- Lasst die Blasen platzen – Individualismus als Lebensgefühl
Es ist jetzt drei Jahre her, dass mein „Gemeinschaftsbuch“ erschienen ist. Kurz nach der Pandemie. Damals hatte man zusehen können, wie Gemeinschaften Risse bekamen. Trotzdem habe ich während der Pandemie auch sehr viel Aufbruch gespürt: in Nachbarschaften, Betriebsfamilien, bei Chorproben und Spieleabenden. Ein Anfang, dachte ich damals: Unsere individualisierte Gesellschaft kommt in Bewegung, ein neues Miteinander entsteht – auf Augenhöhe und quer durch die Generationen. Diese Neuaufstellung hat mich fasziniert.
Während ich über die neuen Gemeinschaftserfahrungen nachdachte, schrieben andere über Einsamkeit,lange ein Tabuthema, in der Pandemie aber wurde es zum öffentlichen Thema. Im Sozio-ökonomischen Panel 2021 gaben rund 42 Prozent der Bevölkerung an, sich einsam zu fühlen. Einsamkeit erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch für Depressionen und Suizidalität. Corona lege offen, woran das Gemeinwesen schon länger erkrankt sei, meint Diana Kinnert in ihrem Buch über die neue Einsamkeit. Die alten Strukturen der Begegnungen seien verbraucht, das Zwanglose sei zur allgemeingültigen Umgangsformel, menschliche Beziehungen flüchtig geworden.
Der Weg hinaus führe über wechselseitige Unterstützung, schreibt Noreena Hertz in ihrem Buch „Das Zeitalter der Einsamkeit“. Maßgeblich sei, dass Menschen sich nicht nur umsorgt fühlen und umsorgt sind, sondern dass sie auch Gelegenheit haben, für andere zu sorgen. Dazu müsse die Politik sozialstaatliche Strukturen so ändern, dass es Menschen möglich werde, einander besser zu helfen. Und auch ein kultureller Wandel sei nötig: Fürsorglichkeit, Freundlichkeit und Mitgefühl müssten aktiv gefördert und deutlicher belohnt werden.
Als die sozialen Einrichtungen und Dienste und auch die Schulen während der Pandemie schließen mussten, setzte die Politik auf das informelle Füreinander in Familie und Nachbarschaften, von der häuslichen Pflege über die Kinderbetreuung bis zur Schulaufgabenhilfe, und für kurze Zeit schien das auch zu klappen. Dabei wurde übersehen, wie stark Familien, insbesondere Alleinerziehende, heute auf ein Netzwerk kommunaler Dienstleistungen und Institutionen angewiesen sind, wenn es um Erziehung, Betreuung und Pflege geht. Denn Caring – aufeinander achten, füreinander sorgen, sich umeinander kümmern – braucht Zeit und tragfähige Absprachen zwischen Partner*innen, Eltern und Großeltern, in der Nachbarschaft und unter Freund*innen. Aber diese Zeit ist knapp. Und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird noch mehr unter Druck geraten, wenn, wie politisch gewünscht, Teilzeitkräfte in der Erwerbsarbeit aufstocken. Damit nehmen auch die Erwartungen an Tageseinrichtungen, Schulen, Pflegedienste zu – die jetzt schon an der Grenze ihrer Möglichkeiten arbeiten.
Aber auch in diesem Feld gab es neue Erfahrungen von Gemeinschaft: Eltern im Homeoffice hatten mehr Möglichkeiten, ihre eigene Arbeit mit dem Homeschooling der Kinder aufeinander abzustimmen. Firmen boten per Zoom Programme für Kinder an. In den Möbelhäusern hatten die Küchen einen Boom – denn Familien begannen, miteinander zu kochen und zu essen statt eine Pizza zu bestellen. Manchmal gab es Spieleabende mit den Großeltern per Zoom. In den Stadtrandsiedlungen entstanden Co-Working Rooms mit Kinderangeboten für alle, die nicht ins Büro fahren konnten. Und am Ende taten sich in den Sommerferien Kirchen, Schulen und Kommunen zusammen, um in einer neuen, ungewohnten Atmosphäre an den Lücken im Lehrstoff zu arbeiten. Und vieles davon ist zugleich ein Hinweis auf Veränderungsbedarf.
