„Und was ist Ihre Berufung?“

Predigt zu Lukas 5, 1- 11

„Und was ist Ihre Berufung?“ Diese Überschrift fand ich neulich in der Zeitschrift „Emotion“: Katrin Wilkens, eine Job-Profilerin, hilft Frauen dabei, den passenden Beruf zu finden und ist gerade genervt, weil das Thema „Berufung“ Konjunktur hat. Häufig säßen Frauen in der Wiedereinstiegsphase bei ihr und fragten, wie es gelingen könnte, noch 30 Jahre zufrieden zu arbeiten – möglichst auch in Teilzeit, ohne zu viele Dienstreisen und so, dass sich Selbstverwirklichung und Familie vereinbaren ließen. „Irgendetwas muss es doch geben, eine Berufung, eine Erfüllung, einen Job, für den ich wirklich brenne.“[1], bekommt sie immer wieder zu hören. In einer Welt, in der wir die Jobs und Positionen, die Wohnorte, Familien und Freundeskreise oft mehrfach im Leben wechseln, in der sich viele zerrissen fühlen zwischen verschiedenen Rollen und Identitäten und manche Philosophen schon diskutieren, ob es überhaupt so etwas gibt wie eine Identität der Person, da fragen sich auch ganz säkulare Menschen, was der Sinn ihres Lebens ist und wofür sie gebraucht werden.

Die Geschichte, um die heute im Mittelpunkt steht, ist eine Berufungsgeschichte. Es geht um Simon Petrus und seinen Gefährten – um die allerersten Jünger in der Nachfolge Jesu. Schon beim ersten Lesen wird klar; dieser Weg ist kein Spaziergang. Schon eher geht es darum, die so genannte Komfortzone zu verlassen, vermeintliche Sicherheiten hinter sich zu lassen und ins Ungesicherte aufzubrechen. Es ist aufregend und gefährlich, wenn der Traum von der Berufung in Erfüllung geht. Furcht und Zittern begleiten den Augenblick, in dem wir begreifen, worum es in unserem Leben wirklich geht. Simon geht in die Knie, er fällt Jesus zu Füßen und wehrt seine Berufung ab. Eine Zumutung, eine Überforderung. Jesus muss ihn aufrichten, er spricht ihm neuen Mut zu und stärkt ihm den Rücken: „Fürchte dich nicht“.

Das ist eine der häufigsten Zusagen, die wir aus der Bibel kennen – insgesamt 70 mal lesen wir dieses „Fürchte dich nicht“. Wir hören es mit Abraham, als er im Alter noch einmal aufbrechen soll in das Land, das Gott ihm zeigen will. Jeremia wird es zugesprochen, als Gott ihn zu seinem Propheten macht, obwohl er sich viel zu jung dazu fühlt. Und genauso Hesekiel, der seinem Volk das Gericht zu verkündigen hat. Gott macht seine Stirn hart, steht da – er stärkt ihn zum Widerstand. Und auch Maria hört dieses „Fürchte dich nicht“ von dem Engel, der ihr sagt, dass sie die Mutter Jesu werden soll. Das große Glück, wirklich gebraucht zu werden und die Angst vor dem neuen Leben – sie liegen nah beieinander. Es ist also nicht so wie bei der Profilerin in meiner Zeitschrift oder wie beim Jobcenter, dass jemand deinen Lebenslauf und deine Gaben checkt und dann Bilanz zieht, um Dir zu sagen, was Du am besten aus Deinem Leben machst. Gott mutet Menschen etwas zu, er traut Menschen etwas zu, das sie nie gewählt hätten, mit dem sie nicht gerechnet hätten. Einen Aufbruch, einen Neuanfang, einen Einsatz für andere, den Widerstand gegen die herrschende Meinung, den Verzicht auf gewohnte Sicherheiten. Die schwindelerregende Freiheit, das Wagnis des Lebens.

Der Philosoph Slavoj Zizek hat kürzlich in einem Interview beklagt[2], wir hätten keinen Mut mehr, das scheinbar Unmögliche zu wagen, es uns überhaupt vorzustellen – so sehr prägten Sicherheit und Berechenbarkeit unser Leben. Alkoholfreies Bier, koffeinfreier Kaffee, fleischfreie Würstchen und Zigaretten ohne Nikotin – und Partnerschaften ohne Verliebt sein. Die Heiratsagenturen im Internet führten zu einer Art arrangierter Partnerschaft. Wir verliebten uns nicht, sondern wir suchten nach passenden Eigenschaften und passendem ökonomischen Hintergrund. So vermeide man die Gefahren des Verliebt seins, meint Zizek – denn Liebe könne das Leben eben vollkommen auf den Kopf stellen.

