Gib Gott eine Chance, zu Dir durchzudringen – achtsam mit Zeit umgehen.

1. Die Zukunft schrumpft

Das nächste Jahrzehnt wird über unsere Zukunft entscheiden. Ob es uns noch gelingt, die menschengemachte Erderwärmung zu beschränken – am besten auf 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit?  Das wäre das Pariser Klimaziel, das im Jahr 2015 von 196 Staaten und der EU beschlossen wurde. Um das bis 2050 zu erreichen, müssten die Maßnahmen, die letztes in Glasgow beschlossen wurden, sofort und konsequent umgesetzt werden. Das gilt auch für den Koalitionsvertrag in Deutschland, in dem noch immer Worte wie „idealerweise“ stehen; „idealerweise“ genügt aber nicht. Es ist ernst. Theoretisch habe ich mich seit langem damit beschäftigt.  Aber erst die Flutkatastrophe im letzten Sommer hat mich spüren lassen, was da auf uns zukommt. Das fordert zum Handeln heraus – und es macht Angst. Es ist, als ob die Zukunft vor unseren Augen schrumpft. Die Erde hat ein Verfallsdatum und das Ende kommt vielleicht schneller, als wir uns vorstellen können.

Manchmal geschieht es, dass gesellschaftliche Prozesse unmittelbar in persönliche Erfahrung umschlagen. So ging es mir auch mit der Pandemie. Erschreckend, wie sich in dieser Krise die Altersbilder geändert haben. Plötzlich dominierte wieder ein fast vergessenes Bild: Das Alter als Zeit der Verletzlichkeit und Gebrechlichkeit. Die Alten als Risikofälle, Versorgungsfälle, auf die alle anderen Rücksicht nehmen müssen. Mir kam der Begriff „Restlaufzeit“ in den Sinn. Auch im Altern schrumpft der Zeithorizont. Die Frage wird drängender, wie wir die Jahre nutzen, die noch vor uns liegen. Corona hat diese Erfahrung verschärft. Ein Experiment aus einem Workshop fiel mir wieder ein. Nehmen Sie ein Zentimetermaß, schneiden Sie es oben bei 90 cm ab und unten bei Ihrem jetzigen Lebensalter. Was ich dann im Workshop in der Hand hielt, war ein kleines Stück. Was geht jetzt noch?

2. Nur die halbe Wahrheit

Aber lässt sich Zeit wirklich berechnen- wie mit dem Zentimetermaß, dem Kalender oder der Uhr? Im „Chronos“, der fließenden Zeit, ist eine Minute wie die andere. Aber jeder weiß, dass es auch eine andere Zeitwahrnehmung gibt: Zeit, die schrumpft, Zeit, die sich dehnt, der Augenblick, der wie eine Ewigkeit erscheint.

In ihrem Buch Jeder Tag ist kostbar hat Daniela Tausch-Flammer beschrieben, wie das Sterben ihrer Mutter sie verändert hat. „Ich war vorher jemand, der mit viel Angst im Leben stand. Angst vor der Dunkelheit. Angst, keinen Beruf zu bekommen. Angst keinen Ort zum Leben zu finden. Angst vor Begegnung. […] Durch die Lupe des Todes weitete sich der Angstring, […] hielt mich nicht länger gefangen. Durch das Bewusstwerden der Endlichkeit öffnete sich eine Tür zur Spiritualität.  begann zu vertrauen, dass ich in meinem Leben geführt werde, von Gott begleitet bin. […] Dass angesichts des Todes vor allem die Momente zählen, in denen ich gewagt habe, mich offen zu zeigen.“[1] Diese Erfahrung motivierte Daniela Tausch-Flammer zur Hospizarbeit. Sie fand ihre Lebensaufgabe.

Meine eigene Mutter lebte bis zu ihrem Tod in einem Damenstift, einem der alten niedersächsischen Klöster. In den letzten vierzehn Tagen wechselten wir Töchter uns an ihrem Sterbebett ab. Ich liebte es auf eine eigenartige Weise, dort zu sitzen und Gebete zu lesen, wenn der Morgen graute. Noch heute denke ich beim ersten Vogelgesang im Frühling an diese erfüllten Tage. Einige Wochen nach ihrem Tod telefoniert im ICE gleich hinter mir jemand mit seinem Chef telefonierte. Es ging um den Tod und die Beerdigung seines Vaters. Der Mann hatte äußerste Mühe zu erklären, warum er die Trauerfeier nicht einfach um einen Tag verschieben konnte, damit ein wichtiger dienstlicher Termin nicht ausfiel. Ich war zutiefst entsetzt – mir wurde bewusst, wie weit wir gekommen sind auf dem Weg, auch diese „anderen Zeiten“ unserem Arbeitsrhythmus anzupassen. Geburten und Todesfälle lassen sich längst schon ökonomisch planen – und das im doppelten Sinne. Und Tote werden eingeäschert, damit die Urnenbestattung in den Kalender passt.

