeine Priestertum leben; dazu gehört zum Beispiel auch ihr eigenes Berufsverständnis oder ihre Rolle als Eltern. Die Aufgabe, hier ein differenzierteres Bild zu entwickeln, ist zuerst eine theologische und hat gerade erst begonnen-.[7]

Das Verhältnis von Kirche und Zivilgesellschaft. Dabei ist , wie wir gesehen haben, auf die Ehrenamtstraditionen des 19. Jahrhunderts zurück zu greifen, die durch eine Vielzahl von kirchlichen und zugleich zivilgesellschaftlichen Aufbrüchen in Vereinen und Verbänden gekennzeichnet waren. Zugleich ist aber der in manchem „ staatsanaloge“ öffentliche Auftritt der Kirchen und ihre Rechtsgestalt als öffentlicher Träger zu bedenken. Zu den wesentlichen Fragen gehört, wie sich in Zukunft Freiwilliges Engagement und Subsidiarität zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft entwickelt und welche Rolle die Kirche als Impulsgeberin in diesem Bereich spielen kann. Wird sie sich selbst in Zukunft stärker als Teil der Zivilgesellschaft verstehen? Welche Brückenschläge zu anderen Vereinen, Verbänden, Initiativen sind zu leisten? Was lässt sich dabei aus anderen europäischen Kontexten lernen?

Und schließlich: Welche Bedeutung hat die Kirchenmitgliedschaft für das Engagement in der Kirche? Und welche Rolle spielen Glaube und Berufung? Welche Möglichkeiten bietet das Ehrenamt, die eigene Berufung und die eigenen Charismen zu entdecken. Für die Kirche wird die Frage entscheidend sein, wie sie Engagierte auf einem Weg des Glaubens und zum Glauben begleiten kann und welche Rolle dabei nicht nur die funktionale und fachliche, sondern eben auch die religiöse Bildung spielt. Welche Rolle die Mitgliedschaft spielen, welche Bedeutung haben Taufe und Eintritt? Wie könnte ein Glaubenskurs oder ein Erwachsenenkatechumenat aussehen, der diese Fragen aufnimmt?

Viele offene Fragen- aber das ist normal in Umbruchsituationen. Ich wünsche uns allen Augen öffnen Erlebnisse, offene und vertrauensvolle Gespräche miteinander, tragfähige Brücken in die Gesellschaft und neue Wagnisse.

 

Cornelia Coenen-Marx, Stuttgart 2014

[1] Anja Förster, Peter Kreuz, Hört auf zu arbeiten, Hamburg 2013

[2] Vgl. den 3. Freiwilligensurvey der Bundesregierung

[3] Hinweis auf Untersuchung Horstmann

[4] KMU- Ehrenamtsauswertung

[5] Robert D. Putnam (Hg.), Gesellschaft und Gemeinsam. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001.

[6] Vgl. Die lebensverändernde Kraft von Krisen, Kathleen Mc Gowan, Psychologie heute-

Kompakt – ziemlich stark. S. 18 ff.

[7] S. z.B. die Tagugsdokumentation vom 7.3.13 oder auch den Artikel von Eberhardt Hauschildt in der Pastoraltheologie

[i] Kirchenamt 2006, 7.

[ii] Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.): Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, Hannover 2006.