Es wäre schon viel, wenn ein Krankenhausaufenthalt nicht kränker macht, hat Florence Nightingale geschrieben. In ihrem bis heute revolutionären Verständnis von Pflege hatte sie alle „Hüllen“ des Kranken vor Augen: die Umgebung und die Architektur, Strukturen, Hierarchien und Abläufe, das Handwerk der Pflege, aber auch die Kunst ,,Pflege zu gestalten. Sie schaute auf die einzelnen werden, damit sich einzelne Pflegende darin entfalten könnten?“
Beruflich habe ich mich viel mit Pflege beschäftigt – als Vorständin und als Vorsteherin der Schwesternschaft in Kaiserswerth, wo Florence Nightingale gelernt hat, aber auch als Vortragende, –Dozentin, als Workshopleiterin und Coach. Im letzten Jahr aber hatte ich gleich dreimal die Chance, die Situation im Krankenhaus ganz unmittelbar zu erleben – als Kranke. In unterschiedlichen Häusern, auf unterschiedlichen Stationen. Zeit genug also, nach zehn Jahren wieder einmal einen Eindruck davon zu bekommen, wie die Situation heute aussieht. Und ja, es ist schon viel, wenn ein Krankenhausaufenthalt nicht kränker macht.
Beziehungen unter Druck
Die Ökonomisierung der Häuser, das Interesse an Effizienz hat in den letzten Jahren noch einmal deutlich zugenommen. Das führt zu einer immer weiteren Ausdifferenzierung der Berufsgruppen – auch und gerade in der Pflege. Von den Pflegehilfskräften über die Spezifizierungen z.B. in der Wundpflege bis zum Pflegemanagement sind die Gruppen nach unten wie auch nach oben offen: die Reinigungskräfte sind Teil des Hygienemanagements, in den OP-Teams übernehmen Anästhesiepfleger stabilisierende, absichernde und entlastende Funktionen. Insgesamt bedeutet das, dass die Zahl der Personen, mit denen Patient:innen zu tun haben, immer größer wird, dass die Berufsgruppen sich z.T. überlappen und interprofessionell oder sogar transprofessionell arbeiten. Ein Beispiel dafür ist die große Stationsrezeption, die lange „Theke“, hinter der die Berufsgruppen für Patient: innen auf dem schwer lesbaren Namensschilds nicht mehr erkennbar sind. In diesen „Teams“ können Beziehungen kaum oder gar nicht aufgebaut werden, zumal angesichts der knappen Ressourcen bei unterschiedlichen persönlichen Schichtplänen der Mitarbeiter:innen die Zahl der Beteiligten ständig wächst.
Nach vier Tagen Krankenhausaufenthalt begegnete ich in diesem Jahr zum ersten Mal einer Pflegekraft, die ins Zimmer kam und sich mit Namen und Funktion vorstellte. Als ich beklagte, dass diese frühere Selbstverständlichkeit inzwischen verloren geht, kamen wir ins Gespräch. Warum soll man sich bei jemandem vorstellen, den man vielleicht nur noch zwei oder dreimal sieht? Es sind Zufallsbekanntschaften, die da entstehen. Sie allerdings ist bei dem geblieben, was sie gelernt hat – es ist ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Der 6-Wochen -Praktikantin, die während des generalistischen Studiums von der Langzeitpflege auf die chirurgische Abteilung gewechselt war, fehlte nicht nur ein Begleitung angesichts der unterschiedlichen Erfahrungen – sie wusste auch an ihrem letzten Tag nicht, von wem sie sich hätte verabschieden sollen. Es ist schwer, sich in solchen Konstellationen zugehörig oder gar aufgehoben zu fühlen.
