Sorgen teilen – Gemeinschaft pflegen

„Nun versuche ich schon fast zwei Jahre, mit dem Alleinsein zu leben, jetzt in der Corona-Zeit empfinde ich es als besondere Last, viel niederdrückender als vorher, und hätte mich über Interesse aus der Gemeinde gefreut“, schrieb eine ältere Freundin, deren ‚Kinderfamilien‘ verstreut in Deutschland leben. „Mit ‚Facetime‘ halten die Kinder und ich den sicht- und hörbaren Kontakt, aber es bleibt Ersatz. Um Gemeinschaft zu erfahren, muss ich selbst aktiv sein: Einladen auf eine Tasse Kaffee auf dem Balkon. Telefonieren, mailen, Nachbarschaft pflegen.“ Seit sie Witwe ist, ist sie aktiv bei „Omas gegen rechts“, schickt regelmäßig Mails, nimmt an Webkonferenzen teil. Das hilft gegen Einsamkeit, aber es kann anstrengend sein, immer selbst die Fäden zu spinnen.

Gesellschaftliche Entwicklungen

Das geht nicht nur Älteren so; auch Menschen, die häufig umziehen oder pendeln, kennen das Gefühl, plötzlich abgehängt zu sein. So wie Stephanie Quitterer, die sich in ihrer Elternzeit „auf Eis gesetzt“ fühlte und dann mit sich selbst eine Wette einging: „200 Hausbesuche mit 200 selbstgebackenen Kuchen in 200 Tagen“. Sie gewann die Wette und fand neue Freunde. Ihr Buch „Hausbesuche“ erzählt von ihren Besuchen in der Nachbarschaft und davon, wie Vertrauen wächst, wenn man hinter die Fassaden blicken darf.

In Deutschland leben 38 % der 70- bis 85-Jährigen allein. Nur noch ein Viertel lebt mit den eigenen Kindern am gleichen Ort. Nach einer Sinus-Studie gehörten 2002 schon 24 % der 50- bis 59-Jährigen zu den Zurückgezogenen und 20 % der befragten 70- bis 89-Jährigen gaben an, in der Woche zuvor ihre Wohnung kaum verlassen zu haben. Aber auch 16,8 Millionen Bürger*innen zwischen 18 und 65 Jahren waren 2018 Singles – 30 % der Frauen und Männer im mittleren Alter.

In der „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) fragen sich viele, für wen ihr Leben eigentlich wichtig ist und wer sie braucht. Immer mehr Bürger*innen fürchten, dass keiner für sie sorgt, wenn sie selbst nicht für sich sorgen können. Familien mit kleinen Kindern, alte oder kranke Menschen – deren Anteil an der Gesamtbevölkerung mit dem demographischen Wandel wächst – geraten bei der Bewältigung des Alltags oft unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen zurückgreifen können. Und das Gefühl, abgehängt zu sein, hat sich während der Corona-Krise verschärft. Wie sehr sich Familien und Nachbarschaften wandeln, wie der demographische Wandel unsere Gesellschaft und die Digitalisierung den Alltag verändern, wird vielen erst jetzt deutlich. Das ist der Hintergrund, vor dem die „Sorgenden Gemeinschaften“ Konjunktur haben.

Sorgende Gemeinschaften früher und heute

Die gesellschaftliche Umwandlung, die wir erleben, gleicht der des 19. Jahrhunderts, als angesichts von Industrialisierung und Migration Familien überlastet waren und Bindungen zerrissen. Damals, im Jahr 1840, gründeten Hannoversche Bürgerinnen den „Frauenverein für Armen- und Krankenpflege“. Inspiriert von Amalie Sieveking in Hamburg, wollten sie der wachsenden Verelendung breiter Bevölkerungsschichten begegnen. Die Frauen machten Besuche, kümmerten sich um Lebensmittel und Brennmaterial, achteten auf den Schulbesuch der Kinder und sorgten dafür, dass die Mütter Beschäftigung fanden – in Nähstuben, Wäschereien, als Dienstboten. „Hilfe zur Selbsthilfe“ war das tragende Prinzip.

