Eine andere Welt oder ein anderer Blick? Auswirkungen des Zeitenwandels

Cornelia Coenen-Marx, Travemünde, 6.5.2022

  1. Grenzerfahrungen oder das Ende der Illusionen

Haben Sie nicht auch manchmal das Gefühl, als bewege sich nichts? Als wachse vor uns eine Mauer des Stillstands, die immer höher wird – trotz stetiger Beschleunigung? Wie bei einer Zugfahrt, wo man im Vorbeifahren die Landschaft nicht mehr erkennt?“ Das fragt Alice, eine junge Philosophin, den Bürgermeister von Lyon. In dem Film „Alice und der Bürgermeister“, der 2019 in die Kinos kam – kurz vor der Pandemie. Diesem Bürgermeister, im Film heißt er Paul Théraneau, fehlen die Ideen, wie man in der Stadt Lyon noch mehr Fortschritt erzielen könnte. Trotz der Steuerungsgruppe „Lyon 2500“ die er gerade ins Leben gerufen hat – ja, tatsächlich 2500, so groß ist sein Ehrgeiz, so alt ist Lyon –, trotz Diskussionen mit Künstler*innen, World-Cafés, Zukunftskonferenzen gelingt es ihm nicht, wirklich in Kontakt zu kommen mit dem Leben der Bürgerinnen und Bürger. Alice lebt einfach im Hier und Jetzt – sie hat keinen Plan für morgen, keine Vorstellung von einem zukünftigen Beruf. Alles scheint möglich. Der Schlüssel, meint Alice, sei Bescheidenheit. „Alice oder Die Bescheidenheit“ ist denn auch der deutsche Titel des Films.[1]

Die Geschichte fiel mir wieder ein, weil ich seit ein paar Wochen das Gefühl habe, als sei die Mauer eingerissen, die uns von der Gegenwart getrennt hat. Manche sprechen vom „Ende der Illusionen“. Keith Campbell, Sozialpsychologe an der Universität von Georgia, hat sich mit dem Phänomen des „Ich-Schocks“ beschäftigt, mit tiefgreifenden Krisen und Erschütterungen, die unser Lebensgefühl verändern können. Eine schwere Krankheit, eine berufliche Katastrophe, ein Todesfall in der Familie – und plötzlich wird der Schutzfilter, der uns normalerweise von der Wirklichkeit trennt, weggerissen. Illusionen platzen, wenn wir spüren, dass wir nicht so sicher und nicht so unverwundbar sind, dass die Welt nicht so stabil ist, wie wir glaubten. Und was wir individuell erleben, gilt auch gesellschaftlich – denken Sie nur an den Fall der Berliner Mauer. (Ob wir die Berliner die Mauer etwa schon vergessen haben, fragte dieser Tage der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch.[2]) Plötzlich nehmen wir unsere Umgebung ganz anders wahr: direkter, tiefer, unmittelbarer. Sind wir in einer anderen Welt aufgewacht – oder sehen wir die Welt mit anderen Augen? Campbell vergleicht diese Situation mit einem spirituellen Erweckungserlebnis. Es ist, als öffne sich ein anderer Horizont – wir hören auf, uns um uns selbst zu drehen, lassen uns ein, lassen uns vielleicht auch verstören.[3]

So geht es uns auch jetzt: Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist das Konzept der globalen Lieferketten, ist Handel durch Wandel, der Neoliberalismus endgültig in Frage gestellt. Aber schon die Pandemie konnte uns die Augen öffnen für die Abhängigkeiten, auf denen der eigene Wohlstand basiert: Die Energieversorgung bis zur Infrastruktur an Russland outgesourct, der Elektronik-, Auto-Pharmamarkt nach China, die Verteidigung an die USA. Aber auch die globale Verflechtung scheint keine Sicherheit zu bieten. Das Ende aller Illusionen – das könnte auch heißen, endlich erwachsen zu werden. Zu begreifen, wie wenig selbstverständlich, wie angreifbar unser Lebensstil ist. Welche Gnade es war, eine weitgehend sorgenfreie Existenz zu leben – trotz der Ungerechtigkeit und des Unrechts, in das auch wir verstrickt sind. Und die eigenen Grenzen zu erkennen.