Mit dem Aufruf „Care.Macht.Mehr“ haben Barbara … dafür geworben, aus der Krise zu lernen und die Sorgearbeit in der Gesellschaft neu zu organisieren…
2. Pluralisierung der Lebenswelten – Innovation unter Druck
Ganz sicher ist die Coronakrise ein Wendepunkt. Aber sie könnte ihre Wirkung nicht entfalten, wenn nicht vorher schon vieles brüchig oder fragwürdig gewesen wäre. „Krisen haben dann tiefe Wirkungen, wenn sie auf eine Kultur treffen, die bereits in Schwingung versetzt und deren innere Konsistenz fragwürdig geworden ist“, meint Matthias Horx. Dann – und nur dann – erzeugen sie eine Abweichung im historischen Pfad. Das gilt für die zunehmende Individualisierung genauso wie für die wachsende Einsamkeit – aber auch für die Entwicklung neuer Gemeinschaften. Von den sogenannten „Co-Kulturen“ – Coworking und Sharing in der Nachbarschaft über die Senioren-Wohngemeinschaften und die neuen Genossenschaften bis hin zu den Sorgenden Gemeinschaften. Das Neue hat längst begonnen.
Individualisierung und Mobilitätsanforderungen haben Bindungen, Traditionen, Rituale gelockert. Kirchen und Gewerkschaften verlieren Mitglieder, Nachbarschaften verändern sich im Zuge von Mobilität und Migration. Schulen wie Pflegeeinrichtungen müssen mit kultureller Diversität umgehen. Die Erosion des Zusammenhalts haben viele in den letzten Jahren als größtes gesellschaftliches Problem identifiziert. Die Lebenswelten differenzieren sich immer mehr aus, die gesellschaftlichen Gräben vertiefen sich. Nicht wenige würden sagen, dass dazu die Phase des Neoliberalismus beigetragen hat, in der staatliche Regulierung zurückgenommen wurde, um die Dynamik der Märkte zu entfachen. Andere sehen einen Grund in der Emanzipation von Minderheiten, die zu einer „Gesellschaft der Singularitäten“[1] geführt habe. Aus dem Respekt, der im Wahlkampf 2019, noch plakatiert wurde, sei blanker Egoismus geworden. Wir erleben eine zunehmende Polarisierung zwischen Gewinner*innen und Verlierer*innen, den Hochqualifizierten in der Wissensökonomie und den Niedrigqualifizierten im Dienstleistungssektor, zwischen Metropolen und schrumpfenden Regionen. Der Soziologe Andreas Reckwitz wirbt für eine „Rekonstruktion des Allgemeinen im Sozioökonomischen wie im Kulturellen“.[2]
Der klar und verlässlich gezeichnete Rahmen, in dem viele von uns aufgewachsen sind, hat sich aufgelöst. Jana Simons Buch „Unter Druck“[3] beschrieb schon die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen aus der Perspektive ganz verschiedener Menschen vom Staatssekretär bis zur Krankenschwester. „Etwas kommt in allen Gesprächen sehr häufig vor“, schreibt die Autorin: „Angst, Angst vor der Zukunft, vor Verlust, Abstieg, Armut, Alter, Krankheit, politischer Spaltung und Instabilität der Welt.“[4]
Auch in der Erwerbsarbeit geht es um Zugehörigkeit, um Teilhabe, neue Erfahrungen und Selbstentfaltung „um ein Stück Leben außerhalb der Familie in Räumen, die unterschiedliche soziale Kreise zusammenbringen“ schreibt Jutta Allmendinger. Erwerbsarbeit ist eben mehr ist als Leistung und Einkommen.[5] Unternehmen und Arbeitsplätze sind Betriebsgemeinschaften und zentrale Orte der Begegnung. Oder soll ich sagen – sie waren es?[6] Die alten Betriebsfamilien bei Ford, Bosch oder Siemens stehen unter Druck. Viele Industriearbeitsplätze, die unser Land seit der großen Transformation im 19 Jahrhundert groß gemacht haben, gehen verloren. Immerhin wird der Strukturwandel in der Automobilbranche endlich öffentlich diskutiert. Die Diskussionen drehen sich nun auch um die weltweiten Abhängigkeiten – bei den Chips oder in der Pharmaindustrie. Corona hat globale Handelsketten unterbrochen, langfristige Planungen infrage gestellt. Fragile Abhängigkeiten sichtbar, gemacht. die bis dahin verdrängt wurden.