Ab und an sieht man ja noch etwas davon. Vor ein paar Tagen erzählte die BILD–Zeitung vom Liebesrätsel auf der B3 bei Elze: da stand auf über einem Kilometer Strecke die längste Liebeserklärung der Region: Marie, bitte sag ja.“[3]. Mit roten Herzchen auf grauen Asphalt gesprüht – auf dem Mittelstreifen der Bundesstraße. Und die Polizei warnt: „Wer so etwas tut, bringt sich und andere in Lebensgefahr“: Ja, die Liebe ist gefährlich. Um der Liebe willen brechen Menschen alle Zelte ab, verlassen ihr Land und ziehen mit ihrem Partner in die Fremde. Um der Liebe willen brechen Menschen aus einer Ehe aus. Mit dem Geliebten wagen andere einen beruflichen Neuanfang und entdecken Gaben in sich, die sie nie gesehen hatten. Und wenn das schon für die Liebe zwischen Menschen gilt – sollte es mit Gottes Liebe anders sein? Nein, es kann unser Leben erschüttern, wenn wir der Liebe Gottes begegnen – und die Berufungsgeschichte von Simon Petrus erzählt, was das heißt. Da lässt ein Bootsbesitzer alles zurück – seine Boote, seine Familie, sein Heimatdorf, die gewohnte Arbeit und macht sich auf den Weg mit Jesus. Er ändert sein ganzes Leben, er macht sich auf ein anderer zu werden. Ich weiß nicht, ob Ihnen das aufgefallen ist: Der Name Petrus, unter dem wir den Simon besser kennen, wird erst im Laufe dieser Geschichte eingeführt. Am Ende trägt er einen anderen Namen. Ich kann mir vorstellen, dass einige von den Zurückbleibenden den Kopf geschüttelt haben über so viel Verrücktheit – denn schließlich hatte Simon doch gerade den Fang seines Lebens gemacht. Warum hat er sich nicht wenigstens die Zeit genommen, das alles zu Geld zu machen und seiner Familie ein gutes Polster zu hinterlassen? Warum geht einer im Augenblick des Erfolgs? „Es muss im Leben mehr als alles geben“, heißt es in einer Jugendgeschichte, die ich früher einmal gern gelesen habe – mehr als alles, was wir besitzen und berechnen und planen und wissen können. Berufungsgeschichten erzählen genauso wie Liebesgeschichten von diesem großen Mehr, das unser Leben wirklich ausmacht.

Das ist nun allerdings kein Plädoyer gegen das Glück, ein gefülltes Netz an Land zu ziehen. Ach was, ein gefülltes Netz: die Geschichte erzählt sogar von einer Überfülle, vom Überfluss des Glücks. Fast wäre das Netz ja gerissen, die Kumpels vom anderen Boot müssen kommen und mitziehen – fast zieht der Reichtum sie hinab. Und schließlich sind zwei Boote voll mit silbrig-glänzenden Fischen gefüllt. Handfester, materieller Reichtum. Ein unverhofftes Glück für diese Fischer, die die mühsame Sorge um das tägliche Auskommen nur allzu gut kennen. Die Frustration, wenn man die leeren Netze an Land zieht – ein bisschen Beifang vielleicht und sonst nichts. Gerade mal genug, um selbst zu überleben – aber zu wenig, um Sicherheit für morgen oder übermorgen zu schaffen. Man kennt das am See Genezareth – und man hat sich damit eingerichtet. So reinigen die Fischer ihre Netze, als Jesus vorbeikommt und den Menschen im Dorf vom Reich Gottes erzählt – und sie lassen sich sicher auch nicht stören, als Jesus den Simon bittet, ihn doch ein Stück mit dem Boot hinaus zu fahren, damit er von dort aus predigen kann, während die Leute sich am Ufer lagern. Einer von vielen Wanderpredigern der damaligen Zeit.