Heute kehren die Modelle in vielfältiger Form zurück – von den Tafeln bis zu den Nähstuben, den Werkstätten und Tauschbörsen. Welcome-Gruppen, Hospizvereine und Mehrgenerationenhäuser sind entstanden. „Caring Communities“ sind zum internationalen Leitbegriff geworden, wenn es darum geht, Verantwortungsstrukturen vor Ort neu zu beleben. Für Menschen mit Behinderung, Kinder aus Armutsfamilien und demenzkranke Ältere, für Sterbende und Geflüchtete. Es geht um wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und für die gesellschaftliche Entwicklung.

Auch Politik und Sozialwissenschaften nehmen den Sozialraum in den Fokus: Alternsgerechte Städte, Inklusionsquartiere oder das Programm „Soziale Stadt“ – sie alle „leben von einem Ineinandergreifen unterschiedlicher Hilfen“ (7. Altenbericht). Neben den professionellen Dienstleistern werden Bürger*innen gebraucht, die informelle Hilfenetze knüpfen. Und tatsächlich engagierten sich laut Bundesfreiwilligensurvey immerhin 25 Prozent in der Nachbarschaft bei Einkäufen, Handwerksdiensten oder Kinderbetreuung. Die wechselseitige Unterstützung verbessert die Lebensqualität aller Beteiligten. Auch wer sich engagiert, gewinnt: neue Beziehungen, Lebensvertiefung und soziale Kompetenzen.

Mitverantwortung

Hannah Arendts Begriff der „Mitverantwortung“ in ihrem Buch „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ stellt den Zusammenhang zwischen Selbstsorge und Fürsorge her, aus dem die Sorgenden Gemeinschaften leben. Unsere eigene Lebensgestaltung ist eingebettet in Sorge-Beziehungen – das beginnt in den Familien und wird in Alter und Pflegebedürftigkeit noch einmal deutlich erkennbar. Mitverantwortlichkeit nimmt die Angewiesenheit des Menschen ernst und sucht das Glück des Lebens nicht nur in sich selbst – sie bleibt auf andere und den öffentlichen Raum ausgerichtet und ist insofern immer auch politisch. Denn am Ende läuft alles auf die Frage hinaus, ob wir Orte schaffen können, an denen Menschen füreinander da sind, Zeit füreinander haben, füreinander sorgen. So wie früher die Gemeindeschwestern, die Seelsorgerinnen, Pflegende und Quartiersmanagerinnen waren – oft in einer Person. Aber immer im Verbund mit Ehrenamtlichen.

Die Apostelgeschichte erzählt, dass schon die ersten christlichen Gemeinden ‚Caring communities‘ waren. Güter wurden geteilt, Kranke besucht, für alle gemeinsam wurde der Tisch gedeckt. Die christliche Gemeinde begann mit Wahlfamilien. Die Christ*innen, die sich mit ihrer Taufe aus den Herkunftsfamilien gelöst hatten, kamen aus ganz unterschiedlichen Kulturen und Milieus. Füreinander wurden sie zu Brüdern und Schwestern – so wie bis heute Menschen Wahlfamilien bilden in Wohngemeinschaften, Mehrgenerationenhäusern oder auch an Mittagstischen. Wo sich heute Sozialstationen mit Alltags- und Demenzhelfern verknüpfen, wo Diakonie Quartiersbüros eröffnet, wo in Gemeinden Nachbarschaftsnetze entstehen, lebt diese Tradition auf.

Wer einsam und hilfebedürftig ist, kann vielerlei Unterstützung bekommen: von Dienstleister*innen wie Post, Pflege, Physiotherapie, von Ärzt*innen und Einkaufsdiensten. Am liebsten sind uns die Besuche, die uns nicht kontrollieren, sondern stark machen und herauslocken. Ganz praktisch wie bei „Tavolata“ in der Schweiz, wo kleine Gruppen sich wechselseitig zum Dinner besuchen. Mit inneren Bildern wie bei „Reisen aus dem Koffer“. Oder elektronisch wie bei der Internetplattform „Nebenan.de“, die während der Corona-Krise auf 1,4 Millionen Nutzer wuchs. „Einer trage des anderen Last“ war das Motto ‚meiner‘ Frauenhilfe in den 1980-er Jahren. Für mich hörte sich das schwer an und ernst. Die ‚Frauenhilfsschwestern‘ aber sahen das Sorgenetz: Wenn es schellte, und eine andere zu Besuch kam, kam eine, die das Leben leichter machte.