Rente versus Klima? Generationengerechtigkeit neu denken

„Ist es uns wirklich gewahr, dass wir nicht mehr auf Zeit spielen können und dass jeder von uns gehörige Veränderungen und ein fundamentales Umdenken in Kauf nehmen muss, wenn wir in der Klimaveränderung auf den allerletzten Metern noch einen Richtungswechsel vollziehen wollen?“, fragt Herbert Grönemeyer. Der Singer-Songwriter ist inzwischen 65; mit seiner Videobotschaft appellierte er an die Menschen seiner Generation, bei der Wahl an die großen Fragen unserer Zeit zu denken: An Klimawandel, Digitalisierung, die Schere zwischen Arm und Reich, Rassismus und Ausgrenzung. Rund 38 Prozent der Wahlberechtigten waren bei der letzten Wahl über 60 Jahre alt[1]; die Sorge, dass die Älteren nur von ihren eigenen Interessen geleitet würden, war nicht unberechtigt. Tatsächlich standen Zukunftsfragen wie der Klimawandel vor allem bei den Jüngeren im Mittelpunkt. Werden die Nachkriegsgenerationen bereit sein, Aspekte eines materiellen Wohlstandes wie Autos, weite Flugreisen oder auch unterschiedlichste Konsumgüter zu überdenken und einzuschränken, um das Klima zu schützen – für eine Zukunft, die sie selbst kaum noch erleben werden? Oder schauen sie eben doch vor allem auf die nächsten Jahre und eine stabile Rente?

Durch den Geburtenrückgang seit den 1960er Jahren steht einer immer kleineren Zahl an Erwerbstätigen eine wachsende Zahl an Rentenempfänger*innen und auch an potenziell Pflegebedürftigen gegenüber. Konzepte, die die Sicherheit der Rente für alle garantieren sollten, ohne die Beitragszahlenden zu überfordern, laufen meist auf niedrigere Renten und ein späteres Renteneintrittsalter hinaus – was von denjenigen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, als ungerechte Rentenkürzung empfunden wird, während die Jüngeren Sorge haben, ob sie überhaupt jemals eine Rente bekommen.

„Dich schickt der Himmel“ – Wechselseitige Angewiesenheit und Unterstützung

Die Covid-19-Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung haben alle gesellschaftlichen Gruppen, zum Teil extrem, betroffen. Doch die Herausforderungen und Schwierigkeiten, die sich aus den Kontaktbeschränkungen ergaben, trafen vor allem die, die auf Fürsorge, Zusammenhalt und ein gutes Miteinander besonders angewiesen sind. Kinder, die nicht zur Schule gehen konnten, vermissten die Gemeinschaft untereinander und das Feedback ihrer Lehrerinnen und Lehrer. Eltern zerrissen sich zwischen Homeoffice und Homeschooling, wobei Frauen vielfach in die klassischen Rollen zurückgedrängt wurden. Und die Älteren, die als besonders vulnerabel gelten und ihre Kontakte entsprechend stark einschränken sollten, vermissten die alltäglichen Begegnungen, die Besuche innerhalb der Familien und im Freundeskreis. So wurde Einsamkeit zu einem zentralen Thema der Pandemie. Chronisch Kranke, Ältere, Menschen mit Behinderung und auch viele Singles blieben allein in ihren Wohnungen, konnten keinen Besuch empfangen und sahen ihre Freund*innen, Kinder und Enkel nicht. Was aber kaum öffentlich diskutiert wurde: Vor allem die jungen Alten fehlten! Bei der Betreuung der Enkelkinder in Zeiten des Homeschoolings, als Ehrenamtliche bei den Tafeln für immer mehr Bedürftige, in der Hausaufgabenhilfe, als Sprachhelfer*innen für junge Migrant*innen, als Hospizbegleiter*innen und als Leihomas und -opas.[2] In welchem Maße die Zivilgesellschaft vom Engagement der Älteren lebt, war vielen nicht bewusst. So hat die Pandemie uns vielleicht durch die vielen Schwierigkeiten spüren lassen, wie wichtig das Beziehungsgeflecht zwischen den Generationen ist – Generationenbeziehungen stellen eine wichtige Ressource für Autonomie und Lebensqualität dar und sind eine bedeutsame Stütze zur Überwindung von Lebensrisiken. Das gilt in der Familie ebenso wie im Gemeinwesen. Ältere erhalten, wenn sie hilfsbedürftig werden, vielfältige praktische Hilfen zur Bewältigung des Alltags, bei Einkauf, Behördengängen, Arztbesuchen und bei Haushaltsdingen – von ihren Angehörigen, aber auch von Nachbar*innen und Freund*innen, von Nichten und Neffen. Auch dies hat die Pandemie mit Projekten wie „Dich schickt der Himmel“ in Hessen,[3] aber auch mit Aktionen wie den Impfpatenschaften eindrucksvoll belegt.