Inzwischen übernehmen Pflegende immer mehr Aufgaben, die bislang in Deutschland als ärztlich definiert wurden – eine Angleichung an das britische System, das bis heute auf den Grundüberlegungen von Florence Nightingale wurzelt. Ich unterstütze das, aber meine Sorge ist: die Dominanz medizinischer und vor allem technischer Anamnesen und Perspektiven könnte sich verstärken, der spezifische Blick der Pflege verloren gehen. Denn Bindung und genaue, aber auch empathische Beobachtung spielen dabei eine entscheidende Rolle. Vor zwanzig Jahren hat mir die Arbeit mit Palliative-Care-Teams gezeigt, dass der Blick der Pflegenden bei ethischen Entscheidungen unverzichtbar ist. Bei einer Fortbildung für Hospizmitarbeitende ist aber bei mir der Eindruck entstanden, dass die Vorträge des Mediziners als besonders wichtig wahrgenommen wurden. Nicht umsonst hat Florence Nightingale die Ausbildung der Pflegenden nicht nur den , ärztlichen Stationsleitungen überlassen, sondern bei der „Oberin“ gebündelt, um den eigenen Charakter, die Eigenständigkeit von Pflege zu stärken. Oder ist es vielleicht heute wichtiger, auch bei Ärztinnen und Ärzten auf mehr Empathie zu achten und die Studiengänge entsprechend zu gestalten. Unverzichtbar sollte allerdings das offene Ohr auch für andere Berufsgruppen sein.
Bürokratie im Management – Entlastung oder Entfremdung
Berichtspflichten und Controlling bei Knappen Ressourcen haben zu mehr Belastung durch Bürokratie geführt. Was als Entlastung gedacht war, nämlich die Bündelung solcher Aufgaben im Krankenhausmanagement oder die Vorgabe durch entsprechende IT-Programme, führt aber zugleich zur wachsenden Entfremdung zwischen der Verwaltung Krankenhausmanagement und allen Patientennahen Berufsgruppen. Den „grauen Männern „ gegenüber fühlen sich alle – bis zu den Chefärztinnen – ohnmächtig. Slogans wie „der Mensch im Mittelpunkt“ klingen dann nur noch zynisch.
Der Anspruch Florence Nightingales, als Pflegende auch die Umgebung im Blick zu haben, stammt offenbar aus einer anderen Zeit – obwohl gerade modern eingerichtete Krankenzimmer durchaus zur Heilung beitragen können. Wenn allerding das Spiel mit Farben oder die Auswahl von Bildern positiv wirken, zeigt sich dahinter oft die Handschrift der Chefärzt:innen – immerhin. Pflegekräfte sind dabei kaum im Spiel – ihnen fehlen die finanziellen Ressourcen. Einen entscheidenden Unterschied macht für die PAtien:innen der Zugang zu einer privaten Versicherung. Mit einem guten Caterer für diese Zahler kann der Begriff „Hotelkosten“ durchaus Sinn ergeben. Allein die Freiheit , eine Mahlzeit wählen zu können oder Zugang zu einer „Lounge“ mit Snacks und Getränken zu haben, gibt ein Gefühl von Normalität und Souveränität, das Kranke oft vermissen. Mehr noch: es kann das Vertrauen geben, Zeiten der Schwäche oder sogar die letzte Zeit des eigenen Lebens selbst (mit) gestalten zu können. Schließlich sollen in solchen Zeiten die Selbstsorgekräfte gestärkt und nicht geschwächt werden – es geht doch darum, Patient: innen bei der Genesung zu unterstützen. Die Verobjektivierung der Sorge, die das Patientenmanagement unweigerlich mit sich bringt, sollte deshalb sensibel wahrgenommen und wo möglich im Dialog mit dem Patienten überwunden werden. Schon vor 20 Jahren beschwerten sich „Grüne Damen“ in Kaiserswerth, dass die Zentralküche dazu geführt habe, dass ein „Haferschleim“ auf der Station nicht mehr gekocht werden könne. Damals träumte ich davon, dass nicht nur die Leitungen des Pflegedienstes, sondern auch die der Ehrenamtlichen in den Leitungen mitarbeiten sollten. Bis heute ist es aber besonders schwer, Ehrenamtlichen im Gesundheitssystem Raum zu geben und damit die Entfremdung im Management zu überwinden. Dabei können freiwillig Engagierte diejenigen sein, die mit einfachen Diensten wie einem Bücherwagen zeigen, dass auch Schwerkranke zuerst ein Gegenüber sind – sie lassen es hell werden, so wie Florence Nightingale das tat, wenn sie abends Briefe vorlas oder für die Kranken aufsetzte.