Angesichts der brechenden Lieferketten gilt es, einen neuen Umgang mit Arbeit zu finden. Politisch, aber auch privat. Das selbstverständliche „Weiter so“ ist infrage gestellt. Bürokräfte im Homeoffice erlebten, wie wichtig der Austausch ist. Die spürbare, fühlbare Anerkennung, von Kund*innen und Klient*innen sich auszutauschen, zu kritisieren und Innovation in die Welt zu setzen
3. Vom Mutterhaus zum Quartiersnetz- (Wahl-)Familien in der Transformation
Große Transformation – der Begriff beschrieb ursprünglich die Veränderungen in der Industrialisierung. Auch damals brachen für viele Menschen die sozialen Zusammenhänge, die sie getragen hatten, zusammen. Die Schattenseite der neuen Produktivität, des Anwachsens der Städte und des steigenden Ändern Wohlstandes waren Arbeitslosigkeit und Armut, alleingelassene und verwahrloste Kinder und Kranke, Wohnungsnot und in der Folge oft Kriminalität. Es dauerte Jahrzehnte, bis am Ende des 19. Jahrhunderts die sozialen Sicherungssysteme entstanden, die den deutschen Sozialstaat heute noch konturieren. Bis dahin gab es heftige gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen. Aber es gab eben auch Bürger*innen, die neue gemeinschaftliche Initiativen entwickelten – wie Amalie Sieveking oder Theodor und Friederike Fliedner. Sie gründeten Vereine, schufen Genossenschaften, Gemeinschaften und Wahlfamilien, organisierten Kindergärten und Pflegeeinrichtungen, dazu neue Berufe und Ausbildungsgänge sowie Quartierskonzepte für die Städte. Zu den erfolgreichsten Modellen gehörte die Entwicklung diakonischer Gemeinschaften, Wahlfamilien für unverheiratete Frauen, die Kindern wie Kranken Geborgenheit gaben. Damals sprach man von den Vorständen als Väter und Mütter, von den Kolleginnen als Schwestern oder Brüdern.
In unsicheren Zeiten steht Familie hoch im Kurs. Meine Physiotherapeutin sagt mir neulich, so schön es sei, die Welt zu entdecken- sie würde sich freuen, wenn ihre Kinder auch als Erwachsene in ihrer Nähe blieben. Aber die Familien haben sich verändert. Sie sind in jeder Hinsicht vielfältiger geworden- ich denke an alleinerziehende Eltern, gleichgeschlechtliche Paare. Familien, die Kulturen und Religionen verbinden. Wenn die Rahmenbedingungen in Firmen und Kommunen mit dem Wandel nicht Schritt halten, geraten Familien in Zerreißproben. In diese Brüche sind die diakonischen Gemeinschaften des 19. Jahrhunderts hineingegangen – für Kinder, Kranke, junge Leute.
Als Vorständin in Kaiserswerth habe ich mich lange mit der Frage beschäftigt, was heute an ihre Stelle treten könnte – denn die alt gewordenen Schwesternschaften fanden trotz aller Veränderungsprozesse kaum noch junge Mitglieder. Stattdessen entstanden neue Gemeinschaften, sorgende Gemeinschaften. Vergleicht man sie mit denen aus dem 19. Jahrhundert zeigt sich: Hier kommen ganz unterschiedliche Menschen zusammen, berufliche und ehrenamtliche, Menschen verschiedener Generationen sie verpflichten sich auf Zeit und gehen auch wieder auseinander. Es gibt keine Tracht mehr, keine lebenslange Verpflichtung, keine Normen für den Lebensstil. Diakonische, sorgende Gemeinschaften haben sich in den letzten knapp 200 Jahren genauso gewandelt wie sich Familien verändert haben. Aber die Herausforderungen sind ganz ähnlich.