Kürzlich habe ich eine Edgar-Card in irgendeinem Café mitgenommen; SDG stand darauf: Wie „Spüre Deine Grenzen“. Oder wie Strategic Development Goals. Gemeint ist die globale Entwicklungsstrategie, die 2015 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen beschlossen wurde – auch bekannt unter dem Label Agenda 2030. Bei den 17 Zielen geht es um die Bekämpfung von Armut und Hunger, um Gesundheit und Bildung. Jetzt, in Zeiten des Krieges, klingt das wie ein ferner Traum. Zugleich ist ganz konkret geworden, worum es geht: Die eigenen Grenzen erkennen – das heißt auch, nicht mehr zu beanspruchen, als mir zusteht. Nicht weiter auf Kosten anderer leben. Meine Abhängigkeiten reduzieren – persönlich und politisch. Demut üben. Und endlich erkennen, was wir längst hätten sehen können – die Mauern in unseren Köpfen und die Risse, die sich seit langem abzeichnen.

  • Risse im Sozialgefüge oder Kein Friede ohne Gerechtigkeit

Mitten in diesen Kriegszeiten ist Frankreich gerade noch einmal an einer faschistischen Regierung vorbeigeschrammt. Den Bürgerinnen und Bürgern, die Le Pen gewählt haben, ging es nicht um Putin und die Ukraine, auch nicht um Krieg und Frieden – es ging um Kaufkraft und Energiepreise, um die Migration aus dem Maghreb und aus Afrika, aber auch um nationale Träume von vergangener Größe. Zwischen Moskau, Budapest und Paris erschien für einen Augenblick ein ganz anderes Europa am Horizont. Während Deutschland sich auf die Abkoppelung vom russischen Gasnetz vorbereitet, versucht unsere Regierung, die Einkommensschwächeren zu stützen und Wirtschaft und Mobilität am Laufen zu halten. Gelbwesten wünscht sich keiner. Also subventionieren wir Treibstoff für alle. Nur wenige haben jetzt den Mut, von der sozial-ökologischen Transformation zu sprechen, vom Green Deal, der gerade erst beschlossen wurde. Der Streit um das Energieembargo hat die Wirtschaftsweisen und Wirtschaftsinstitute bundesweit in Lager gespalten. Und in Lützerath und in der Lausitz wird nun noch länger Braunkohle abgebaut. Nur wenige sprechen auch davon, dass wir unseren Fleischkonsum einschränken könnten– immerhin werden 60 Prozent der Getreideflächen für Futtermittel benötigt und 20 Prozent für Biotreibstoffe. In Europa werden renaturierte Ackerflächen wieder bewirtschaftet. Und nicht nur Marine Le Pen empfiehlt eine Mehrwertsteuersenkung bei Lebensmitteln des täglichen Bedarfs. Ein Blick auf die Tafeln hierzulande zeigt, warum: Wenn die Zentralbanken der Inflation weiter Raum lassen, stehen uns Verteilungskämpfe ins Haus. 70 Prozent der Deutschen fürchten Preissteigerungen und Inflation– und 62 Prozent haben Sorge um die unberechenbare politische Situation in Europa.[4]

Zurück zu den Tafeln. Während weniger Lebensmittel verteilt werden können, wachsen dort die Schlangen der Bedürftigen – nicht nur, weil eine neue Gruppe von Geflüchteten ansteht. Denn auch bei uns nimmt die sozioökonomische Spreizung seit Jahren zu. Carolin und Christoph Butterwegge haben am Beispiel der ungleichen Bildungs- und Teilhabechancen von Kindern gezeigt, was der Neoliberalismus für die Einzelnen bedeutet hat. Auch die Armut und Einsamkeit so vieler Pflegender und Gepflegter sind Ausdruck dieser Spreizung. Aber die Kindergrundsicherung wird wohl noch verschoben werden und Rentnerinnen und Rentner erhielten im jüngsten Osterpaket keine Energieentlastung. Während viele von uns in der Corona-Krise gespürt haben, wie befreiend es sein kann, auf überflüssigen Konsum, einen Urlaubsflug oder das Auto zu verzichten, können sich andere schon jetzt weder Auto noch Miete leisten. Und die Krise auf dem Wohnungsmarkt wird durch die Energie- und Baustoffkrise verschärft; ob die Zahl von 400.000 Wohnungen, die das Bauministerium jährlich plant, trotz Lieferengpässen erreicht werden kann, steht in den Sternen. Auch wenn die Geflüchteten aus der Ukraine Zugang zur Grundsicherung haben – das Angebot ist zu knapp, um alle in eigenen Wohnungen unterzubringen. Und nicht wenige Beobachter*innen haben Sorge, dass sie übergangsweise prekäre Beschäftigung annehmen, unter Qualifikation eingestellt werden und so – trotz Mindestlohnerhöhung – den Niedriglohnsektor verfestigen. Das Beispiel der Firma Tönnies, die an der polnischen Grenze billige Arbeitskräfte suchte, hat einige aufgeschreckt. Dabei käme es darauf an, die Qualifikationen aller Geflüchteter anzuerkennen.

