Transformation und Reformation: Herausforderungen des Wandels für die Kirche

1. Worum es mir geht

„Dienet der Zeit“, schrieb Dietrich Bonhoeffer im Dritten Reich, als der Nationalsozialismus die Gesellschaft in Deutschland mehr und mehr prägte. Aus den USA, wo ihn viele bedrängten, sich wie andere Exilanten in Sicherheit zu bringen, kehrte er sehr bewusst nach Deutschland zurück, wo er noch kurz vor Kriegsende hingerichtet wurde: „… Es heißt nur die tiefe reine Gestalt dieser Zeiten zu verstehen und in unserer Lebensführung darzustellen, so werden wir mitten in unserer Zeit auf die heilige Gegenwart Gottes stoßen.“ Der Zeit dienen, das bedeutete also zunächst einmal, die Zeit zu verstehen. „Man muss die Tiefe der Wirklichkeit mit den klaren Augen des Glaubens sehen, um sie mit den rettenden Armen der Liebe gestalten zu können“, schrieb Georg Hinrich Wichern in den Transformationsprozessen des 19. Jahrhunderts.

Beim Versuch, unsere Zeit zu verstehen, fällt der Blick auf die globalen Veränderungsprozesse. Wissenschaftler unterscheiden mehrere große, einander bedingende Krisen: Die ökologische Krise, die sich in einem sich ständig beschleunigenden Klimawandel, wachsenden Konflikten um Rohstoffe und einem fortschreitenden Rückgang der Biodiversität zuspitzt. Dann die Ernährungskrise, die immer mehr Menschen mit Hunger bedroht und durch die weltweite Spekulation mit Land und Nahrung noch verstärkt wird. Die Finanzkrise, die bei fehlender politische Regulierung und Kontrolle der Finanzmärkte zu einer Destabilisierung von Wirtschaft und Beschäftigung und letztlich auch der Demokratie führt. Und die Staatsschuldenkrise, die vor allem in Südeuropa dazu führt, dass Staaten handlungsunfähig und Gesellschaften in Geiselhaft der Finanzmärkte genommen werden. Schließlich Globalisierung und Digitalisierung und die Krise der Arbeit, die sich weltweit in der Ausweitung von prekärer Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und informeller Tätigkeit zeigt und zu einer Zuspitzung der Ungleichheiten zwischen Arm und Reich führt, sowie die schwelende Sozialstaatskrise, die Menschen Angst macht, dass Rente und Arbeitslosengeld nicht mehr sicher sind. Seit 2015 ist vor allem die sogenannte „Flüchtlingskrise“ in aller Munde. Die Kriege und die ökologischen und wirtschaftlichen Katastrophen, vor denen die Menschen fliehen, sind ihrerseits mitbegründet durch die weltweiten Konflikte um Nahrung, Wasser und Energie und die Stellvertreterkriege in Nahost und Afrika. Tatsächlich stellen die Migrationsbewegungen selbst eine wachsende Herausforderung dar: für die Geflüchteten, die Länder, in denen sie ankommen, und letztlich auch für Europa, das um die Zukunft seiner national ausgerichteten Sozial- und Wohlfahrtssysteme ringt. Für die Industriestaaten ist nämlich noch ein weiterer wesentlicher Veränderungsprozess zu berücksichtigen, der demografische Wandel mit seinen Herausforderungen für die sozialen Sicherungs- und die Pflegesysteme.

Eine Hydra mit acht Köpfen – jeder Versuch, das eine oder andere Problem in gewohnter Weise zu lösen, scheint in Widersprüche zu führen. Und die Ohnmacht, die viele angesichts solcher Dilemmata empfinden, entlädt sich in Wut oder Resignation, in Desinteresse an Politik. So mancher hat jetzt das Gefühl, dass unser ganzer Lebensstil von den Migrantinnen und Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika in Frage gestellt wird. Wenn der Hass sich nicht ausbreiten soll, brauchen wir tragfähige Formen des Miteinanders. Konzepte sind notwendig, die über Wohnungsbau und Integrationsklassen hinausreichen. Nicht zuletzt geht es um Fragen der Religion und Kultur.