Im August 1840 gründeten Hannoversche Bürgerinnen auf Initiative von Ida Arenhold den „Frauenverein für Armen- und Krankenpflege“. Der Verein wollte der wachsenden Verelendung breiter Bevölkerungsschichten begegnen. Die bürgerlichen Frauen gingen selbst in die Häuser, kümmerten sich um Lebensmittel und Brennmaterial, sorgten für die rechtzeitige Reparatur von Kleidern und Schuhen, achteten auf den Schulbesuch der Kinder und sorgten dafür, dass die Sterbenden gepflegt wurden.
Von den Tafeln bis zu den Nähstuben, den Werkstätten und Tauschbörsen sind in den letzten Jahrzehnten ganz ähnliche Modelle entstanden. Gleichzeitig entstehen neue Formen zivilgesellschaftlicher Netze: Hospizgruppen, Frühfördernetze, Mehrgenerationenhäuser und Seniorenwohngemeinschaften. Die „Caring Communities“ sind zum internationalen Leitbegriff geworden, wenn es darum geht, auf regionaler und lokaler Ebene Verantwortungsstrukturen neu zu beleben. Für Menschen mit Behinderung, Kinder aus Armutsfamilien und demenzkranke Ältere, für Sterbende und Geflüchtete. Angesichts der Vermarktlichung des Sozial- und Gesundheitssystems, in dem Zugänge zunehmend über Geld und Wissen gesteuert werden, stehen die Sorgenden Gemeinschaften für eine neue Care-Kultur, für wechselseitige Unterstützung und Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung. Beides kann sich ergänzen wie beim Stuttgarter Mutterhaus, wo Gemeinde und Diakonie zusammenarbeiten.
Gemeinschaften entstehen heute oft von unten – und nicht selten im Netz auf Facebook, Instagram und Co. Menschen engagieren sich beim Elternstammtisch, am Stadtrand entstehen gemeinsame Gemüsegärten, (z. B. „meine-ernte.de“), in der Nachbarschaft werden Werkzeuge und Autos getauscht Plattformen wie nebenan.de spielt dabei eine Vermittlerrolle. Es geht darum, einen Rahmen zu schaffen, in dem Begegnungen und Vernetzungen möglich sind. nebenan.de“ hatte 2019, fünf Jahre nach der Gründung, bereits 1.450.000 Nutzer*innen in 7.500 Nachbarschaften. In Coronazeiten erlebte die Plattform einen regelrechten Boom.
In einer Trendstudie über die neue „Wir-Kultur“ sehen die Autor*innen des Zukunftsinstituts ein Zeitalter unterschiedlicher Gemeinschaftsformen herankommen, in denen kurz- oder langfristig Verlässlichkeit entsteht – in Win-win-Situationen mit effektivem Tauschen und Teilen, aber auch in Mehrgenerationenhäusern und Dorfläden.[7]„Pop-up-Gemeinschaften“ können einen Anfang machen: sein: die Tische, die am Tag der „Offenen Gesellschaft“ zum Gespräch einladen, der Projektchor für ein Wochenende, Fastenaktionen bei „Sieben Wochen ohne“, Oasentage für Mitarbeitende, eine Walkinggruppe, die sich regelmäßig trifft, ein Urban-Gardening-Netzwerk. Oder der wöchentliche Mittagstisch, der jetzt in vielen Gemeinden organisiert wird.
4. Von der Schicksalsgemeinschaft zum Quartiersmanagement – Die neuen Nachbarschaften
Keyenberg, Kuckum, Berverath, Oberwestrich, Unterwestrich – lauter verschluckte Dörfer im Tagebau Garzweiler, die noch in den 1980er Jahren zu meiner Wickrather Gemeinde gehörten. Viele Bürger*innen sind inzwischen in neu gebaute Ortschaften umgesiedelt, in den alten Dörfern leben Migrant*innen. Die Bürgerinitiative „Alle Dörfer bleiben“ kam spät. Zu spät. Aber sie erinnert daran, dass Heimat mehr ist als eine Sammlung von Eigenheimen. Es geht um eine gewachsene Sozialkultur, also um mehr als ein Stadtentwicklungsprogramm. Es braucht ein reges Vereinsleben, eine lebendige Kirchengemeinde, eine bunte Parteienlandschaft, engagierte Geschäftsleute.