Europa erlebt gerade die massivste Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Einige Städte sind bereits an ihre Grenzen gestoßen. Ganz in meiner Nähe, in Neustadt, ist in nur drei Tagen aus einem alten Pfarrhaus ein blau-gelber Treffpunkt geworden: ein spendenfinanziertes Gemeinschaftshaus, in dem Einheimische und Geflüchtete einander begegnen. Und in Garbsen, wo ich wohne, sind die ersten Schritte der Integration getan: Die meisten Kinder aus der Ukraine haben einen Platz in Schule oder KiTa gefunden, kleine Familien eine Einliegerwohnung – die riesige Welle der Solidarität ist auch ein Friedensdienst. Dazu haben nicht zuletzt die vielen Ukrainerinnen und Ukrainer beigetragen, die vorher schon hier lebten – oft als Pflegende in Krankenhäusern und Langzeitpflegeeinrichtungen. In kürzester Zeit sind in Berlin, Hamburg, München Websites entstanden, auf denen Fahrdienste, Sachspenden, Unterkünfte, Jobs vermittelt werden.

Freunde, die seit langem in der Flüchtlings- und Integrationsarbeit engagiert sind, haben allerdings Probleme, den Geflüchteten aus Nahost zu vermitteln, warum sie aus den Gemeinschaftsunterkünften ausziehen müssen, damit Ukrainer*innen einziehen. Und warum es bei ihnen so lange gedauert hat, bis sie eine Arbeit aufnehmen konnten. Und – wie erklärt man jetzt den Journalistinnen, Lehrerinnen, Richterinnen, den Ortskräften aus Afghanistan, dass sie am Ende zurückbleiben mussten, weil unsere Kapazitäten oder die Transportmöglichkeiten erschöpft waren? Es ist kaum ein Jahr her, dass uns diese Zerreißproben in Atem gehalten haben und die Beschlüsse Ihrer Synode sprechen von Fehleinschätzungen, Scham, Schuld und Traumata. Heute erleben wir die unterschiedliche Rechtslage der Geflüchteten als Zerreißprobe. Kommt da auch ein verdeckter Rassismus zum Vorschein?

Eine Hierarchie der Geflüchteten – und eine der Helfer*innen und Hilfebedürftigen? Die Menschen, die jetzt aus der Ukraine kommen, sehen aus wie wir, kleiden sich wie wir, leben wie wir. Tragen Sneakers, trinken Cappuccino, hören unsere Musik – wir könnten es selbst sein, die fliehen müssen, deren Häuser zerbombt werden. Und es fühlt sich manchmal auch so an, als wären wir die nächsten. Das steht alles noch dahin, wie Marie Luise Kaschnitz 1972 geschrieben hat.

In welcher Welt wollen wir leben? Die alte Frage, die uns seit vielen Jahren begleitet, wird drängender, je schneller die Transformationskrisen voranschreiten. Im Augenblick scheint es, als seien wir noch unentschieden –der Zick-Zack-Kurs ist nicht nur ein politisches Phänomen. Wir alle zaudern, wir wägen ab, wir müssen diskutieren: Den Wohlstand erhalten, keine Wachstumseinbrüche riskieren, die Mittelschicht stützen – oder den Green Deal weiter voranbringen, einen Ausgleich für die Ärmsten schaffen? Den Pflegenden klatschen oder das Pflegesystem endlich erneuern? Am besten beides, würden die meisten sagen – man darf das nicht gegeneinanderstellen. Aber was wir in den gegenwärtigen Transformationen erleben, birgt eine Botschaft. Wer nicht systemrelevant ist, wird exkludiert. Schon in der Corona-Krise haben wir erlebt, dass gerade die Jüngsten und die Ältesten zu kurz kamen: die einen, was ihre Entwicklung, die anderen, was ihre Kontakte anging. „Frauen und Kinder zuletzt“, heißt ein aktueller Buchtitel.[5] Die Einsamkeit der Alten, die Verletzlichkeit von Menschen mit Behinderung, die Ängste der Sterbenden fanden wenig Raum. Wird es nach dem Krieg anders sein? Werden die, die zuerst fliehen mussten, am Ende einbezogen beim Wiederaufbau?