Umgekehrt ist für die Mehrheit der Älteren die Großelternschaft eine Sinn gebende Altersrolle, sie verbinden damit ein hohes Maß an, Erfüllung und Zufriedenheit – und dass diese Kontakte während der Einschränkungen aufgrund von Covid-19 nicht möglich waren, haben viele als äußerst schmerzlich empfunden. Dabei beschränkt sich die Großelternrolle nicht auf die eigene Familie; vielmehr geht es grundsätzlich um das Interesse an den kommenden Generationen. Eine Untersuchung des Gerontologischen Instituts in Heidelberg zeigt, dass Menschen bis ins hohe Alter sich gern für Jüngere engagieren – vom Vorlesen bis zur Fürbitte.[4]

Die Unterstützung zwischen den Generationen lässt sich auch auf der Ebene von Geld und Sachleistungen beobachten: Im Unterschied zu den öffentlichen Transferströmen verlaufen die privaten, innerfamiliären Zuwendungen von Alt nach Jung. Rund 36 Prozent der 70- bis 85-Jährigen bedachten laut dem jüngsten Deutschen Alterssurvey ihre Kinder und Enkel mit Geld- und Sachleistungen, jährlich 3,5 Milliarden Arbeitsstunden investierten die 60- bis 85-Jährigen darüber hinaus für die Hilfe in der Familie und die Betreuung der Enkel. Das gilt auch für Patchworkfamilien.[5]

Die Zukunft gemeinsam und umfassend denken

„Das Klima ist die neue Gerechtigkeitsfrage“, sagt Julia Neubauer. Und tatsächlich scheinen sich auch die Generationen daran noch einmal neu zu sortieren. Ist es also wirklich so, dass sich die Interessen der Über- und Unter-60-jährigen scheiden? Die einen für Rente und Pflege, die anderen fürs Klima?

Sicher, es gibt die Klimawandelleugner*innen, die selbst nach den Waldbränden in Kalifornien, Sibirien und Südeuropa, angesichts der sinkenden Grundwasser- und der steigenden Meeresspiegel, nach der Flut im Rheinland zwar über Deiche und Dämme, über Gewässerschutz und Alarmsysteme, aber immer noch nicht über Klimawandel sprechen wollen. Aber diese Haltung gibt es in allen Altersgruppen – genauso wie das Engagement für die Bewahrung der Schöpfung und die Gerechtigkeit zwischen den Generationen, die nun kürzlich auch das Bundesverfassungsgericht eingefordert hat.[6] So oder so geht es um Nachhaltigkeit: ökologisch wie finanziell – und um die Freiheit auch der Kinder und Enkel, die Welt gestalten zu können. Sichtbar wird das Engagement der Älteren für eine lebenswerte Zukunft in einer gesunden Welt auch an den vielen Wissenschaftler*innen, den Eltern und Großeltern, die die Jungen bei Fridays for Future unterstützen. Gegen den Wachstumswahn. Sie wissen längst: Das Bruttoinlandsprodukt ist nicht nur blind für die externalisierten Kosten und die Zerstörung der Gemeingüter, sondern auch blind für die Probleme der sozialen Spreizung.