Untersuchungen im Emsland zeigen, dass die Befragten durchschnittlich in vier verschiedenen Vereinen waren. Je mobiler die Gesellschaft, je mehr Optionen und Lebensstile, desto wichtiger wird „das Basisquartier“. Der Lebensraum, in dem wir uns selbstverständlich und ungezwungen bewegen können, weil wir dazugehören. Es ist allerdings nicht einfach. Das junge Paar mit Arbeitsplätzen in der nahen Stadt, das morgens hier die Kinder in die Kita bringt, wird kaum Zeit haben, am Abend in den Verein zu gehen- selbst, wenn sie das wollen, um sich einzuleben.
An vielen Orten sind aber die jungen Leute weggezogen. Sie ziehen in die prosperierenden Regionen; zurück bleiben die Älteren, weniger Beweglichen. Das Leben in strukturschwachen Gegenden wird gerade für Ältere zur Herausforderung. In den letzten Jahrzehnten haben wir viele Orte der Begegnung verloren: Wohnviertel und Schulen segregieren sich, Gemeindehäuser werden aufgegeben.[8] Einkäufe werden immer öfter im Internet getätigt, die Post wird über Schließfächer abgewickelt, Bäckereien und Metzgereien sind längst geschlossen, die Innenstädte veröden. Aber am Stadtrad gibt es neue Aufbrüche: Gasthöfe werden renoviert, aus Gemeindehäusern werden Gemeinwesenhäuser. Genossenschaften übernehmen die Läden – und verkaufen
regional und nachhaltig. Die vormoderne Nachbarschaft war eine Schicksalsgemeinschaft. Nicht nur in den niederrheinischen Dörfern waren Wohnen und Arbeiten eng verbunden, man war auf die anderen angewiesen. Was das bedeutet, habe ich in der Bäckerei meines Großonkels erlebt, wo auch über Weihnachten die Ladenglocke klingelte. Das ist heute anders. „Man ist nicht mehr ökonomisch auf seine Nachbarn angewiesen und man teilt nicht mehr die gleichen Werte und Normen.“, erklärt der Stadtforscher Walter Siebel.[9] Eines der großen Versprechen von Städten ist, der Sozialkontrolle zu entgehen. Freundlich grüßen, die Post annehmen und ansonsten in Ruhe gelassen werden: Mehr wünschen sich viele nicht von ihren Nachbar*innen
Wir haben nach einer verbindlicheren Form der Nachbarschaft gesucht“, erzählt Ulrich Thomsen, eine Wohnanlage in Lüneburg mit initiiert, geplant und gebaut hat, in der insgesamt 53 Erwachsene und 23 Kinder leben. „Wir unterstützen uns gegenseitig; einige teilen sich zum Beispiel zu mehreren ein Auto. Die Kinder finden hier viele Spielkameraden, und wenn sie aus der Schule kommen und niemand bei ihnen zu Hause ist, können sie problemlos zu einer der anderen Familien gehen.“[10] Im Zentralgebäude befindet sich auch ein Gemeinschaftsraum, in dem die Bewohner an manchen Tagen gemeinsam frühstücken oder Filme schauen. Hier finden auch alle drei bis vier Wochen gemeinsame Treffen statt – zu alltäglichen Organisationsfragen, aber auch zu Themen wie „Krankheit“ oder „Sterbebegleitung“. Wohnprojekte wie in Lüneburg, Genossenschaften wie „Schloss Blumenberg“ in Bayern oder auch Mehrgenerationenhäuser ziehen vor allem junge Familien, Alleinstehende, Menschen mit Behinderung – eben alle, die auf eine funktionierende Nachbarschaft angewiesen sind.