Damit nehmen wir uns die Chance, in diesen besonderen Zeiten Entscheidendes über das Leben zu lernen: Dass unser Leben kein Produkt ist, nicht endlos optimierbar, sondern zerbrechlich und vergänglich. Ariadne von Schirach, die mit ihrem Buch Du sollst nicht funktionieren zu einer neuen Lebenskunst ermutigen will, schreibt: „Unsere Gesellschaft toleriert keine Schwäche mehr. Wenn der Wert der Natur ihr Ertrag ist und der Wert des Tieres seine Tauglichkeit als Futter, Lastenträger oder Attraktion, dann ist der Wert des Menschen seine Arbeitskraft und seine Fähigkeit, ein gutes Bild abzugeben. Doch die Würde des Menschen liegt jenseits solcher Zwecke. Eine Zeit, die den Wert eines Menschen mit seiner Leistungskraft gleichsetzt, ist eine würdelose Zeit. Sie diskriminiert diejenigen, die zur Verwertung entweder noch nicht oder nicht mehr tauglich sind – und damit irgendwann uns alle. Das Beharren auf die kategoriale Nutzlosigkeit des Menschen, verbunden mit dem Gebot, genau diese zu lieben und zu beschützen, ist die Grundlage für alle Beziehungen, die das Reich des Widerwärtigen zu verlassen vermögen.“[2]

3. Leben auf Pump

Wie kommt es, dass wir unser Leben auf diese Weise ökonomisieren? Dass wir unsere Zeit wie eine Produkt oder eine Dienstleistung berechnen? In ihrem Buch Das Leben als letzte Gelegenheit,[3] zeigt die Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer,  dass die Pestepidemie Mitte des vierzehnten Jahrhunderts ein wesentlicher Auslöser für das neue Zeitgefühl war. Damals starben in Europa je nach Region zwischen dreißig und fünfzig Prozent der Bevölkerung. Wenn das nicht, wie zunächst manche dachten, das Jüngste Gericht war, dann fiel es schwer, überhaupt noch an einen gnädigen Gott und an ein Leben nach dem Tod zu glauben. Vielleicht gab es gar kein Jenseits? Vielleicht blieben eben nur diese wenigen Jahre im Hier und Jetzt? Dann galt es, alles herauszuholen, die kostbare Zeit zu nutzen. Damals entwickelten sich die Naturwissenschaften in atemberaubender Geschwindigkeit, neue Welten wurden entdeckt, der Einzelne trat in den Vordergrund, die Arbeitsgesellschaft entstand. „Und wenn morgen die Welt unterginge“, soll Luther gesagt haben, „so will ich doch heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen.“

Während die Gletscher schmelzen und der Regenwald brennt, wird jeder Tag zur letzten Gelegenheit. Individualisierung, Globalisierung, Beschleunigung und die Ökonomisierung des Alltags prägen die wirtschaftlich überaus erfolgreichen westlichen Gesellschaften. Das fordert dem Einzelnen einiges ab. „Heute muss ein junger Amerikaner mit mindestens zweijährigem Studium damit rechnen, in 40 Arbeitsjahren wenigstens 11mal die Stelle zu wechseln und dabei sein berufliches Wissen mindestens 3mal auszutauschen.“[4] Die Maschinen und Kommunikationsmittel, die uns  Zeitersparnis verhießen, haben letztlich dazu geführt, dass wir eher mehr als weniger beschäftigt sind – auch deshalb, weil das Streben nach immer mehr Wachstum und Gewinn, der Wunsch nach mehr Status und Konsum eine wesentliche Antriebskraft des „Fortschritts“ ist. Die ständige Beschleunigung hat eine starke wirtschaftliche Komponente –  verdichtet in der Formel „Zeit ist Geld“.

4. Resonanzräume der Sorge

Zugleich spüren immer mehr Menschen, dass sich die Werte, die unser Miteinander tragen, in Euro und Cent nicht umrechnen lassen. Längst ist in der Sozialpolitik von einem Care-Defizit die Rede,[5] zugleich hat die Idee der Caring Communitys wachsende Anziehungskraft. Tatsächlich besteht das Gewebe der Gemeinschaft aus Sorge füreinander – in Familie, Nachbarschaft, Erziehung, Pflege, Engagement. Wo Sorgearbeit nicht wertgeschätzt wird, ist es um Gemeinschaft schlecht bestellt. Das gilt für die familiäre wie für die professionelle Sorge. Wo Sorgearbeit zur bloßen Dienstleistung geworden ist, wird das Gegenüber zum Geschäftspartner, zum Kunden oder zum Objekt. Sorge, die Gemeinschaft stiftet, ist Koproduktion. Wo Menschen sich Zeit nehmen für die, die auf Hilfe angewiesen sind, und dabei selbst anders leben lernen – mit Schwächen umgehen, Angewiesenheit akzeptieren, Abschied nehmen –, da entsteht ein Resonanzraum, der neue Erfahrungen ermöglicht. Letztlich geht es um die Entwicklung eines bewussten, achtsamen Lebensstils.