Auf diesem Hintergrund wird über neue Kriterien für Wohlstand und Wohlfahrt diskutiert, wie sie im „Glücksindex“[7] erhoben werden. Der misst Lebensqualität nicht zuerst im Nutzen von Waren und Dienstleistungen, also in Geld, sondern ganz wesentlich in Zeitwohlstand. Die Zeit für Sorgearbeit und Engagement geht nämlich mit ihrer Produktivität bisher nicht ins BIP ein. Dabei hängen Wohlstand und Wohlergehen eben auch von stabilen Familien, einer gesunden Umwelt und sinnvoller Arbeit ab. Dorfläden und regionale Vertriebsnetze, Reparaturfirmen für Computer und Umsonstläden für jedermann sind Schritte auf diesem Weg: Weg von der Produktion immer neuer Güter hin zum Sharing und Mehrfachnutzen. Und es sind nicht zuletzt Seniorinnen und Senioren, die sich in dieser Richtung engagieren.

Es geht um Relationalität, um das Miteinander zwischen den Generationen, zwischen unseren menschlichen Gemeinschaften und der Schöpfung, mit der wir interagieren. Gleichwohl braucht Gerechtigkeit immer auch einen Ordnungsrahmen, wie er sich in unseren Steuer- und Sozialversicherungssystemen ausdrückt. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Klimagerechtigkeit müssen nun auch politische Lösungen angestoßen werden, um den ökologischen wie den sozialen Umbau unserer Gesellschaft voranzutreiben und den gesellschaftlichen Zusammenhang – auch unter den Generationen – zu schützen. Einen Impuls wollen hier der deutsche Familienverband und der Familienbund der Katholiken setzen. Sie haben beim Bundesverfassungsgericht Klage eingereicht gegen die doppelte Belastung von Familien bei der Sozialversicherung: Solange Versicherte mit Kindern die gleichen Beiträge zu Renten-, Kranken- und Sozialversicherung zahlen müssen wie solche ohne Kinder, werde ihre Leistung für die Erziehung der Kinder – und damit auch für die zukünftige Sicherung des Rentensystems – nicht anerkannt, zudem werde ihnen und damit auch den Kindern Geld entzogen. Die Vorschläge für ein Familienwahlrecht gehen in eine ähnliche Richtung. Es gibt aber auch andere Konzepte wie das einer flexiblen, refinanzierten „Care-Zeit“ im Berufsleben, die während Erziehungs- und Pflegezeiten genommen werden kann.[8] Notwendig wird in jedem Fall eine frühere Beteiligung Jugendlicher an der Wahl sein.

Auch mit Verbesserungen im Bildungssystem gilt es die Lebenssituation der nachwachsenden Generation wahrzunehmen und ihre Chancen zu fördern. Wie wenig Kinder und Jugendliche trotz aller gegenteiligen Behauptungen im Blickfeld der Politiker*innen stehen, wurde im Zuge der Pandemie wieder auf erschreckende Weise sichtbar. Die Schließung der Schulen wurde als eine Art unabwendbares Schicksal hingenommen, statt dass mit allen Mitteln – etwa durch den zügigen Einbau von Luftfiltern und besseren Fenstern, durch die Bildung kleinerer Lerngruppen und die Nutzung alternativer, größerer Räumlichkeiten– sichergestellt worden wäre, dass die Kinder baldmöglichst wieder gemeinsam lernen können. Aber es geht um mehr: Offenbar haben wir als Gesellschaft noch nicht begriffen, dass Schule mehr ist als der berühmte Nürnberger Trichter, eine Anstalt zur Weitergabe  standardisierten Wissens und zur Ausgabe von Zertifikaten. Es  geht um die Vorbereitung auf vielfältigste und von heute aus noch gar nicht absehbare Herausforderungen. Die offenen Fragen unserer Zeit, von der Digitalisierung über Landwirtschaft, industrielle Produktion und Handel bis zur Verwaltung, all dies im Angesicht von demografischen Veränderungen und Klimakrise, zeigen: Die Arbeitsplätze der Zukunft werden in einer neuen und ganz anderen Welt entstehen. Wer sich darauf vorbereiten will, braucht Eigenständigkeit und Kreativität.