Aber auch die ersehnte Nähe kann zu dicht werden, oft ist es einfacher, sich Fremden gegenüber zu öffnen oder Menschen zu unterstützen, die ein paar Straßen weiter wohnen, als Nachbarn, deren Kontrollblick man fürchtet, deren Ansprüche zu belastend sind. Ein gutes Netzwerk mit überschaubaren Einsätzen will koordiniert werden. Das haben wir gerade in der Coronazeit gespürt. Nicht alle, die helfen wollten, fanden Abnehmer*innen für ihre Einkaufs- und Gesprächsangebote. Nicht jeder*r, die*der älter als 65 ist, ist schon deshalb hilfebedürftig oder einsam. Und nicht jede*r, die*der Hilfe braucht, möchte den eigenen Nachbar*innen ihre*seine Bedürftigkeit zeigen.
Aber es gab auch wunderbare, funktionierende Modelle mit weniger Anspruch wie „heute ein Engel“ oder „Dich schickt der Himmel. Auch und gerade kleine Sorgende Gemeinschaften sind auf professionelle Sorgestrukturen angewiesen. Das informelle Miteinander lebt von Wechselseitigkeit und Nähe. Permanente Verfügbarkeit kann es nicht leisten. Umgekehrt werden professionelle, verlässliche Hilfsorganisationen nie die persönliche Qualität entwickeln, die wir aus Freundschaft und Nachbarschaft kennen. Beide Formen der Hilfe sind aufeinander angewiesen: Nachbarschaftsnetze brauchen Kirchen und Wohlfahrtsverbände. Auch das ist eine Herausforderung in einer Zeit, in der sich auch die Kirchen aus den Nachbarschaften zurückziehen
Im letzten November gab es eine Tagung von EKD und Diakonie Deutschland zum Thema „Wohnraum im Lebensraum“. Es ging darum, den Blick auf das Beziehungsnetz in den Gemeinden zu schärfen. Auf leerstehende Räume, die Wohnsituation von Familien, von Älteren, von Geflüchteten. Es gibt Alltags-Expert*en in den Gemeinden. Sie kennen die Älteren, die in ihren großen Häusern allein sind, und die jungen Familien, die gern eine Wohnung im Dorf hätten, aber keine finden. Mitarbeitende in den Kirchengemeinden kennen den Leerstand in manchen Städten und auf Dörfern des Ostens, die absurd hohen Mieten in Hamburg, Düsseldorf, München oder Berlin. So kann aus einer Sorgenden Gemeinde eine wohnungssensible Gemeinde werden. Was es für einen älteren Menschen oder für eine Jugendliche oder auch für Bürgergeldempfänger*innen bedeutet, mit einem Umzug nicht nur die eigene Wohnung, sondern auch die Nachbarschaft zu verlieren, wurde lange nicht thematisiert – genauso wenig wie die Tatsache, dass es für Ältere schwer wird, noch umzuziehen, weil keine Bank mehr Kredit dafür gibt und Wohnungsgesellschaften längere Mietverträge wünschen. Auch ein Hintergrund für das Entstehen neuer Seniorenwohngemeinschaften
Nach Berechnung einer Forschungsgruppe aus Großbritannien, wo es seit einigen Jahren ein Einsamkeitsministerium gibt, könnten zwanzig Prozent Gesundheitskosten eingespart werden, wenn man soziale Angebote auf Rezept verschriebe. Inzwischen gibt es auch bei uns Kultur auf Rezept und das deutsche Familienministerium entwickelt eine Einsamkeitsstrategie. Es geht um die Aktivität der Einzelnen wie um soziale Angebote und Netze, damit Menschen die Gefühle von Isolation und Hilflosigkeit überwinden, Erfahrungen teilen und sich in gemeinsamen Projekten engagieren. Die Erwartung an den Staat, solche Angebote auf den Weg zu bringen, irritiert mich allerdings.
5. Kleine Lichter – zwischen Angst und Hoffnung
Vor 35 Jahren hat der Sozialpsychiater Klaus Dörner das Konzept vom dritten Sozialraum entwickelt. In seiner gesamten Arbeit ging es ihm darum, Menschen aus der Isolation zu befreien- psychisch Kranke, Menschen mit Behinderung, Pflegebedürftige -und die alten preußischen Anstalten aufzulösen. Er plädierte für eine neue Wertschätzung der Kirchengemeinden. Und um eine Wiedervereinigung von diakonischer Professionalität und kirchengemeindlichem Bürgerengagement. Kirchengemeinden, so seine Hoffnung, könnten wieder Caring Communities werden.