Nicht erst heute oder im 19. Jahrhundert, schon in der Reformationszeit hat die Kirche eine große Transformation entscheidend mitgestaltet. Denn mit dem Aufkommen des internationalen Handels, des Geld- und Bankenwesens war auch die Reformationszeit von erheblichen ökonomischen Umbrüchen geprägt. Der Preisverfall einheimischer Erze entzog den Bergleuten die Existenzgrundlage. Der Paradigmenwechsel von der Naturalien- zur Geldwirtschaft wirkte sich dramatisch aus. Und die Verelendung betraf nicht nur die bekannten Randgruppen der Gesellschaft wie Arme, Alte oder Kranke, sondern auch geachtete Stände wie Bauern, Bergleute oder Handwerker. Die Auflösung der Ständegesellschaft im Frühkapitalismus forderte eine Verantwortung, die auch für die Verlierer sorgte. Denn auf der einen Seite drohten Aufstände, auf der anderen ließ die Spendenfreude nach – auch deshalb, weil man sich angesichts der neuen protestantischen Theologie nicht mehr sicher war, ob die Gabe für die Armen das eigene Seelenheil sichern würde.

Ein Symbol für den Paradigmenwechsel der Reformationszeit ist die „Leisniger Kastenordnung“ von 1523, „das erste Sozialpapier der Welt“, das von Luther selbst entwickelt wurde. Er verband die Frage nach der sozialen Verantwortung von Staat und Kirche mit der nach der Zukunft des Besitzes der mit der Reformation aufgelösten Klöster und Stiftungen. Seine Antwort bestand in der Zusammenführung religiöser und weltlicher Verantwortung, die, wie es Christine Eichel zusammenfasst, gleich mehrere Probleme löste: „die prekäre Lage der Ärmsten, die nachlassende Spendenfreude und die gerechte Verteilung ehemals papstkirchlicher Besitztümer“. Zu den Einnahmen der Stadt Leisnig zählten nun die Einkünfte aus Zinsen, die Abgaben der Dörfer genauso wie das Vermögen der Pfarrgemeinde – und die Ausgaben waren für Infrastruktur genauso wie für Waisenkinder, Arme, Alte und bedürftige Fremde bestimmt. Diese umlagefinanzierte Kastenordnung ist die Wurzel des modernen Konzepts einer staatlichen Solidargemeinschaft, in der die Bedürftigen eben nicht mehr Bettler, sondern unterstützungsberechtigte Mitbürger sind.

Auch im Blick auf Ehe und Familie ging es Luther um die Rechte aller – und auch hier hat er für eine neue institutionelle Grundlage gesorgt. Denn damals stand die Ehe gar nicht allen offen: Denen, die nicht über die Meisterwürde verfügten, fehlten schlicht die ökonomischen Grundlagen. Knechte und Mägde bedurften der Zustimmung des Hausvaters. Oft wurden deshalb Familien einfach dadurch begründet, dass Mann und Frau ganz offen Tisch und Bett teilten. Aber auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umbrüche war diese Lebensform prekär geworden. Die alten Dorfgemeinschaften und Zünfte hatten ihre Funktionsfähigkeit verloren und die Wanderungsbewegungen führten zu Mehrfachehen. In dieser Situation baute Luther die Zahl der Ehehindernisse radikal ab. Er forderte die öffentliche Eheschließung für jedermann und stärkte die Bedeutung des wechselseitigen Versprechens von Braut und Bräutigam. „Ein weltlich Ding“ sei die Ehe, sagte er – und es ging ihm um eine neue gesellschaftliche Ordnung, bei der die Beziehungen in Ehe und Familie eine entscheidende Rolle spielen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Zerreißproben in den Blick nehmen, die Familien heute erleben.

Und noch ein dritter Impuls aus der Reformationszeit kehrt in den heutigen Transformationen wieder – wie auch schon im 19. Jahrhundert: das Priestertum aller Getauften. Die Aufbrüche in der neuzeitlichen Diakonie wären nicht möglich gewesen ohne Wicherns dreifaches Verständnis der Diakonie. Für Wichern gab es die staatliche Diakonie – also die Gestaltung der Daseinsfürsorge, die schon Luther mit der Leisniger Kastenordnung am Herzen lag –, die bürgerschaftliche Diakonie in den Einrichtungen und Diensten und schließlich das Diakonentum aller, das sich für ihn aus Luthers Priestertum aller Getauften ergab.