Überraschend wird es erst, als Jesus den Fischer direkt anspricht: „Fahrt auf die Höhe des Sees und werft noch einmal die Netze aus“. Das ist auch schon ein bisschen verrückt – und ganz sicher gegen alle Erfahrung – „denn wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen.“ Alles spricht dagegen: der Zeitpunkt, die Erfahrung, die eigene Frustration – aber gut: wenn dieser Jesus sein Wort auf die Probe stellen willen, probiere ich’s mal. Und wie bei einer Wette, ob man diesem Mann wirklich glauben kann, was er da sagt über Gott und die Welt, wirft Petrus die Netze aus. Und kann es kaum glauben, was dann geschieht: Man kann sich auf Jesu Worte verlassen. Mehr noch als das Boot voller Fische, mehr noch als das materielle Glück überzeugt Petrus die neue Erfahrung: seine Wette auf das Leben war ein Gewinn. Es gibt im Leben mehr als alles. Darum wohl kann er dann auf alles verzichten und mit Jesus gehen. Und den Gefährten geht es genauso – auch Jakobus und Johannes legen die Boote an den Strand .Kopfüber, den Boden nach oben. Der eine ein Bootsbesitzer, die anderen arme Fischer – aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Sie alle sind Freunde bei Jesus.

Lukas erzählt von dem, was wirklich zählt. Es ist eine von den vielen Geschichten, die wir jeden Tag hören und sehen. Wir sehen weinende Rentner vor den Banken, während wir unvorstellbare Berechnungen hören und die Bildzeitung über die deutsche Hilfe für Griechenland abstimmen lässt. Es ist noch nicht lange her, da sahen wir Menschen vor ihren zerstörten Häusern und Dörfern in Nepal, während Touristen in Hubschraubern ausgeflogen wurden. Und andere Touristen, erschossen am Strand in Tunesien, während die Morddrohungen von Anhängern des islamischen Staats auch die Bürger erschrecken. Gewalt und Verzweiflung, Macht und Anziehungskraft des Geldes. Das alles gab es damals auch – die römische Besatzung, die reichen Steuereinnehmer, erschreckende Unterschiede zwischen Arm und Reich, bewaffnete Aufständische. Jesus ist das nicht egal: aber was er sagt, geht über diese Gegensätze hinaus. Er predigt das Reich Gottes. Er spricht von dem Gott, der die Menschen nicht in dem festhält, was sie sind – der sie auf das anspricht, was sie sein können. Auf das, was wir für unmöglich halten: dass ein Steuereinnehmer teilt, dass zerstrittene Brüder sich versöhnen, dass ein Aufständischer das Schwert in die Tasche steckt, dass die Aussätzigen in die Mitte der Gemeinschaft zurück kommen. Wo Menschen Gott begegnen, können sie sich ändern.

Dazu sind wir berufen. Jeder auf seine Weise. Simon Petrus und seine Gefährten wird hier gesagt, sie sollen Menschen fischen, wie Jesus Menschen für Gottes Reich gewinnen – mit all der Erfahrung, die sie mitbringen aus langen Jahren und von diesem Morgen. Geduld gehört dazu, auch die Bereitschaft, in Frustrationen durchzuhalten, das Hören auf Gottes Wort, selbst wenn er Unmögliches fordert, sich offen zu halten für Gottes Liebe – und schließlich die Freiheit, nicht an dem zu hängen, was wir gewonnen zu haben, sondern weiter zu gehen, wenn Gott es will. Wer diese Freiheit kennt, wird auch den anderen Freiheit geben – damit sie ihre eigene Berufung finden. Menschenfischer werden – das Wort Zogron, das im biblischen Text steht, ist der Begriff für jemanden, der einem Gefangenen Freiheit gibt. Anders als die Fischer, die die gefangenen Fische töten. Jesus macht Mut, die eigene Berufung zu finden. Die kann ganz anders sein als der des Petrus – aber sie macht unser Leben lebenswert. Immer wieder neu. Amen.

 

Cornelia Coenen-Marx, Osterwald, 5.7.15

 

[1] „Und Was ist ihre Berufung?“, Katrin Wilkens in Emotion 6- 2015, S. 71
[2] Slavoj Zizek, Fordern wir das Unmögliche, Hamburg 2014
[3][3] „Bild“- Hannover, 3.7.14