In diesen Wochen erleben Pflegende die Traumata der Älteren; Lehrerinnen und Lehrer spüren seit 2015, was es bedeutet, wenn die Kinder aus ihrer Welt gerissen wurden, und Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die seit vielen Jahren hier integriert sind, zucken noch immer zusammen, wenn sie eine Sirene hören. Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg sind Traumata heute kein Tabu mehr. Zunächst noch hinter verschlossenen Türen und unzureichend ausgestattet, hat sich in den Zentren für Asylbewerber*innen, bei der psychologischen Arbeit mit Jesid*innen, bei der Begleitung von Veteran*innen der Bundeswehr eine hohe fachliche Kompetenz entwickelt. Und das ist bitter nötig – „denn wir alle tragen kollektive Traumata in uns“, schreibt Benjamin Isaak-Kraus, Pastor der Mennonitengemeinde in Frankfurt, im Eule-Magazin.[6] Isaak-Kraus erinnert an das Trauma des Zuschauens in Srebrenica, das vor allem die Blauhelmsoldaten dort seelisch schwer verletzte, an die Soldat*innen, die aus Afghanistan zurückkamen – vom Krieg haben wir da lange nicht gesprochen –, aber auch an die Traumata der Kriegskinder und -enkel, die gerade jetzt wieder zum Ausdruck kommen. Das alles spielt eine Rolle, wenn es in diesen Tagen um Entscheidungen über Krieg und Frieden geht. Die russische Propaganda schürt die Angst vor dem dritten Weltkrieg ganz gezielt. Das macht die einen ohnmächtig, andere kampfbereit – und manche einfach hilflos, weil die Überzeugungen von gestern in Frage stehen. Fight, freeze or fly nennt Isaak-Kraus die Traumareaktionen. Und zu den Zerreißproben zwischen Wirtschaft, Klima und Energiesicherheit ist eine weitere dazu gekommen: die zwischen äußerer und sozialer Sicherheit.

Was bedeuten uns Frieden, Freiheit und Demokratie – was die Menschenrechte und das Miteinander der Verschiedenen? Das große Engagement, das wir in diesen Tagen wieder erleben, ist auch eine Antwort. Der Spiegel spricht von einer Pandemie der Güte. Was 2015 mit der so genannten Flüchtlingskrise begann, was sich in der Flutkatastrophe an der Ahr fortsetzte, ist nun überall erkennbar: Das neue Ehrenamt boomt, Caring Communities haben Konjunktur. Menschen setzen sich mit ganzer Seele, mit Zeit und Geld für Notleidende ein: schalten Websites, räumen Gästezimmer frei, fahren an die Grenzen, nehmen ihren Jahresurlaub. Engagement und Selbstwirksamkeit helfen auch, den Angststress hinter sich zu lassen. Manche übernehmen und erschöpfen sich, stoßen an Grenzen– und ärgern sich, weil die Institutionen, die Kommunen, Kirchen, Wohlfahrtsverbände nicht so spontan und schnell sind. Die Bürokratie sei ein Alptraum, meinen einige, schließlich könne es nicht sein, dass Menschen ehrenamtlich neben Job und Familie Integrationsarbeit leisten und dann von den Behörden ignoriert, nicht beraten und unterstützt werden.[7] Dabei gibt es soziale Sicherheit nur gemeinsam, Freiwillige und Organisationen, Ehrenamtliche und Berufliche werden gleichermaßen gebraucht. Wenn wir als Kirche gute Beispiele setzen, wie in Neustadt mit dem blau-gelben Zentrum, können wir Vertrauen schaffen – auch nach innen.