Interkulturalität als professionelle und spirituelle Herausforderung
Am schwierigsten habe ich das Miteinander auf der Station empfunden, die den höchsten Anteil von Migrant: innen hatte – aus Spanien und Lateinamerika, aus Syrien, Westafrika und Ostasien. Dabei bin ich dankbar dafür, dass diese Fachkräfte Deutschland offenbar noch attraktiv genug finden, um hier zu lernen oder zu arbeiten. Damit sind aber naturgemäß große Herausforderungen der Integration verbunden. Denn das „Team“, das jetzt miteinander arbeitet, spricht nicht nur verschiedene Sprachen, sondern ist auch durch verschiedene Kulturen und Schulen in der Pflege geprägt. Das geht bis hin zu scheinbar banalen Fragen wie dem Umgang mit einem Verband oder einer Infusion. Zum Teil fehlen schon die deutschen Fachbegriffe, die jedenfalls für die Verständigung mit dem Patient: innen unausweichlich sind. Ich hatte die Gelegenheit, zu erleben, wie Schwestern aus zwei Kulturen versuchten, sich zu verständigen- und sah, welche Rolle dabei die beruflichen Hierarchien spielten. Nicht alle deutschen Mitarbeiter_innen sind bereit, von hierarchisch höheren und erfahrenen Migrant: innen zu lernen oder sich von ihnen ausbilden zu lassen. So haben nicht wenige spanische Mitarbeiter:innen Deutschland nach der Pandemie wieder verlassen, weil die Kompetenzen der Pflege hierzulande zu gering waren.
Ohne Frage liegt also eine große Chance im interkulturellen Lernen. Zugleich verunsichern die Erfahrungen und Überzeugungen der anderen und stellen die eigenen Gewohnheiten in Frage. Ich denke noch einmal an die Pflegende, die mich wie selbstverständlich begrüßte. Sie gehörte noch zu einer Schwesternschaft. Die strengen Schulungen und Mentorate, die einst zur Mutterhauskultur gehörten und über die Generationen weitergegeben wurden, fußten auf einem starken Selbstbewusstsein der Pflegekräfte. Satzungen, Erzählungen, Mentorinnen gaben vor, wie „ wir das bei uns machen“. Diese Zeiten sind vorbei; die Freiheit, die ihrem Dienst fehlte, spielt inzwischen eine größere Rolle. Wie entwickelt sich nun die Unternehmenskultur mit diesen Herausforderungen weiter und welche Bedeutung haben dabei die „Kleinigkeiten“? Und welche Rolle spielt dabei, dass immer weniger für solche diakonischen Gemeinschaften erreichbar sind? Ich hatte das Glück, im Aufwachraum einem Gespräch über die Mitgliedschaft zu lauschen. Dabei wurden drei Interessen deutlich: die Sorge um eine gute Interessenvertretung (das wurde eher Verdi zugetraut), die Chance, etwas für sich selbst zu tun wie bei einem Fahrradausflug und das stärkende Netzwerk. Kann es gelingen, in einem solchen Netzwerk spirituelle Impulse anzubieten und unterschiedliche kulturelle und religiöse Zugänge zu thematisieren? Wie kann deutlich werden, dass es dabei eben nicht nur um Träger- oder Professionsinteressen geht ?
„Wie wenig man im Namen der Angst doch erreichen kann“, schreibt Florence Nightingale. Wenn ich an sie denke, frage ich mich: Wo eigentlich lernt man, die eigene Rolle so auszugestalten, dass Patient: innen Sicherheit und Aufgehoben sein erfahren? Woher kommt die dafür nötige Souveränität, die Empathie und Solidarität, woher die Motivation und Durchhaltekraft angesichts so vieler Umbrüche? Ich habe Pflegende erlebt, die nicht die Kraft und Freiheit hatten, eigene Entscheidungen zu wagen , die durchaus in ihrem Kompetenzrahmen lagen und die offenen Fragen lieber an Ärzt:innen oder den Nachtdienst abgaben. Und ich habe Nachtschwestern erlebt – tatsächlich meist Frauen- die ruhig und sicher ihren Dienst taten und dabei Zeit für Gespräche fanden. Diese Sicherheit resultiert nicht nur aus Erfahrung. Sie hat eben auch mit der inneren Kraft zu tun – die Ohnmacht und Hilflosigkeit überwinden kann.
Cornelia Coenen-Marx