Denn die Apostelgeschichte erzählt, dass schon die ersten christlichen Gemeinden Caring Communities waren. Güter wurden geteilt, Kranke besucht, für alle gemeinsam wurde der Tisch gedeckt (Apg 2,42 ff.). Diese sorgenden Gemeinschaften hatten hohe Anziehungskraft. Die starke Orientierung der Kirche an der Kleinfamilie allerdings hat in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass es zu wenig Angebote für diejenigen gibt, die in anderen Lebensformen leben. Gerade Singles fühlen sich oft ausgeschlossen, Alleinerziehende fühlen sich nicht gemeint, weil sie der Norm nicht entsprechen.[11] Dabei begann die christliche Gemeinde mit Wahlfamilien – Christ*innen, die sich mit ihrer Taufe aus den Herkunftsfamilien gelöst hatten und nun in den Gemeinden eine neue Familiaritas[12] fanden. Füreinander waren sie Brüder und Schwestern, Mütter und Väter – so wie bis heute Menschen Wahlfamilien in Wohngemeinschaften, Mehrgenerationenhäusern oder auch an Mittagstischen bilden.
Und auch auf der Straße. Die Künstlerin Janni Feuser schickte 2016 im Wohngebiet Rheinbach-Irlenbusch in der Voreifel eine blumenverzierte Sitzgelegenheit auf Reisen, Die ist jetzt so etwas wie der neue Dorfmittelpunkt – die „Bänk for better Anderständing“.[13] Jede Woche wird die Bank von einem Haushalt zum nächsten weitergegeben – als Einladung an alle, sich dort zu treffen und die Nachbarn besser kennenzulernen. Und. seit 2016 gibt die „Initiative Offene Gesellschaft“[14] Anregungen, Interessierte an den Tisch vor der Haustür einzuladen und einander kennenzulernen – bei einem Tee, zu einem gemeinsamen Gespräch Und in vielen Kirchengemeinden öffnen seit Langem Familien rund um im Advent ihre Tür– mit Musik, einer Adventsgeschichte oder selbstgebackenen Plätzchen.
Manchmal sind es aber auch Einzelne, die ein ganzes Quartier verändern. So wie Stephanie Quitterer. „Muttersein ist schön“, schreibt sie: „aber es ist auch ermüdend – kann man nicht mehr daraus machen?“[15] Die Kiez-Ethnologin und „Prenzelberg-Mama“ hatte während ihrer Elternzeit am Theater das Gefühl, „auf Eis gelegt“ zu sein und wollte sich endlich mit all den Klischees der Gentrifizierung auseinandersetzen. So wurde die Idee geboren, die Nachbar*innen einfach einmal kennenzulernen. Weil Stephanie Quitterer selbst schüchtern ist und großen Wert auf ihre eigene Privatsphäre legt, war das nicht einfach für sie. So legte sie sich mit einer Wette selbst fest: „200 Hausbesuche mit 200 selbstgebackenen Kuchen in 200 Tagen“.[16] Sie gewann die Wette und eine neue Heimat in ihrer bunten Nachbarschaft. Ihr Buch erzählt, wie man andere bei wechselseitigen Besuchen verstehen lernt und wie Vertrauen wächst, wenn man hinter die Kulissen und Fassaden blicken darf.
Ist das nicht eine großartige Idee? Leider haben viele das Gefühl, nicht viel tun zu können. Ein kleines Licht zu sein. Diese Lähmung passt nicht zur Kirche. Erinnern wir uns, wie es mit der Caring Community in der jungen Kirche begann? Da saßen die Freundinnen und Freunde Jesu zusammen, noch immer ängstlich und traurig über den Tod ihres geliebten Freundes. Der hatte dieses Leuchten, das so viele Menschen inspirierte. Und wie sie da sitzen im Halbdunkel des Morgens, sehen sie plötzlich kleine Feuerflämmchen über den Köpfen von jedem und jeder. Die ganze Gruppe leuchtet, als wäre das Feuer von Jesus auf sie übergesprungen. Als hätte er sie angesteckt mit seiner Energie. Sie standen auf, gingen aufeinander zu- einer öffnete die Tür und sie gingen raus auf die Straßen. Was ist daraus geworden?