Denn neben den „Mütenden“, die wir schon aus der Corona-Krise kennen, gibt es noch immer die Wütenden, die Krankenwagen und Feuerwehr blockieren und vor den Flüchtlingsheimen demonstrieren. Die ihre Kommunalpolitiker*innen an den Pranger stellen, wenn die sich ehrenamtlich für Integration einsetzen. Mit Trommeln und Fackelzügen andere in die Enge treiben und auf Messenger-Diensten zum Mord aufrufen. Dass die Gesellschaft pluraler geworden ist, zeigt sich in großer Toleranz und Offenheit. Und in hilflosem Hass. Und die Sozialen Medien tragen zur Polarisierung und Radikalisierung bei. Während der Bundestag fast einstimmig Waffenlieferungen beschließt, ist die Zivilgesellschaft gespalten. Nach den hochemotionalen Debatten in der Pandemie erleben wir nun, wie Pazifisten und Menschenrechtsaktivisten einander gegenseitig beleidigen – Panzerfans und Blumenfreunde, Naive und Bellizisten, Besserwisser und Saudumme, twittert Christoph Sieber. Am Ende, sagt er, bleibt eine tiefe Traurigkeit über die Welt, wie sie ist. Sie ist nicht friedlich. Und ja, sie macht uns Angst.

In diesen Tagen hat Elon Musk sein 44-Mio-Dollar-Kaufangebot für Twitter gemacht. Mich hat das an die Übernahmeschlacht von O2 gegen Mannesmann in Duisburg und Düsseldorf erinnert. Das war das Ende der alten Röhrenwerke, die wie viele Industrieunternehmen im Ruhrgebiet die Vereine und Sportstätten in ihren Quartieren sponsorten. Noch hat Twitter eine gewisse Bereitschaft, den Ordnungsansprüchen der Regierung zu folgen – aber was wird geschehen, wenn sich die totale Meinungsfreiheit durchsetzt, die Musk propagiert? Was wird aus der Wahrheit, wenn sie unter emotionsgesteuerten Algorithmen begraben wird? Ich denke an die Rohingya in Myanmar, die von einer Social-Media-Kampagne in die Flucht geschlagen wurden. An die russischen Bots und Kampagnenteams, die nicht nur Wahlkämpfe beeinflussen, sondern auch die Argumente der Putinversteher*innen in unserem Land. Und an die Gesetze, die es in Russland verbieten, den Ukraine-Feldzug einen Krieg zu nennen. An Marina Owsjannikowa, die das im russischen Fernsehen dennoch tat. Und an Selensky, dem es grandios gelingt, mit dem Medium umzugehen und virtuelle wie präsentische Auftritte mit emotionalen Bildern zu verknüpfen.

In der Ukraine sind die Handy-Verbindungen intakt: So sind wir nahe dran am Leiden in den Kellern von Mariupol, in Butscha und Kiew. Wir sehen Gewalt und Bosheit ganz unmittelbar, sehen Nächstenliebe und Güte. Was die Welt zusammenhält – und was uns trennt. Denn es ist nicht nur eine Frage der Technik, wenn sich zwischen Moskau und Dnipro die Familien nicht mehr verstehen. Teile unserer Welt verschwinden wieder hinter einem Vorhang aus Propaganda und Lügen. Mit dem Digital Service Act ist für die Plattformen in Europa ein erster Schritt getan, die Hetze einzuschränken – aber hinken wir damit nicht hoffnungslos hinterher? Ferdinand von Schirach[8] hat sechs neue Grundrechte für die europäische Verfassung in die Debatte gebracht. Dazu gehört das Recht auf die Wahrheit in der Politik. „Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen“, heißt es in Artikel 4. Und in Artikel 2: „Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.“ Es geht um das Recht – aber eben auch um die politische Verantwortung, um die Haltung jeder* Einzelnen. Die Wahrheit ist sehr konkret. Vielleicht ist die Durchsetzung der neuen Verfassung nur ein ferner Traum. Unweigerlich denke ich an die Durchsetzung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen – und an die desillusionierenden Sitzungen des Sicherheitsrats mit dem Vetorecht Russlands. Das Gewaltmonopol des Staates auf der internationalen Ebene auf die UN zu übertragen – das war einmal eine Leitidee der Friedensethik –,[9] ist einstweilen an Partikularinteressen gescheitert. Umso mehr sind Bündnisse gefragt.