Sie müssen gelernt werden in einem Bildungssystem, das  auf dem Miteinander der Generationen beruht. Dabei geht es heute nicht nur um die Weitergabe von Traditionen, sondern mehr in früheren Zeiten um die Erschließung der Zukunft. Es geht darum, die Kinder und Jugendlichen mit ihren Erfahrungen, ihren Fragen und ihren Ideen ernst zu nehmen – sie als Subjekt ihres Lernens zu unterstützen. „Hben wir den Mut einer frischen, jüngeren Generation zuzuhören, Verantwortung zu übertragen, sie zu stärken und zu unterstützen, Neues zu wagen, uns wieder zum Mitmachen zu motivieren, zu überzeugen und gemeinsam mit ihnen zu lernen?“


[1] Vgl. die offiziellen Schätzungen der Bundeswahlleitung: https://www.bundeswahlleiter.de/info/presse/mitteilungen/bundestagswahl-2021/01_21_wahlberechtigte-geschaetzt.html. ((Das sind die aktuell verfügbaren Zahlen.).))

[2] Die Onlinegesprächsreihe „Oma trotzt Corona“, die ich mit meiner Agentur Seele und Sorge veranstaltete, bot ein Forum, um die Vielstimmigkeit der Reaktionen auf die Pandemie auszuloten und auch kreative Ansätze zu diskutieren (vgl. https://www.seele-und-sorge.de/?page_id=5293; die Protokolle zu den einzelnen Treffen fassen die Vielfalt der Anliegen und der Lösungsansätze zusammen; sie sind rechts im Menü verlinkt).

[3] „Dich schickt der Himmel“ entstand in Witzenhausen bei Kassel – ein Projekt mit Einkaufshilfen, für das sich die evangelische Gemeinde mit der Stadt, den Pfadfindern und dem Kreisjugendring zusammengeschloss. Innerhalb von drei Tagen kamen über 150 Ehrenamtliche und 230 Hilfesuchende zusammen. Vgl. http://blog.fachstelle-zweite-lebenshaelfte.de/2020/03/25/dich-schickt-der-himmel-so-organisiert-witzenhausen-einkaufshilfen/.

[4] Vgl. Der Ältesten Rat. Generali Hochaltrigenstudie: Teilhabe im hohen Alter. Eine Erhebung des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg mit Unterstützung des Generali Zukunftsfonds, 2014 (oneline unter https://www.gero.uni-heidelberg.de/md/gero/forschung/generali_hochaltrigenstudie.pdf).

[5] Vgl. Der deutsche Alterssurvey. Eine Langzeitstudie über die zweite Lebenshälfte in Deutschland, 2010 (online unter https://www.dza.de/fileadmin/dza/Dokumente/Publikationen/AS_2008_DEAS.pdf). Die Daten wurden 1998 bis 2008 erhoben. Die Daten der nächsten Langzeiterhebung werden aktuell bearbeitet.

[6] Vgl. das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Mai 2021 gegen das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung vom Dezember 2019, dem das Gericht attestiert, durch das Verschieben der Emissionseinschränkung auf nach 2030 die daraus resultierenden Lasten unverhältnismäßig auf die jüngeren Generationen abzuwälzen: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-031.html.

[7] Vgl. den World Happiness Index für 2020 hier: https://happiness-report.s3.amazonaws.com/2020/WHR20.pdf.

[8] Vgl. das Projekt Care.Macht.Mehr unter https://care-macht-mehr.com/.