„Ich bin dankbar für jede Stimme, die sich für unsere Gemeinschaft stark macht. Für jede Flamme. die sich der aufziehenden Dunkelheit entgegenstellt“, schrieb kürzlich eine Bekannte auf Facebook. „Wir sind die letzte Linie unserer Demokratie, der Zukunft unserer Kinder, unseres Friedensprojekts in der EU. Bitte werdet nicht leise, verdunkelt Euer Feuer nicht. Geht voran mit großem Mitgefühl für unsere Nachbarn. Über alle Grenzen hinweg.“ Nur Mut!
Cornelia Coenen-Marx
[1] Reckwitz, Andreas (2019): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin.
[2] Reckwitz, Andreas (2020): Die neue Klassengesellschaft. SWR2 Wissen: Aula, 07.06.2020. https://www.swr.de/swr2/wissen/die-neue-klassen-gesellschaft-swr2-wissen-aula-2020-06-07-100.html (Zugriff am 05.01.2021).
[3] Simon, Jana (2019): Unter Druck. Wie Deutschland sich verändert. Frankfurt a. M., S. 49 ff.
[4] Simon 2019, S. 12.
[5] Allmendinger 2017, S. 234.
[6] Allmendinger 2017, S. 234.
[7] Brühl, Kirsten/Poloczek, Silvan (2015): Die neue Wir-Kultur. Wie Gemeinschaft zum treibenden Faktor einer künftigen Wirtschaft wird. Frankfurt a. M., S. 13. https://www.zukunftsinstitut.de/fileadmin/user_upload/Die_Neue_Wir-Kultur-Leseprobe__1_.pdf (Zugriff am 05.01.2021).
[8] Pennekamp, Johannes (2020): Der große Ansturm auf die Privatschulen. Elitäre Form der Bildung? Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.08.2020. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/arm-und-reich/bildung-und-corona-der-grosse-ansturm-auf-die-privatschulen-16898764.html (Zugriff am 15.12.2020).
[9] Siebel, Walter (o J.): Ist Nachbarschaft heute noch möglich. https://www.reihenhaus.de/fileadmin/_Content/05_Magazin/01_Forschung/_Dateien/DRH-Nachbarschaft_Essay_Siebel.pdf (Zugriff am 23.01.2021).
[10] Landeszeitung.de (2015): Erstes generationsübergreifendes Wohnprojekt in Lüneburg am Brockwinkler Weg gestartet. https://www.landeszeitung.de/lokales/47289-erstes-generationsuebergreifendes-wohnprojekt-in-lueneburg-am-brockwinkler-weg-gestartet (Zugriff am 05.01.2021).
[11] Künkler, Tobias/Faix, Tobias/Weddigen, Johanna (2019): Christliche Singles. Wie sie leben, glauben und lieben. Holzgerlingen.
[12] Familienbeziehungen, die nicht über „Blutsverwandtschaft“, sondern über Wahlverwandtschaft begründet sind. Von Familiaritas spricht man auch bei den „Laiengemeinschaften“, die sich mit einer gewissen Verbindlichkeit rund um Klostergemeinschaften sammeln – ohne den strengen Gelübden der Ordensgemeinschaft zu unterliegen.
[13] Vgl. Saxler-Schmidt, Gerda (2016) : „The Bänk for better Anderständing“. Besonderer Samstagstreffpunkt in Irlenbusch. General-Anzeiger, 11.09.2016. https://ga.de/region/the-baenk-for-better-anderstaending_aid-43019667 (Zugriff am 12.01.2021).
[14] Siehe www.die-offene-gesellschaft.de (Zugriff am 12.01.2021).
[15] Quitterer, Stephanie (2016): Hausbesuche. Wie ich mit 200 Kuchen meine Nachbarschaft eroberte. München, S. 34.
[16] Klappentext des Buches: Quitterer 2016.