„The World Is Flat“ hieß die Programmschrift von Thomas Friedman,[10] die die Globalisierung des 21. Jahrhunderts beschrieb – und viele glaubten, dass der Wohlstand der einen am Ende auch die anderen satt macht und dass marktwirtschaftliche Mechanismen fast zwangsläufig zu demokratischen Aushandlungsprozessen führen würden. Spätestens seit Chinas Vertragsbruch in Hongkong zerfiel die Welt erneut in Teile – und vielleicht sind wir auch deswegen so erschrocken, weil Putin dabei die alten Grenzen im Blick hat. Und dabei ist Europa bei der Verteidigung der Schengen-Grenzen längst zur Festung geworden – mit immer schärferen Asylgesetzen, mit Frontex und Pushbacks. Dass Fabrice Leggerie nun endlich zurücktrat, ist ein später Schritt. Grenzen seien nichts als Sortiermaschinen, meint der Philosoph Steffen Mau.[11] Zwischen Belarus und Polen, zwischen Israel und Palästina, zwischen USA und Mexiko – überall auf der Welt hat die Zahl der Mauern schlagartig zugenommen. Und auch an der Grenze zwischen der Ukraine und Polen wurden internationale Studierende, die nur eine Aufenthaltsgenehmigung hatten, eben anders behandelt als Ukrainerinnen und Ukrainer. Wer sich in der Arbeit mit Geflüchteten engagiert, hat ihre Geschichten gehört.

Und für alle anderen ist die Frage, ob wir noch über Mauern hinüberschauen, ob wir durch die Tore hindurchschauen, wenn der Krieg zu Problemen bei der Energieversorgung, zu Armut und Hunger führt. Wenn nicht nur Mehl oder Sonnenblumenöl bei uns knapp werden, sondern das Getreide in Afrika und Asien. Und wenn der verlängerte Kohleabbau, wenn der Krieg die Klimakrise verschärft. The world is flat, die Welt ist ein vernetzter Organismus, und unser kleiner Planet ist gefährdet. Unter allen Grenzen sind die Grenzen des Wachstums vielleicht am wenigsten anschaulich. Zurzeit jedenfalls sehen mehr als 50 Prozent der Deutschen in Russlands Krieg gegen die Ukraine den größten Einschnitt in der europäischen Geschichte, im Klimawandel dagegen nur 7 Prozent.[12] Es scheint, als wären die ersten Schritte zur Umkehr schon wieder vergessen. Buße ist tatsächlich eine tägliche Aufgabe.

Mit Schrecken haben viele bemerkt, wie eng der Horizont auch in den Kirchen sein kann. Die Partnerschaften, die im Rahmen der Ökumene so oft beschworen worden waren, trugen kaum, als es um die Orthodoxie in Russland und der Ukraine ging. Das Schisma zwischen Moskau und Konstantinopel, das 2015 schon bei der Synode auf dem Athos deutlich geworden war, die Trennung der autokephalen und der moskautreuen Kirche in der Ukraine, die viele nur am Rande interessiert hat – spätestens jetzt enthüllten sie ihren politischen Charakter. In den Reden von Kyrill, als Putin sein Kreuz im Ostergottesdienst schlug, wurde die enge Bindung zwischen Kirche und Staat besonders sichtbar. Das Spirituelle im Gewand der Politik. Die Kirchengüter in der Ukraine – Objekt des territorialen Streits. Ich sehe das und wundere mich nicht, wenn Menschen sich angewidert abwenden. Wo stehen wir in diesem Streit – wie frei sind wir vom politischen Mainstream und welche Gespräche haben wir gesucht? Wie werden wir uns als Kirchen in Deutschland verhalten, wenn die Vollversammlung des ÖRK in Karlsruhe stadtfindet? Kann es noch gelingen, Mauern zu überwinden, wenn aus kritischen Gesprächen unter Geschwistern längst schon Verleumdungen geworden sind? Mit wem lässt sich weiter Partnerschaft pflegen und wo muss man die Freundschaft ruhen lassen? Und wie gehen wir mit theologischen Differenzen – etwa zur lettischen Kirche – um, wenn der politische Druck wächst?