Wie Knospen zu einer bestimmten Zeit blühen, Bäume zu einer bestimmten Zeit Früchte tragen, Blätter sich zu ihrer Zeit verfärben und von den Ästen fallen, so gibt es auch im menschlichen Leben und in den Gesellschaften Zeiten der Krise, des Wandels und der Transformation. Wir verlieben uns, weil wir offen sind für eine Begegnung, die alles verändert. Wir werden krank und wundern uns eigentlich nicht – wir wussten ja längst, dass irgendetwas nicht stimmte, Druck und Stress hatten ihren Höhepunkt erreicht. Wir warten auf den richtigen Moment und sind froh, wenn die Zeit reif ist – für die Einschulung eines Kindes, den nächsten Schritt auf dem beruflichen Weg, für die Versöhnung nach einem schlimmen Streit, den Umzug in eine altengerechte Wohnung in der Stadt. Während der Pandemie litten alle darunter, dass einmalige, unwiederholbare Rituale wie der erste Schultag, die Abiturfeier oder die Goldhochzeit ausfiel.

5. Eigenzeiten achten

In einem Stadtteil kommt nach vielen Initiativen Einzelner der Moment, wo sich die unterschiedlichen Gruppen zusammenfinden, um sich gemeinsam für eine mieterfreundliche Sanierung der Häuser und eine verkehrsberuhigte Zone mit Kinderspielplätzen, Treffpunkten für Jugendliche und Quartierscafé einzusetzen. Eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung verkauft ihr Gelände und schafft Wohngruppen, Arbeitsplätze und Treffpunkte in den umliegenden Städten und eine Elterninitiative sorgt dafür, dass Grund- und Förderschule sich gemeinsam auf den Weg zur Inklusion machen. Was lange beschworen wurde, wird Wirklichkeit, wenn die Zeit reif ist. Die Eigenzeiten zu schätzen ist das Ziel – im Umgang mit der Natur, im Umgang mit sozialen Prozessen und nicht zuletzt im Umgang mit uns selbst und unserem Körper.[6]

Wie der Rhythmus des Jahres folgt auch unser Körper einer anderen Zeitlogik als Wirtschaft und Organisationen, auch wenn wir zunehmend versuchen, die Natur mit Hilfe von Wissenschaft und Ökonomie zu überlisten. Mein Eindruck ist: Je weniger wir die Eigengesetzlichkeit dieser Zeiten achten, desto mehr zerstören wir die Rhythmen, in denen wir geborgen sind- schon spüren wir, wie die Jahreszeiten sich verschieben. Zugleich werden diejenigen an den Rand gedrängt, die sich mit dem Unplanbaren des Lebens auseinandersetzen müssen: Frauen in Schwangerschaften, Eltern mit kleinen Kindern, Menschen mit Behinderung, die Angehörigen von Unfallopfern, Pflegebedürftige und Sterbende. Die Vulnerablen, von denen in der Pandemie so oft die Rede war. Sie zu schützen, kann nicht heißen, sie auszugrenzen – es geht darum, dem Leben mit all seinen Stärken und Schwächen bewusst zu begegnen.

„Achtsamkeit gibt Gott eine Chance, zu uns durchzudringen“, formuliert Schwester Christl Winkler, Exerzitienmeisterin im Bistum Aachen. Ein kurzes Interview mit ihr dreht sich um die Frage, wie wir mitten im Alltag ein erfülltes Leben führen können. „Es geht darum, die Zeit für sich fruchtbar zu machen“, sagt sie. „Nicht die Zeit zu nutzen, sondern sich in der Zeit zu nutzen.“[7]

Cornelia Coenen-Marx


[1] Daniela Tausch-Flammer, Jeder Tag ist kostbar. Endlichkeit erfahren, intensiver leben, Freiburg im Breisgau 2000, S. 81

[2] Ariadne von Schirach, Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst, Stuttgart 2014, S. 75.

[3] Marianne Gronemeyer, Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit. Darmstadt 1993.

[4] Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, aus dem Englischen von Martin Richter, Berlin 2000, S. 25.

[5] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Siebter Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit – Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, Berlin 2006.

[6] Immer mehr neue Zeitschriften wie „ Flow“ oder Emotion „ Slow“ oder auch „Paradiso“ zeigen, wie sehr Leserinnen und Leser nach Anregungen und Impulsen fragen.

[7] In: Frauen unterwegs, Juli/August 2003, Interview mit Birgit-Sara Fabianek.