Die ersten Christen, die oft ihre Familien um des Glaubens willen verlassen hatten, bildeten Wahlfamilien. Sie nannten sich Brüder und Schwestern – und zwar quer über die unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und die Geschlechtergrenzen hinweg. Was für eine Tradition – und was für eine Vision, wenn es darum geht, Brücken zu bauen zwischen den Parallelgesellschaften und die Blasen platzen zu lassen, in denen wir uns bewegen! Leider sind aber auch Gemeinden heute oft eher geschlossene Gesellschaften. Man kennt sich, kommt aus ähnlichen Milieus, fühlt sich wohl im Miteinander, als sei die Kirche ein Verein oder ein Club. Wir müssen sehr konkret darüber nachdenken, was wir tun können, um dieses Schubladendenken zu überwinden. Wie Kirchengemeinden sich ändern können, um sorgende Gemeinschaften zu werden und die Teilhabe ganz unterschiedlicher Menschen zu fördern.

In einer Welt, in der das Unterwegssein für viele zur Selbstverständlichkeit geworden ist, könnten Kirchengemeinden wie Gasthäuser sein, wo Menschen einander begegnen, ihre Geschichten teilen, sich füreinander einsetzen und einander auf diese Weise ein Stück Heimat geben. Für die, die von nah und fern zuziehen. Und für alle, die bisher nicht viel mit der Kirche anfangen konnten. Die offenen Stadtkirchen, die Stadtteilläden und die Vesperkirchen, die Diakonieläden sind Herbergen am Weg. Und noch immer hat die Kirche enorme, auch materielle Ressourcen. Neben den Gebäuden gehören dazu Grundstücke, Ackerland und auch Bauland. Vielerorts entstehen auf diesen Flächen neue, auch integrative Wohnprojekte, Mehrgenerationenhäuser, Wohnanlagen für Flüchtlinge und Studenten. Anderswo werden die kirchlichen Flächen für ökologischen Landbau oder für neue Energiegewinnung genutzt.

Wo sich Gemeinden aufmachen in Richtung Gemeinwesen, wo sie ihre Räume für andere öffnen, vollzieht sich dies allerdings nicht immer ohne Konflikte. Manchmal kommt es zum Streit zwischen „Vereinsgemeinde“ und Engagementgruppen, zwischen Traditionsgemeinde und Quartiersbewegung. Es geht darum, das Gemeindebild zu klären, und zwar nicht nur im Sinne von Leitbild- und Strategieentwicklung, sondern im biblischen, im spirituellen Sinne. Wer sind wir als Kirche und wohin sind wir unterwegs? „Die ‚Christenheit‘ hat ihr Wesen und ihren Zweck nicht in sich selber und nicht in ihrer eigenen Existenz, sondern lebt von etwas und ist für etwas da, das weit über sie hinausreicht. Will man das Geheimnis ihrer Existenz und ihrer Handlungsweisen begreifen, so muss man nach ihrer Sendung fragen. Will man ihr Wesen ergründen, so muss man nach ihrer Zukunft fragen, auf die sie ihre Hoffnungen und Erwartungen setzt. Ist die Christenheit selber in den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen unsicher und orientierungslos geworden, so muss sie sich wieder darauf besinnen, wozu sie da ist und worauf sie aus ist“, schreibt Jürgen Moltmann. Das ist dran, wenn wir auf die Zeichen der Zeit sehen.

 

2. Mein Erfahrungshintergrund

Das Thema „Große Transformation“ hat mich während meiner Arbeit in der EKD sehr beschäftigt – nicht zuletzt bei der Ausrichtung des Transformationskongresses mit DGB und Umweltverbänden 2012 ging es um den Zusammenhang zwischen globalen und ökologischen Herausforderungen und der aktuellen Sozial- und Gesellschaftspolitik.

In den unterschiedlichen Denkschriften und Orientierungshilfen zu Familien-, Gesundheits- und Sozialpolitik, aber auch zur Zukunft von Diakonie und Kirche wurden Modelle vorgestellt, wie Kirchengemeinden und diakonische Unternehmen den Wandel gestalten können.

 

3. Themenvorschläge

  • Gerechtigkeit und Barmherzigkeit: Reformatorische Impulse zu aktuellen Fragestellungen
  • Die großen Räder und die kleinen Schrauben: Politische Paradigmenwechsel und inspirierende Modelle in der Transformation

 

4. Meine Bücher und Publikationen zum Thema 

„Aufbrüche in Umbrüchen – Christsein und Kirche in der Transformation“, Göttingen 2016