Es tut weh, wahrzunehmen, dass es dem ÖRK – dass es auch uns in der EKD – nicht gelungen ist, so produktiv mit Konflikten umzugehen, dass daraus Impulse für die Welt erwachsen. Dass andere an unserer Hoffnung wachsen. Während Regierungschef*innen sich in Kiew die Hand gaben, blieb der Vorschlag, die religiösen Führer dort zu versammeln, ungehört. Krieg sei kein Gespenst der Vergangenheit, er sei zu einer ständigen Bedrohung geworden, schreibt Papst Franziskus in „Fratelli tutti“. Vergeblich bemüht er sich seit Wochen um ein Gespräch mit Putin. Er sieht die Politik der Abschottung als Menetekel für einen neuen Weltkrieg. Wir hätten, sagt er, das Ende des Kalten Krieges nicht ausreichend genutzt, um die Reform der UNO voranzutreiben. Auch das erkennen wir vielleicht erst im Rückblick. Was tun wir jetzt, um den Aufbau einer neuen Friedensordnung vorzubereiten?

Es war ein großer Schmerz und vielleicht auch ein großes Glück, dass in diese ersten Kriegswochen Ostern fiel. Vor den zerstörten Kirchen gab es Osterkuchen für die Soldaten in der Ukraine. Und Ostereier für die Kinder in den Flüchtlingsunterkünften hier. Kaum jemand in Deutschland wird jetzt vergessen, dass es noch immer zwei Ostertermine gibt – ich hoffe, die Gedanken werden auch in Zukunft nach Osten gehen, wenn Osterzeit ist. So wie jetzt. Wir spüren die Grenzen, die uns trennen – zwischen den Ländern, den Wirklichkeiten. Und ahnen zugleich, dass es eine größere Wirklichkeit gibt, die uns verbindet. Der Stein ist weggerollt, der Weg ins Leben frei. Ostern schicken die Engel den Jüngerkreis Jesu zurück nach Galiläa. Sie sollen noch einmal neu beginnen. Den Verheißungen nachgehen, die Wunden heilen, die Angst überwinden. Und wir, wie nutzen wir diesen Augenblick, in dem wir hellsichtig geworden sind – auch für unser Versagen?

Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung – das ist der Titel eines Programms, der Name eines Ausschusses, eine Zielbestimmung, mit der wir seit langem arbeiten. In diesen Wochen denke ich mit Trauer und Scham an die russisch-orthodoxen Geschwister, mit denen ich in den 80er Jahren an diesem Thema gearbeitet habe. Ich hätte nicht verzichten wollen auf ihre Beiträge– auch wenn ich ahnte, dass mehr als einer vom KGB bezahlt wurde. Im Rückblick lasse ich die Suche nach Wahrheit und die jeweiligen Interessen Revue passieren. Die Zerreißproben, in denen wir miteinander lernen. Auch wenn die Angst um unsere Sicherheit sich breit macht, darf die Sorge um die Schöpfung nicht in den Hintergrund treten. Und gerade wenn wir einen gerechten Frieden wollen, gilt es, auf die soziale Gerechtigkeit zu achten.

Könnte nicht die Vision von Justice, Peace and Integrity of Creation gerade jetzt neuen Glanz gewinnen? „Der Baum des Friedens wurzelt in Gerechtigkeit“, heißt es in der Erklärung der Ökumenischen Versammlung von Vancouver. Dass dieser Frieden seine Wurzeln tief ins Erdreich reckt – auch durch Hindernisse hindurch- und dass er Wurzeln trägt in unserer Zeit , das wünsche ich uns.


[1] Alice et le Maire. Regie: Nicolas Pariser, 2019.

[2] Der Spiegel, Nr. 12 2022.

[3] Vgl. Die lebensverändernde Kraft von Krisen, Kathleen McGowan, Psychologie heute –

Kompakt: Ziemlich stark. S. 18 ff.

[4] Allensbach 2022.

[5] Sabine Rennefanz, Frauen und Kinder zuletzt. Wie Krisen gesellschaftliche Gerechtigkeit herausfordern. Chr. Links Verlag, 2022.

[6] Die Eule, 1.5.2022.

[7] HAZ, 30.4.2022, S. 19.

[8] Ferdinand von Schirach, Jeder Mensch. Luchterhand Literaturverlag, 2021.

[9] Friedensenzyklika 1963.

[10] Thomas Friedman, The World Is Flat. Picador 2007.

[11] Steffen Mau, Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert. Ch. Beck 2021.

[12] Der Spiegel, Nr. 13 2022.